Wo sind die guten Nachrichten?
Auf dem jährlichen Gipfeltreffen der europäischen Informations- und Kommunikationstechnologiebranche in Den Haag wurden düstere Aussichten für von der EU geplante Wissensgesellschaft vorgestellt
Auf dem jährlichen Gipfeltreffen der europäischen Informations- und Kommunikationstechnologiebranche, der IST 2004, die vom 15. bis 17. November in Den Haag stattfand, wurden den Europäern bittere Wahrheitspillen verabreicht. Der Rückstand zu den Vereinigten Staaten von Amerika ist nicht geringer geworden und Fernost droht am Vereinten Europa mit rasender Geschwindigkeit vorbeizuziehen.
Zuerst kam die schlechte Nachricht. Doch dann ließ die Gute auf sich warten. Und das machte schon nachdenklich. Schlecht sei, so Generaldirektor Fabio Colosanti, der in der Europäischen Kommission für die Informationsgesellschaft zuständig ist, dass man bei der so genannten "Lissaboner Strategie" nicht vorankomme.
In Lissabon hatten im Juni 2000 die damals noch 15 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union beschlossen, Europa bis zum Jahr 2010 zur dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu machen (Mit einem e wie elektronisch wird alles gut). In einem Jahrzehnt wollte man an den Amerikanern vorbeiziehen. Dabei sollte die Informations- und Kommunikationstechnologie eine entscheidende Rolle spielen. Die "Wissensgesellschaft", so damals die Herren Blair, Schröder, Chirac & Co., das sei das Ding der Europäer. Hier könne man seine Stärken ausspielen und neue Dynamik für Wachstum und Beschäftigung generieren.
Kok-Report: Die Ziele der Lissabon Agenda rücken in weite Ferne
Wie immer das auch gemeint war und wer auch immer das berechnen kann, kurz vor Ende der ersten Halbzeit des auf zehn Jahre angesetzten Wettrennens hat der ehemalige niederländischen Premierminister Wim Kok den jetzt 25 EU Staaten ins Bewusstsein gerufen, dass es wohl nichts werden wird mit diesem ambitionierten Ziel.
Forschung und Entwicklung, so der Bericht seiner Kommission, seien in der Tat, wie in Lissabon festgestellt, die entscheidende Quelle von Wachstum und Wohlstand. Und es bleibe auch wahr, dass die vorankommen, die die besten Forscher und Wissenschaftler aus aller Welt anziehen und deren Bürger keine Probleme im Umgang mit IT-Diensten und Endgeräten haben. Doch wahr ist auch, dass trotz ambitionierter Initiativen wie "eEurope 2005" die Europäer nicht so vorankommen wie gewünscht. Die Europäer würden sich verzetteln, es gäbe ein viel zu geringes Maß an Koordinierung und jedes Land würde zunächst seine eigenen, manchmal dann konfligierenden Prioritäten setzen.
Koks Kritik wurde bei der IST 2004 in Den Haag mit Fakten unterlegt. Dabei wurde eine bittere Wahrheits-Pille nach der anderen verabreicht. Zwar sind die Europäer bei der Forschung im Automobil- und Maschinenbau mit den Amerikanern auf gleicher Höhe, aber der Abstand bei den dynamischen Informations- und Kommunikationstechnologien ist seit 2000 nicht geringer geworden. Ja schlimmer noch, der "Brain Drain", der die besten europäischen Köpfe in die USA zieht, ist eher angewachsen. Nur ein Drittel der in die USA ausgereisten Talente kommen wieder nach Europa zurück. Weder bei Patentanmeldungen noch bei der Zahl der IT-Forscher, weder bei den Nobelpreisgewinnern noch bei Referenzen in wissenschaftlichen Publikationen haben die Europäer aufgeholt, sie haben sogar weiter an Boden verloren. In Europa stellt der IT Sektor sechs Prozent der Bruttosozialprodukts dar, in den USA 7.3 Prozent. Die Investitionslücke im IT- Bereich von 1.6 Prozent zwischen der EU und den USA ist in den letzten zehn Jahren nicht enger geworden.
Die ernüchternden Fakten wollten daher den sonst so üblichen Optimismus bei der IST nicht aufkommen lassen. Symbolisiert wurde das noch dadurch, dass dem Sektor im Moment eine politische Führungspersönlichkeit fehlt. In der Frühzeit des IT Booms machte EU Kommissar Martin Bangemann große Sprüche. Nach 1999 pushte der umtriebige Finne Erkki Liikanen die Europäer in die "Wireless World".
Aber Liikanen ist nicht mehr im Amt und die neue Kommissarin, Vivien Reding, noch nicht nominiert. Immerhin könnte der Fakt, dass Frau Reding in der alten Kommission für die audio-visuelle Politik zuständig war, einen Fingerzeig dafür sein, dass die neue Strategie mehr transdisziplinär angelegt ist und stärker auf die Konvergenz zwischen IT- und AV-Medien setzt.. Der Industrie würde dies sympathisch sein, denn all die neuen Endgeräte, die auf den mehr und mehr mobil werdenden Markt geworfen werden, haben wohl nur dann eine Erfolgsaussicht, wenn sie massenwirksame Dienste anbieten können, die wiederum primär im AV-Sektor produziert werden.
Jagd auf Talente
Dabei sind der Industrie regionalspezifische Ambitionen ziemlich egal, wenn denn die Marktbedingungen stimmen. Dazu gehören nicht nur Kosten und flexible Rahmenrechtsordnungen sondern auch und vor allem Ausbildungssysteme, die jedermann fit machen für das Informationszeitalter und gleichzeitig jene hochqualifizierten Talente hervorbringen, ohne denen das Wettrennen im Cyberspace nicht gewinnbar ist.
Wo die Forscher dabei herkommen, ist den Konzernen wie Philips, Nokia, Ericsson, IBM, Siemens oder Alcatel ziemlich egal. Bei Philips, so Harry Hendriks, sind jetzt ein Drittel Europäer und ein Drittel Asiaten. Nokias Vize-Präsident and CIO Matti Alahunta machte darauf aufmerksam, dass eine Softwareentwicklungsstunde in China 6.00 Euro koste, in Deutschland aber 54.00 Euro. Was man heute überdies bräuchte bei den Forschern von morgen, sei nicht nur das reine Fachwissen; sondern vor allem auch die Fähigkeit, komplexe Vorgänge arbeitsteilig orchestrieren zu können. Und genau diese "Orchestration Capability", bei der der einzelne für das Ganze mitdenkt, sei bei vielen hoffnungsvollen europäischen Absolventen zu wenig ausgeprägt.
Man müsse daher viel radikaler die Lehrpläne entrümpeln, forderte Nicholas Donofria, Vize-Präsident von IBM, und zwar von der Grundschule bis zum Doktorandenseminar. Geld sei zwar knapp, aber Zeit sei noch knapper, meinte Niel Ransom von Alcatel. Es würde gar nicht lange dauern, dass wir bald ein drahtloses Breitbandnetz haben werden, so Ransom, bei dem man mit 20 Megabit pro Sekunde hochauflösende Bewegtbilder auf handtellergroße Mobilgeräte leiten kann. Da ist viel Forschung nötig um nicht nur innovative Geräte, sondern auch innovative Dienste zu entwickeln. Immerhin will die Kommission das Budget für den 7. Rahmenplan für Forschung und Entwicklung von 2007 - 2010 verdoppeln.
China auf der Überholspur
Das ist auch zwingend nötig, denn aus dem Osten droht den Europäern gleichfalls Ungemach. Gerade in den europäischen Schokoladendiszplinen wie Mobilfunk oder Breitband gibt es im asiatisch-pazifischen Raum eine rasante Entwicklung. Korea ist mittlerweile der Marktführer bei Breitband in der Welt, der chinesische Markt der wohl derzeit attraktivste für die Mobilfunker.
Dabei sollte man sich auch nicht der Illusion hingeben, dass man dort nur Konsumenten habe und die "intelligente Forschung" in den traditionellen Ländern stattfände. Auf dem Open Europe Forum machte Gareth Macnaughton von Hewlett Packard deutlich, dass das mal exotische indische Banglaore schon längst dutzendfach Wiederholung findet. Heute gäbe es weltweit etwa fünf Millionen Open Source Software Entwickler, davon mehr als die Hälfte in Nordamerika und Europa. 2010, wenn die Lissabon Strategie für Europa Wirklichkeit werden soll, werden von den dann zwölf Millionen Entwicklern knapp die Hälfte chinesisch sprechen.
Die Europäische Kommission hat daher gut daran getan, frühezeitig die Forschungskooperation mit Peking zu suchen. Aber dort sieht man sich schon lange nicht mehr nur als Juniorpartner. Wurden bei der IST 2003 in Mailand z.B. in der sich neu entwickelnden GRID-Technologie und beim IPv6 Internet Adressen Protokoll ein europäischer Vorsprung identifiziert, so haben die Chinesen im letzten Jahr die GRID-Forschung mit enormen Tempo vorangetrieben. Sie sind es heute, die in vielen Bereichen die Hand zur Kooperation ausstrecken und man muss froh sein, wenn man eine zu fassen bekommt. Bis zum Jahr 2008, wenn in Peking die Olympischen Spiele stattfinden, wollen die Chinesen an die Weltspitze. "Digital Olympics" heißt das Programm. Und es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass die Chinesen ihre 2008 Strategie nicht in die Tat umsetzen.
Die Europäer würden sich viel zu viel untereinander streiten und wären daher nicht in der Lage, koheränte Außenstrategien zu entwickeln, die sie auf der Weltbühne tatsächlich als Global Player erkennbar macht, meinte z.B. Harry Hendriks von Philips. Und in einer seiner Charts zitierte er sogar Charles Darwin: Nur derjenige gewinne im Überlebenskampf, der sich am besten auf verändernde Umweltbedingungen einstellen kann.
Dabei muss die europäische Erweiterung nicht unbedingt die Binnenblockaden vergrößern. Manche alte EU Länder könnten sich durchaus punktuell bei neuen Mitgliedern ein Beispiel nehmen. Was z.B. in Lettland und Estland im IT-Bereich in den letzten fünf Jahren entstanden ist, legt den Schluss nahe, dass diese kleinen Länder, weil sie frühzeitig richtige strategische Entscheidungen getroffen haben, relativ schnell den Stand der europäischen Spitzengruppe - die von ihren geographischen Nachbarn Dänemark, Schweden und Finnland angeführt wird - erreichen können.
Der ehemalige Ministerpräsident Estlands, Mart Laar, berichtete stolz, dass die estnische Regierung heute weitgehend "papierlos" arbeite. Alle Regierungsvorgänge seien offen und transparent im Internet nachvollziehbar. "Ein Grauen für die Bürokraten, aber ein Gewinn für die Bürger", sagte Laar in Den Haag. Lettlands Präsidentin Vaira Vike-Freiberga bezog sich auf amerikanische Forschungen aus denen hervorgeht, dass man bei einem Wirtschaftswachstum von einem Prozent den Lebensstandard binnen 70 Jahre verdoppeln kann. "Wenn wir drei Prozent schaffen", sagte die Präsidentin, "dann passiert das innerhalb einer Generation, bei sechs oder sieben Prozent wird es im Alltag spürbar." Bis 2010 will Lettland zu einem der Hauptexporteure von Software und Informationsdienstleistungen werden. Und auch hier gab es keinen Grund daran zu zweifeln, dass diese Pläne mal Wirklichkeit werden.