Zäsur im Ukraine-Krieg: Wie geht es weiter nach dem Fall der Festung Awdijiwka?
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Fatales Signal für die ukrainische Verteidigung; russische Armee intensiviert Angriffe an mehreren Fronten. Welche Reaktionen sind zu erwarten? Eine Einschätzung.
Sehr spät erst, im Juni vorigen Jahres, konnte die Ukraine ihre lang erwartete Gegenoffensive starten. Frühlingsoffensive wurde sie genannt, aber beginnen konnte sie erst im Sommer. Der Grund dafür lag darin, dass die Ukraine noch den Zufluss von Waffen abwarten wollte.
Panzerfahrzeuge, Artilleriegeschütze und Munition wurden damals von den westlichen, US-geführten Verbündeten der ehemaligen Sowjetrepublik geliefert. Zu wenig, wie sich wenig später herausstellen sollte.
Denn der Gegenangriff blieb stecken, nur wenige Quadratkilometer konnten besetzt werden. Die angreifenden Ukrainer scheiterten hauptsächlich an den ausgebauten Verteidigungsstellungen, die von russischen Ingenieuren in monatelanger Arbeit vorbereitet wurden.
Die stärkste Abwehrstellung der Ukraine
In Awdijiwka wurden nicht nur Monate, sondern fast ein ganzes Jahrzehnt lang Tunnel gegraben und Stellungssysteme errichtet und Vorräte angelegt. Sie war die stärkste Festung der ukrainischen Streitkräfte im ganzen Land: Nun ist sie gefallen.
Jetzt ist mit der Übernahme Awdijiwkas durch die russische Armee etwas geschehen, worin möglicherweise ein Wendepunkt des Ukraine-Kriegs zu sehen ist.
Denn mit der Eroberung der stärksten Festung, des bedeutendsten Verteidigungskomplexes innerhalb der ukrainischen Front, zeigt sich ein für die ukrainische Armee bitteres Bild: Sie ist derzeit trotz großer, verzweifelter Abwehrbemühungen nicht in der Lage, die russische Armee aufzuhalten.
Dabei hatten die Verteidiger in einem Jahrzehnt optimale Verteidigungs-Bedingungen geschaffen, um jedem Angriff der russischen Armee standzuhalten. Zu bedenken ist dabei: Den ukrainischen Ingenieuren wird es im weiteren Verlauf dieses Krieges wahrscheinlich nicht mehr gelingen, eine ähnlich starke Festung zu errichten.
Fatales Signal
Dass die stärkste Abwehrstellung der Ukraine gefallen ist, hat nicht nur auf strategischer und auf militärtechnischer Ebene Bedeutung.
Dies sendet auf psychologischer Ebene ein fatales Signal; das ist keine Botschaft an die noch kämpfenden ukrainischen Soldaten, die sie aufbaut: "Egal, wie stark unsere Abwehrbemühungen sind, der Feind kann diese überwinden."
Genau diese Botschaft, die ein Gefühl der Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit bewirken könnte, könnte zu einer Art Kaskaden-Effekt an der Front führen. Zu einer Absetzbewegung, zu einer Weigerung, den Kampf fortzusetzen.
Die Absetzung Saluschnyjs
Die Absetzung des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Fedorowytsch Saluschnyj, durch den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, hat der Kampfmoral der Truppen wahrscheinlich nicht gutgetan.
Denn Fachkreise merken offen an, dass die Entscheidung keine Sachentscheidung war. Saluschnyj, der bei den Soldaten eine große Popularität besitzt, gilt als der maßgebliche Architekt des bisher militärisch äußerst erfolgreichen Widerstandes gegen das übermächtige Russland.
Das kann eine abnehmende Loyalität der ukrainischen Soldaten gegenüber ihrer neuen Führung bedeuten, und das bedeutet sicherlich auch, dass es immer schwieriger wird, die so dringend benötigten neue Soldaten für die schrumpfende ukrainische Armee zu mobilisieren.
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Vorstöße der russischen Armee
Die Initiative ist nun vollständig auf die russischen Streitkräfte übergegangen. Die letzte Offensive der Armee der Ukraine war das Übersetzen von Kräften über den Dnjepr bei Cherson.
Dort kann ein kleiner Brückenkopf auf dem östlichen Dnjepr-Ufer gehalten werden, der aber aufgrund fehlender Anbindung an eine funktionierende Logistik keine Aussicht auf Entfaltung hat.
Die russische Führung hat unmittelbar und nur wenige Stunden nach der vollständigen Einnahme Awdijiwkas bereits mit einer neuen Offensive im Raum Saporischschja begonnen.
Robotyne
Hier arbeiten sich russische Kräfte an den Flanken der Fronteinbuchtung um Robotyne vor. Die russischen Spitzen konnten sich an die Landstraße vorarbeiten, die von Orichiw südlich Richtung Robotyne führt und über die der ukrainische Nachschub laufen muss.
Denn die Schlammzeit hat jetzt begonnen, vor Ort sind nur noch befestigte Straßen nutzbar. Wohl auch deshalb setzt die russische Führung vornehmlich Infanterie ein, zwei Divisionen sollen im Raum Robotyne im Einsatz sein, und zwar die 42. motorisierte Schützendivision der Garde und die 76. Luftlandedivision.
Das sind nach russischer Militärdoktrin, wonach eine motorisierte Schützendivison 8.500 und eine Luftlandedivison 5.500 Mann Sollstärke aufweist, insgesamt dann etwa 14.000 Soldaten. Diesen ist es nach noch unbestätigten Meldungen gelungen, sogar in das Dorf Robotyne einzudringen.
Auch im Raum Bachmut laufen Offensivoperationen, hier konnten sich russische Kräfte unmittelbar vor Ivanivske in Stellung bringen.
Fünf Orte
Die Frage ist jetzt, wo die russische Führung weitere Offensiven startet. Die New York Times sieht fünf mögliche Angriffsvektoren, Awdijiwka, Marinka, Robotyne, Kreminna und Bachmut.
Die Zeitung analysiert:
Die Ukraine führt einen verzweifelten Kampf, um den russischen Angriff abzuwehren. Russische Streitkräfte haben am Samstag vor der Morgendämmerung die langjährige ukrainische Hochburg Awdijiwka eingenommen, Moskaus erster großer Sieg auf dem Schlachtfeld seit der Einnahme von Bakhmut im vergangenen Mai.
Doch auf der gesamten 600 Meilen langen Front fehlt es der Ukraine ohne erneute amerikanische Militärhilfe an Munition, und sie hat Mühe, ihre eigenen, nach zwei Jahren brutaler Kämpfe dezimierten Kräfte wieder aufzufüllen.
New York Times
Ohne auf die einzelnen Vektoren einzugehen, die die New York Times benennt: Es ist schwer vorherzusagen, wo die russische Führung weiter vormarschieren möchte.
Doch es ist mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, dass sie weiter vormarschieren wird. Denn das militärische Potential verschiebt sich gegenwärtig jeden Tag mehr zugunsten der russischen Armee.