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Zeitbombe Syrien: Ein fataler Fehler von Nato-Ländern

Archivbild: Hayat Tahrir asch-Scham (Quelle: Propagandamaterial)

Wie der Angriff eines US-Spezialkommandos auf den IS-Anführer Abu Ibrahim al-Qureishi den al-Qaida-Abkömmling HTS stärkt und die Sanktionen eine repressive Herrschaft auf Kosten der Bevölkerung

Wie, die USA, die Türkei und eine al-Qaida-Nachfolge-Organisation im selben Arrangement? Die Aussage, die dieses Faktum aufstellt, stammt von jemandem, der nichts mit verschwörerischen Spekulationen am Hut hat.

Monatelang, so Wassim Nasr, französischer Experte für islamistische Gruppierungen und Milizen, seien die USA dem IS-Anführer Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi auf der Spur gewesen (siehe Video ab Minute 12:23 [1] - in Englisch). Als kürzlich wichtige IS-Milizenführer die Flucht aus einem Gefängnis in Nordsyrien [2] gelang, bestätigten Kontakte zwischen ihnen und "Abu Ibrahim" aller Wahrscheinlichkeit nach die Spur des US-Kommandos zur Tötung des IS-Chefs.

"Vom Schlachtfeld genommen"

Tage später wurde sein Tod gemeldet. Er wurde vom "Schlachtfeld genommen" [3], teilte US-Präsident Biden am vergangenen Donnerstag mit. Die USA verbuchten einen weiteren Erfolg für die Tötung eines Top-Terroristen. Laut eines US-Regierungsmitarbeiters hatte sich "Abu Ibrahim" selbst in die Luft gesprengt, als die US-Spezialkräfte sein Haus stürmten.

Da al-Quraischi sein Versteck in Idlib gesucht hatte, wo er seit längerem angeblich unerkannt, "sehr geheim", mit seiner Familie lebte, in nächster Nähe zur türkischen Grenze und im Herrschaftsgebiet der dschihadistischen Miliz HTS (Hayat Tharir asch-Scham), mussten die US-Militärs Absprachen zumindest mit der Türkei treffen, so der französische Journalist Wassim Nasr.

Ob nun die USA in irgendeiner Weise an diesen Abmachungen beteiligt waren, ist offen: Aber es gab Kontakte zwischen Vertretern der Türkei und Führern der HTS. Anders sei das Verhalten der HTS nicht zu erklären, die am Abend des Angriffs des US-Spezialkommandos auf Abu Ibrahims Unterschlupf dafür sorgten, dass die Straßen blockiert blieben und das Geschehen nicht von außen gestört wurde, so Nasr. Der "Islamische Staat" ist ein Konkurrent der HTS, die den syrischen Dschihad für sich reklamieren.

Wassim Nasr kann nicht als "Assad- oder Putin-Versteher", der sich deren Kritik an der Zusammenarbeit mit Islamisten zu seiner Sache gemacht hat, abgetan werden. Er ist keiner, der sich auf eine prinzipielle Kritik an der westlichen Politik in Syrien festlegt.

Das ist wichtig zu wissen, weil man in diesem Fall davon ausgehen kann, dass die Verbindungen zwischen Terroristen und zwei wichtigen Nato-Mitgliedern nicht von jemandem hergestellt werden, der solche Kritik auf seiner politischen Agenda hat.

Nasr ist auch kein Anhänger der SDF, der es darauf abgesehen hat, die Türkei über ihre Verbindungen zu Terroristen anzuschwärzen. Er hat über viele Jahre hinweg über seine Arbeit Drähte zu Islamisten und Dschihadisten aufgebaut, die ihn mit Hintergrundinformationen versorgen.

Was folgt aus diesem Arrangement, das die Erfolgsmeldung vom US-Schlag gegen das neue Haupt des IS ermöglichte?

Die Entdämonisierung einer Terroristen-Miliz

Was den al-Qaida-Abkömmling HTS und dessen Führer al-Golani betrifft, so gibt es wenig Zweifel daran, dass sie damit weitere Rückendeckung dafür bekommen haben, ihre Herrschaft in Idlib zu zementieren und sich damit weiter ihrem Ziel nähern, als Verhandlungspartner bei politischen Verhandlungen über die Zukunft Syriens unabdingbar zu sein. Al-Golani arbeitet schon lange an der "Entdämonisierung" der HTS, die bei der UN, in den USA, in Russland, in der Türkei als Terrorgruppe gelistet ist ( Syrien: Dschihadisten-Chef Golani auf dem Weg zum Staatsmann [4]).

Dass die HTS nun ihre Säuberungsaktionen gegen andere dschihadistische Milizen fortsetzt, offensichtlich mit noch größerer Vehemenz [5] als vor dem Angriff auf Abu Ibrahim und mit Fokus auf ausländische Kämpfer [6], spricht dafür, dass die Entdämonisierungs-Imagepflege (Mission: "Wir sind keine Dschihadisten, wir sind eine syrische Opposition") mit neuem Rückenwind weiterbetrieben wird. Spekulativ, aber ziemlich wahrscheinlich ist, dass der "Rückenwind" faktisch auch mit einer Abmachung mit der Türkei in Verbindung steht.

Quellen, die den Dschihadisten in Idlib nahe stehen und mit Al-Monitor sprachen, sagten, dass HTS einige Anführer von Sham al-Islam verhaftet habe, die sie beschuldigten, türkische Konvois angegriffen und die Interessen der Zivilisten in Idlib geschädigt zu haben, indem sie gegen die türkische Präsenz hetzten.

Al-Monitor [7]

Es gibt Spekulationen von Kennern des Geländes, die davon ausgehen, dass die Türkei in der Sache "Abu Ibrahim" mit der HTS eine Vereinbarung bestärkt hat, wonach man sich bei den jeweiligen regionalen Interessen in Syrien mindestens in Ruhe lässt, bzw. stärker zusammenarbeitet.

Und, wie es etwa der französische Syrien-Experte Francois Balanche vermutet, dass sich die Kurden der autonom verwalteten Gebiete Sorgen machen müssen [8], da die USA der Türkei als Gegengeschäft möglicherweise Konzessionen zugestanden haben.

"Gute Demokraten": Wie das in Syrien schiefgeht

Schon jetzt gibt es häufige Meldungen über militärische Angriffe der Türkei auf syrische Gebiete, in denen Kurden heimisch sind, die von ihnen demokratisch verwaltet werden.

Da die Weltöffentlichkeit gegenwärtig wieder die Ukraine als Hotspot für den Kampf der "guten Demokraten" gegen "böse Destabilisierer" auserkoren hat, kann Erdogan seine retro-imperialen Aggressionen auf Kurdengebiete in Syrien und Irak ungestört ausführen.

Unterstützt wird er von einer mörderischen Destabilisierungspolitik des Westens in Syrien. Wie Kamal Sido, Nahost-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker – ein ausgesprochener Kritiker des "syrischen Regimes" und der russischen Politik in Syrien und jemand, der das Gelände aus eigener Erfahrung, durch Familie und Kontakte kennt –, ausführt, haben die Unterstützung der islamistischen Opposition durch westliche Länder und die gegenwärtige Sanktionspolitik des Westens einen maßgeblichen Beitrag zur katastrophalen Situation im Land geliefert.

Die Lage in Syrien entwickelt sich mehr und mehr zu einem dramatischen Chaos. Bisher hat dieses Vorgehen nur Assads Regime und die syrischen Islamisten gestärkt. Und zwar auf Kosten der demokratischen Opposition und der gesamten Zivilbevölkerung. Es war ein fataler Fehler, syrische Islamisten über die Türkei mit Geld und Waffen zu versorgen. Eine friedliche, nicht von Islamisten angeführte Opposition hätte wohl bessere Chancen gehabt, eine Änderung oder konkrete Reformen in Syrien herbeizuführen.

Auch die drastischen westlichen Sanktionen gegen Syrien werden vermutlich zu keinem Regimewechsel führen. Die humanitäre Lage in Syrien ist heute bedrückend geworden: Die Menschen leiden unter Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger und es ist unmöglich, selbst die Grundbedürfnisse zu decken. Das Bildungsniveau wurde weitgehend zerstört, ebenso der Gesundheitssektor.(…)

Es führt auch dazu, dass die Bevölkerung nicht mehr gegen die Diktatur protestiert, sondern gegen die Sanktionen. Es kommt also zu keinem Regimewechsel, sondern zu mehr Solidarität der Bevölkerung mit den jeweiligen Diktatoren.

Kamal Sido, Die Tagespost

Die Lebensmittelpreise seien weltweit gestiegen, berichtete die UN-Organisation für Lebensmittel und Landwirtschaft vor ein paar Tagen. Die Preise wurden mit denen zuzeiten der sogenannten Arabellion im Jahr 2011 verglichen. Sie seien nun höher. Da sie verarmte Regionen besonders betreffen, sind Ökonomen aus internationalen Organisationen beunruhigt: "Es gibt viel Grund zur Sorge über soziale Unruhen auf breiter Ebene" [9].

Über die Verarmung der Bevölkerung in Syrien, die dortigen Lebensmittelpreise und Treibstoffknappheit und die fatale Rolle, die den Sanktionen dabei zukommt, wurde an dieser Stelle schon mehrfach berichtet.

Gegenwärtige Berichte von den Flüchtlingslagern in Syrien zeigen ein katastrophales Bild: Der Winter mit Kälte und Schnee richtete in Lagern in Idlib und in der Provinz Aleppo im Januar Zerstörungen [10], die größere Hilfseinsätze nötig machten. Haushalte und auch landwirtschaftliche Betriebe sind von Hilfen abhängig [11], um nicht hungern zu müssen.

Kinder in den Lagern leben nicht in Umständen und bekommen nicht den Unterricht, um ihnen eine gute Zukunft in Aussicht zu stellen. Das ist eine Zeitbombe.

Er habe eine Spende für notleidende Kinder in Nordsyrien überweisen wollen, berichtet Kamal Sido heute in einem Artikel der Printausgabe der Tagespost. Das habe aber nicht funktioniert, weil, wie man ihm erklärte, "eine Bank in Großbritannien meine Überweisung von 150 Euro nach Syrien nicht annehmen will. Die US-Sanktionen gegen Syrien und Geldwäschebestimmungen würden dies nicht erlauben".


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6439024

Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/CraigAWhiteside/status/1490899493596073985
[2] https://www.heise.de/tp/features/Gefaengnisausbruch-in-Nordsyrien-Kommt-der-IS-2-0-6339384.html
[3] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/is-anfuehrer-bei-einsatz-der-usa-in-syrien-getoetet-17776379.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Syrien-Dschihadisten-Chef-Golani-auf-dem-Weg-zum-Staatsmann-6321782.html
[5] https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/jihadi-group-steps-arrests-rivals-former-jihadi-allies-idlib
[6] https://www.syriahr.com/en/238649/
[7] https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/jihadi-group-steps-arrests-rivals-former-jihadi-allies-idlib
[8] https://twitter.com/FabriceBalanche/status/1489676038460350477
[9] https://www.nytimes.com/2022/02/03/business/economy/food-prices-inflation-world.html?smid=tw-share
[10] https://reliefweb.int/disaster/cw-2022-000067-syr
[11] https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syria-building-resilience-crisis-affected-vulnerable-farmers-and-herders