Zeitenwende? Zeitenwende!
- Zeitenwende? Zeitenwende!
- Eine Situation wie 1962 in Kuba
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Der Begriff aus der Scholz-Rede 2022 muss auf frühere Ereignisse bezogen werden. Doch die werden ebenso wenig beachtet wie die Zusicherungen an Moskau nach 1990. Eine völkerrechtliche Einordnung.
"Zeitenwende" – dieser Begriff hat in Deutschland eine geradezu magische Aura entfaltet. Geprägt von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag, hat er ihm zugleich einen eindeutigen Inhalt gegeben: Krieg und Aufrüstung. Damit war Russlands Präsident Wladimir Putin als Auslöser und Verantwortlicher dieser Wende fixiert und der 100 Milliarden-Euro-Rüstungsbeschluss als unvermeidliche Konsequenz aus historischer Verantwortung gerechtfertigt.
Die Tatsache, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Kriegsverbrechen und schwerwiegender Verstoß gegen die Völkerrechtsordnung ist, genügte, die Vorgeschichte für unbedeutend zu erklären und zu entsorgen.
Doch bleiben wir bei dem Begriff der Zeitenwende, müssen wir ihn früher ansetzen, denn nur die Vorgeschichte und nicht die Kreml-Psychologie erklärt, warum es zu dieser Katastrophe kommen musste.
Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, ein Jahr später mit dem "Zwei-plus-Vier-Vertrag" die Grenzen Deutschlands neu gezogen wurden und wiederum ein Jahr später die Sowjetunion und ihr Militärbündnis, der Warschauer Pakt, sich auflösten, konnte man wahrlich von einer Zeitenwende sprechen.
Aus dieser Perspektive erscheint der Krieg Russlands gegen die Ukraine nur als eine weitere Etappe in der durch die Zeitenwende Anfang der Neunzigerjahre gegenüber der vergangenen Epoche des Kalten Krieges neu definierten Auseinandersetzung zwischen West und Ost.
Wer seinerzeit vom Ende der Kriegsgefahr und einer "Friedensdividende", von Abrüstung und "gemeinsamer Sicherheit" träumte, konnte sich zwar auf den Wortlaut des "Zwei-plus-Vier-Vertrages", "die Sicherheit zu stärken, insbesondere durch Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung, und sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten", auf Gorbatschows "Politik der ausgestreckten Hand" und die Charta von Paris vom November 1990 stützen. Aber nur neun Jahre später wurde der wahre Charakter dieser neuen Epoche mit dem Überfall der Nato-Staaten auf Jugoslawien im März 1999 deutlich.
Der US-amerikanische Exzeptionalismus, vulgo "America first", wollte schon damals nichts mehr von der 1990 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und US-Außenminister James Baker gegebenen Zusicherung wissen, dass es keine Osterweiterung der Nato gegen den Willen Moskaus geben werde.
Dieser Krieg war der erste völkerrechtswidrige Krieg auf europäischem Boden und nicht der russische Krieg gegen die Ukraine. Das wird in der derzeitigen Kriegsbegeisterung gegen Russland systematisch unterschlagen.
Ein Krieg unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats, der erste Griff nach Osten, dem unmittelbar danach die Eingliederung von elf Staaten an der Ostgrenze Russlands folgten: 1999 Polen und die Tschechoslowakei, 2002 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, 2011 Albanien, Kroatien, 2017 Montenegro, 2020 Nordmazedonien.
Es fehlen noch Bosnien-Herzegowina, Georgien und Ukraine. Lange hatte sich Boris Jelzin gegen diese Entwicklung gewehrt. Im Mai 1997 gab er schließlich mit der Nato-Russland Grundsatzakte seinen Widerstand auf und stimmte dem Vordringen der Nato nach Osten zu.
Dies war ein Zugeständnis, welches die USA im umgekehrten Verhältnis nie gemacht hätten. Zu Recht, denn die Nato-Mitgliedschaft erschöpft sich nicht nur in der Einrichtung diplomatischer Büros, sondern bedeutet die enge Einbindung in die Nato-Planung und die Stationierung US-amerikanischer Raketen unmittelbar an der Grenze zu Russland.
Angesichts des Überfalls der Nato auf Jugoslawien, der jahrzehntelangen Intervention in Afghanistan seit 2002, des Überfalls auf den Irak 2003, die militärischen Interventionen in Libyen 2011 und Syrien 2014 – alles völkerrechtswidrige Überfälle – sollte die Skepsis der Russen vor den Versicherungen der ausschließlich friedlichen Ziele der Nato-Erweiterung verständlich sein.
Es muss nicht alles neu erzählt werden: die weitgehenden Angebote Putins zur Zusammenarbeit mit dem Westen im Deutschen Bundestag 2001, seine deutliche Warnung, wenn seine Angebote immer wieder zurückgewiesen würden, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die Erklärung Georgiens und Ukraine zum Tabu für die Osterweiterung und der an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Präsident Nicolas Sarkozy scheiternde Versuch Bakers, die beiden Länder im Jahr 2008 dennoch in die Nato zu integrieren.
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