Zensuswahl im Internet

Neues Wahlmodell für das ICANN-Direktorium ist umstritten

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Nur wer Land im Cyberspace besitzt und eine "Steuer" bezahlt, soll künftig wahlberechtigt sein für die oberste Instanz über Namen, Nummern und neue Protokolle. So lautet zumindest der Vorschlag einer von der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) eingesetzten Expertengruppe um den ehemaligen schwedischen Premierminister Carl Bildt und Ex-ICANN-Chefin Esther Dyson. In Montevideo wurde das neue Wahlmodell für das ICANN-Direktorium heftig diskutiert, im November fällt die Entscheidung über die Zukunft der Netzwahlen.

Pessimisten, die eine komplette Abschaffung der Netzwahlen nach der ersten Runde im vergangenen Jahr befürchtet haben, dürfen aufatmen. Die Beteiligung der Nutzer an den Entscheidungen über neue Domains, die Einführung nicht-englischer Zeichensätze in das Netz-Adresssystem oder datenschutzgerechte Whois-Einträge wird von allen Seiten allgemein anerkannt. Es wird also wieder Wahlen geben, und der gewählte Direktor soll auch noch die fünf bestplatzierten Kandidaten in einem regionalen Nutzerrat zur Seite gestellt bekommen. Sechs slcher Regionalräte für Afrika, Europa, Nordamerika, Südamerika, Ostasien und neu Süd-/Zentral- und Westasien soll es geben.

Neue Machtverteilung

Trotzdem sind die von dem Bildt-Komitee vorgeschlagenen Einschränkungen gegenüber dem ursprünglichen Mitbestimmungsmodell für normale User innerhalb der 1998 ins Leben gerufenen Organisation beträchtlich. Nur noch sechs Direktoren sollen von Nutzern weltweit gewählt werden. Das ist zwar einer mehr als jetzt, aber doch ein Drittel weniger als eigentlich vorgesehen. "Die Hälfte der Macht für die User" lautete das Motto. So hat es Dyson noch 1999 in offiziellen Stellungnahmen gegenüber den US-Behörden bekräftigt, und so steht es auch noch im Artikel 9 der ICANN-Satzung. Die andere Hälfte der Direktorensitze wird von den "Zünften" der Internetwirtschaft, Providern, Registrierstellen, Telekommunikationsunternehmen und Experten fürs Markenrecht besetzt.

The bylaws now make it clear that the Board has an unconditional mandate to create a membership structure that will elect the At Large Directors of the Board, as proposed by the BWG and some other commenters.

Dyson in einem Brief an die NTIA, 6.11.99

Für diese Gewaltenteilung aber habe es nie einen Konsens gegeben, argumentierte beim Treffen in Montevideo am vergangenen Wochenende Pindar Wong, Vizechef des Bildt-Komittees. "Wir glauben nicht, dass den Nutzern durch das Wahlrecht für neun Sitze automatisch am besten geholfen ist," sagte Wong. Schützenhilfe erhielt er in der Diskussion dabei von Eliot Noss von Tucows: "Man tut immer so, als würden Nutzerinteressen nur von At-large-Direktoren vertreten. Dabei haben vom bisherigen Prozess auch ohne die At-large-Direktoren in aller erster Linie die Nutzer profitiert." Sinkende Preise und mehr Wettbewerb im Domainmarkt, die sich in den vergangenen drei Jahren auch ohne Nutzerbeteiligung entwickelt hätten seien der Beweis. Unternehmen würden, so Noss, letztlich immer an den Nutzer denken.

Die Nutzer selbst seien ohnehin nicht so stark an ICANNs Diskussionen interessiert, sagte Wong, sondern nur daran, dass das DNS funktioniere. Das hätten die spärlichen Rückmeldungen auf die Vorschläge des Bildt-Komitees gezeigt.

Weg vom "wir gegen sie"-Gefühl

Wong, Dyson, Bildt und ihre Kollegen empfehlen in ihrem Vorschlag nun eine Dreiteilung der Verantwortung zwischen Nutzern, Providern und Entwicklern. Das gibt den Vertretern der Branche aber mehr als eine Zwei-Drittelmehrheit. Da ICANNs-Präsident als 19. Mitglied im Direktorium sitzt, könnten die Repräsentanten der Nutzer im Zweifelsfall noch nicht einmal bei Einstimmigkeit in ihren Reihen einen Beschluss durchsetzen. Ihre Sitze dagegen könnten so von den Industrievertretern komplett abgeschafft werden, da Änderungen der Satzung der Zweidrittel-Mehrheit bedürfen. Mindestens "Vetomechanismen für die Minderheit müsste es dann geben", urteilte der deutsche ICANN-Kenner Alexander Svensson (www.icannchannel.de). Besser noch wäre es, At-large mehr als ein Drittel der Sitze zu geben.

Auch die Zunftvertreter selbst sind nicht alle glücklich über das neue Modell. Vage nannten sie die Gewaltenteilung zwischen Usern, Providern und Entwicklern. Wer Provider und wer Entwickler ist, dürfte nicht ganz leicht auseinanderhalten zu sein, bemängelte etwa AT&T-Vertreterin Marilyn Cade. Standardisierungsgremien wie die IETF oder die ETSI sind noch vergleichsweise klar bei den Entwicklern einzuordnen. Aber wohin würde die bestehende Fachgruppe "Unternehmen", in der Cade für AT&T aktiv ist, dann gehören. Und was tun mit der Fachgruppe Markenrecht? Eine enge Definition könnte manche Fachgruppe beim Anspruch auf die Direktorenposten aus dem Rennen werfen.

Das Feintuning der Reform müsse man erst noch machen, bekannte dazu Wong. Auch die Länderregistrare möchten künftig im Direktorium vertreten sein, und haben gute Chancen, weil sie nicht unerheblich zum ICANN-Budget teilhaben und ICANN dringend lange verhandelte Verträge mit ihnen abschließen möchte. Auch dafür sollen bis November konkrete Entwürfe auf dem Tisch liegen. Die 6-6-6-Lösung ermögliche auf jeden Fall eher Konsenslösungen, wirbt Wong. "Es entsteht dann doch weniger ein Klima eines 'wir gegen sie'."

Vorschläge sind SHIT

Eine Riesenkluft zwischen den von ICANN ausgewählten Experten und den Menschen, die eigentlich im Netz zu Hause sind, konstatierte dagegen angesichts der Vorschläge des Bildt-Kommittees der für Europa gewählte At-large-Direktor Andy Müller-Maguhn. "Wenn ICANN ein Forum von Registraren, Registrierstellen, Markenrechtsvertretern und Intellectual-Property-Anwälten wird, ist es natürlich leicht Regelungen zu finden, die alle glücklich machen, aber es bedeutet den Ausverkauf des Internets an die Leute, die ein kommerzielles Interesse an ihm haben." Schon jetzt sieht Müller-Maguhn die Interessen nicht-kommerzieller Netznutzer immer weiter zurückgedrängt.

Besonders die Idee des Bildt-Kommittees nur noch Domainbesitzer als zahlende und wahlberechtigte Mitglieder zuzulassen geißelt er als "Kommerzialisierung eines demokratischen Prozesses". Müller-Maguhns drastisches Fazit: "Als aktuell gewählter ICANN-Direktor für Europas User, erlaube ich mir die Ergebnisse des At-large-Komittees als 'specifically hiding individuals troubles', kurz Shit, zu bezeichnen."

Im Direktorium hat Müller-Maguhn mit dieser drastischen Einschätzung keine Chance, eine Mehrheit zu finden. Geteilt werden viele Punkte seiner Kritik aber auch von den Mitgliedern der "NGO and Academic ICANN Study" (NAIS), vor allem die Privilegierung von Domainbesitzern. "Wir könnten dadurch eine Verschiebung der Wählerschaft in die Wirtschaft hinein bekommen," warnt NAIS-Mitglied Jeanette Hofmann vom Wissenschaftszentrum in Berlin. Genau diese Gruppe aber ist nach Ansicht der NAIS-Forscher ohnehin schon sehr gut in anderen ICANN-Gremien vertreten. Immerhin müsse man auch bedenken, dass Nutzer in manchen Ländern nicht ohne weiteres an erschwingliche Länder- oder auch generische Top Level Domains herankommen könnten, so Hofmann.

"VeriSign has estimated that over 80% of current gTLD registrants are commercially-oriented organizations - creating a membership pool that under-includes individuals and is heavily skewed towards commercial groups and organizations. Substantial practical questions remain in determining whether those who own more than one domain name get more than one vote. And capture is still possible through the registration of many names." Bericht des Naisprojekts

Haves and Have-Nots im DNS

Verschiedene afrikanische Vertreter warnten bei der Sitzung in Montevideo auch tatsächlich davor, dass in ihren Ländern die überwiegende Mehrzahl der User keine eigenen Domains, sondern nur Email-Adressen haben.

Ich komme von einer Universität, wir haben eine einzige Domain, aber 10.000 Adressen. Wir haben 10.000 Emailadressen, aber nur eine Domain. Können sie mir sagen, wer dann dazu auserwählt ist At-Large-Mitglied zu werden und wählen darf? Mein Kanzler, meine Studenten oder ich?

Clement Dzidonu, President and CEO International Institute for Information Technology (INIIT), Ghana

Auch vor der Frage, wie angesichts internationaler Einkommensgefälle gerechte Mitgliedsbeiträge gestaltet werden könnten, ist ungeklärt. Nutzer müssten dann Registriergebühr und Mitgliedsgebühr bezahlen, letzteres soll übrigens sehr zum Unwillen mancher Registrare direkt über sie abgewickelt werden. Damit würde die ICANN sich die aufwendige Registrierung per Mail, Pin und Post ersparen. Sicher der wichtigste praktische Grund für das vorgeschlagene Modell, auch wenn der Missbrauch von Stimmen in diesem System nicht ausgeschlossen werden kann und die Registrare von der Idee auch nicht alle begeistert sind. Die Registrierung aller Internetuser als ICANN-Mitglieder sei einfach nicht praktikabel, sagte Bildt. Man könne einfach keine perfekte Welt und auch keine perfekte Lösung präsentieren, sagte dazu Pindar Wong.

"Wir bleiben klar beim Fifty-Fifty-Modell für das ICANN-Direktorium", hielt daher auch Hofmann gegen. Auch am Wahlmodus und der Authentifizierung per Post will man festhalten. Nur aus einer breiten Beteiligung der Öffentlichkeit kann sich ICANN nach Ansicht der NAIS-Forscher aus 10 Ländern die für seine Aufgabe notwendige Legitimation sichern. Doch schon jetzt kann sich für die Nutzervertretung ihre Minderheitsposition rächen. Mit nur fünf gegen neun Stimmen können die At-large-Direktoren auch dann nichts ausrichten, wenn sie gemeinsam für das Fifty-fifty-Modell votieren.