Zahlreiche Tote bei Demonstrationen in Nicaragua
Rentenreform bringt Land an den Rand des Bürgerkrieges
Dem nicaraguanischen Menschenrechtszentrum (CENIDH) und der Initiative der Menschenrechtler (INDDH) zufolge sind bei Demonstrationen in den Städten Managua, León, Masaya, Estelí und Bluefields mindestens 26 Menschen ums Leben gekommen. Die Zahl der Verletzten soll in die Hunderte gehen, 43 Menschen wurden von Angehörigen als vermisst gemeldet. Die Regierung bestätigte bislang zehn Todesopfer, darunter eine Polizistin und den Reporter Ángel Gahona, dessen Tod durch Kopfschuss auf Video festgehalten wurde, als er am Samstagabend in der nach dem holländischen Seeräuber Abraham Blauvelt benannten Hafenstadt Bluefields eine zerstörte Bankfiliale filmen wollte.
Anlass der Demonstrationen ist eine Sozialversicherungsreform, die eine fünfprozentige Rentenkürzung und eine Erhöhung der Beiträge um bis zu 22,5 Prozent beinhaltet. Sonst, so die Regierung, drohe der nicaraguanischen Rentenkasse INSS der Zusammenbruch. Anders als in Deutschland gingen am letzten Mittwoch nicaraguanische Rentner, die sich um die Früchte ihrer Einzahlungen geprellt sahen, gegen die Verschlechterung auf die Straße. Als sich ihnen nicht nur Bauern, sondern auch andere Gruppen anschlossen, wurden die Proteste gewalttätig - es kam zu Dutzenden Fällen von Plünderungen und Brandstiftungen. Neben kleineren Geschäften war davon auch ein Wal Mart betroffen.
Bis 1. Juli ausgesetzt
Als die Polizei den Ausschreitungen mit Tränengas und Gummigeschossen nicht mehr Herr wurde, griff am Samstag das Militär ein, das Medienberichten nach auch scharfe Munition eingesetzt haben soll. Außerdem versammelten sich nun auch Anhänger der Regierung, um gewaltsam gegen Regierungsgegner vorzugehen. Die sprach zuerst von ausländischer Einflussnahme und ließ Fernsehsender abschalten, die live berichteten.
Nachdem das keine Wirkung zeigte, verkündete Staatspräsident Daniel Ortega am Samstag seine Bereitschaft, noch einmal mit dem Unternehmerverband COSEP über die Reform zu sprechen. Der machte seine eigene Gesprächsbereitschaft davon abhängig, dass vorher die Medien wieder frei berichten dürfen.
Am Sonntagabend verkündete der Präsident in einer Fernsehansprache schließlich, der Vorstand der Sozialversicherung habe die eigentlich schon seit dem 16. April gültige Rentenreform vorerst bis zum 1. Juli ausgesetzt. Nun könne man reden und sehen, ob man einen "besseren Weg" findet, die Rentenversicherung zu reformieren.
Dynastieaufbau als "Symbol für Geschlechtergleichheit"
Der Lehrerssohn Ortega ist ein ehemaliger Kommandant der Sandinisten, die 1979 die damals seit 1934 herrschende Diktatorendynastie Somoza stürzten. 1990 wurde er abgewählt. Auch die Wahlen 1996 und 2001 verlor er. Erst 2006 gelang es ihm nach einer Wahlrechtsreform und einer Spaltung des konservativen Lagers, im ersten Wahlgang mit nur 38 Prozent der Stimmen erneut zum Staatschef gewählt zu werden. 2011 hätte er der Verfassung nach eigentlich nicht mehr antreten dürfen, machte es aber trotzdem und gewann mit 62,6 Prozent Stimmenanteil. Vor der Wahl 2016, die er mit 72,5 Prozent Stimmenanteil gewann, besetzte Ortega den Obersten Wahlrat mit seinen Anhängern und ging erfolgreich gerichtlich gegen Luis Roberto Callejas vor, den Chef der oppositionellen Partido Liberal Independiente (PLI).
Je länger er im Amt war, desto lauter werden die Vorwürfe an Ortega, nicht nur eine Günstlingswirtschaft, sondern eine Dynastie aufzubauen, indem er beispielsweise seine Ehefrau Rosario Murillo zur Vizepräsidentin machte. Ortega entgegnete auf solche Vorwürfe, die "gemeinsame Regierung" mit Murillo sei ein "Symbol für Geschlechtergleichheit" und es sei "unbestritten", dass das Amt an eine Frau gehen müsse - warum also nicht an eine, die "schon getestet wurde und sich als sehr effizient und diszipliniert erwiesen hat?" (vgl. Nicaragua: Präsident will Ehefrau als Vizepräsidentin). Außer Murillo sind inzwischen auch sieben von Ortegas Kindern in wichtigen Positionen untergekommen.
Wirtschafts- und sicherheitspolitische Erfolge
Andererseits kann der Präsident aber auch wirtschafts- und sicherheitspolitische Erfolge vorweisen. Anders als in Venezuela, wo sich Nicolás Maduro trotz einer verheerenden Versorgungslage und einer gigantischen Inflation mit Tricks und dem Militär an der Macht halten will, wächst die Wirtschaft in Nicaragua kräftig. Seit 2011 um etwa fünf Prozent jährlich. Und anders als in den zentralamerikanischen Nachbarländern Honduras, El Salvador und Guatemala gibt es in Nicaragua bislang noch keine Mara-Banden, die so mächtig sind, dass sich die Regierungen faktisch kaum mehr gegen sie vorzugehen traut und sie in den von ihnen beanspruchten Territorien weitgehend in Ruhe morden lässt. Entsprechend niedriger ist die Mordrate mit 12,26 auf 100.000 Einwohner. In Guatemala liegt sie bei 30,2, in Honduras bei 36,11 und in El Salvador sogar bei 43,4 (vgl. In der "gefährlichsten" Stadt der Welt).
Mit der Behauptung, dass sich solche Banden auch an den Unruhen beteiligen, könnte Ortega möglicherweise ebenso wenig ganz falsch liegen wie seine Kritiker mit der, dass sich der Präsident eine Dynastie aufbaut. Die Gelegenheit für das Organisierte Verbrechen, seine Macht auszudehnen, scheint in jedem Fall ausgesprochen günstig.