Ziviler Gehorsam, nicht Ungehorsam ist unser Problem

Seite 2: Eine Welt aus den Fugen: Wenn direkte Aktionen notwendig werden

Trotzdem sind die Geschichts- und Schulbücher weiter voll von Herrschern und Kirchenfürsten, bürgerlichen Eliten, Intellektuellen und Unternehmern als den eigentlichen Architekten des historischen Prozesses.

Aber die Rechte und Schutzbestimmungen wurden den Menschen nicht von oben als Geschenke der Mächtigen zuteil, sondern sind Resultat von zivilem und manchmal gar nicht so zivilem Ungehorsam. Fortschritt ist von unten erkämpft worden. Nachzulesen unter anderem bei William A. Peltz in "A People’s History of Modern Europe" oder dem Klassiker des US-Historikers Howard Zinn "A People’s History of the United States".

Letzteres Buch ist über zwei Millionen Mal verkauft und in viele Sprachen übersetzt worden. Es hat mehrere Generationen darüber aufgeklärt, wie demokratische Einrichtungen und soziale Verbesserungen gegen die Herrschenden und Privilegierten tatsächlich in den USA erkämpft und wie Unrecht immer wieder überwunden werden konnten – durch den Einsatz von einfachen Menschen, die organisiert Widerstand leisteten.

Zinn verstarb 2010 und wäre heute hundert Jahre alt. Er wuchs auf in einfachsten Verhältnissen in Brooklyn, New York, und organisierte sich gewerkschaftlich in Schiffswerften. Er studierte dann und setzte sich sein Leben lang für die Bürgerrechte von Schwarzen, für Arbeiterrechte und Unterdrückte ein.

Als er im November 1970 eine Rede über zivilen Ungehorsam an der Johns Hopkins Universität in Baltimore halten wollte, wurde er von Detektiven in Boston aufgehalten und landete für mehrere Tage im Gefängnis. Er hatte an einem Protest gegen den Vietnamkrieg teilgenommen – wie er später gegen alle US-Kriege bis zur Irak-Invasion opponieren sollte.

An einer Stelle der nicht gehaltenen Rede heißt es:

Sobald man sagt, das Thema ist ziviler Ungehorsam, wird eigentlich gesagt, unser Problem ist ziviler Ungehorsam. Das ist aber nicht unser Problem .... Unser Problem ist der zivile Gehorsam. Unser Problem ist die große Menge an Menschen auf der ganzen Welt, die dem Diktat ihrer Regierung gehorcht haben und in den Krieg gezogen sind, und Millionen sind wegen dieses Gehorsams getötet worden. Unser Problem sind Szenen, wie man sie im Film "Im Westen nichts Neues" sehen kann, wo Schuljungen pflichtbewusst in Reih und Glied in den Krieg ziehen. Unser Problem ist, dass die Menschen überall auf der Welt gehorsam sind, angesichts von Armut, Hunger, Dummheit, Krieg und Grausamkeit. Unser Problem ist, dass die Menschen gehorsam sind, während die Gefängnisse voll von kleinen Dieben sind und die großen Diebe das Land regieren. Das ist unser Problem. Wir erkennen das Problem als solches auch an, wenn es zum Beispiel um Nazi-Deutschland geht. Wir wissen, dass das Problem dort Gehorsam war, dass das Volk Hitler gehorchte. Die Menschen haben gehorcht; das war falsch.

Zinns Haltung ruht auf einem klaren Fundament. Er geht von der Annahme aus, dass die Welt aus den Fugen geraten ist, dass alles falsch ist, dass die falschen Leute im Gefängnis sitzen und die falschen Leute an der Macht sind, dass der Reichtum im Land und in der Welt so verteilt ist, dass nicht nur kleine Reformen, sondern eine drastische Umverteilung des Reichtums erforderlich ist.

Genau das mache zivilen Ungehorsam notwendig, wie Zinn nicht müde geworden ist zu betonen. Wegen des grundlegenden Unrechts sei Gehorsam daher falsch. Aber wenn man die Medien verfolge und den Politikern zuhöre, scheine es, so der US-amerikanische Historiker und Aktivist, als ob die Dinge gar nicht so schlecht sind und nur ein paar Sachen nicht richtig laufen würden.

Heute ist die Lage noch mehr aus den Fugen geraten als 1970. Wir sind, wie UN-Generalsekretär António Guterres, gestützt auf die internationale Wissenschaftsgemeinschaft, warnt, auf einem "Highway to Hell". Wer beim Klima nicht führt, sei kriminell, fügt er hinzu. Amtlicher kann man den Zustand von politischem Unrecht nicht bekommen.

Lediglich wenige Jahre verbleiben noch für eine Kursänderung, um fatale Kipppunkte im Erdsystem nicht vollends zu überschreiben und irreversible Prozesse in Gang zu setzen, wie der Weltklimarat immer lauter mahnt. Wenn nicht gehandelt wird, bedeutet es faktisch "Game Over" für ein einigermaßen akzeptables Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde. Doch die Regierungen reagieren auf die Warnungen weiter nicht, einschließlich der deutschen.

Zinn würde angesichts der Menschheitskrise und des Unrechts von Regierungen, mit vollem Wissen über die Folgen auf Kurs zu bleiben, wohl sagen: Nicht die "Letzte Generation" ist unser Problem, sondern der Mangel an Ungehorsam gegen dieses planetare Verbrechen. Und der Glaube daran, dass die Lösung der Menschheitskrise im politischen, störungsfreien Normalbetrieb ablaufen werde – was in Sicht auf die letzten Jahrzehnte und die vielen Massendemonstrationen, Petitionen und politischen Offensiven eher ein frommer Wunschtraum ist.

Den Klimaaktivist:innen bläst sicherlich ein rauer Wind ins Gesicht, wie vielen Ungehorsamen zuvor in der Geschichte. Aber mutige Aktionen, bei denen friedlich Protestierende bereit sind, wegen ihrer Gewissensentscheidung sogar ins Gefängnis zu gehen, können Sogeffekte erzeugen. Zu beobachten sind jedenfalls einige Solidarisierungen, die nicht nur von anderen Gruppen innerhalb der Klimabewegung ausgehen.

So haben sich 1600 Wissenschaftler:innen an die Seite der "Letzten Generation" gestellt und einen Unterstützungsappell "Handeln statt Kriminalisieren" veröffentlicht. Sie fordern die Politik auf, endlich das Problem zu adressieren: "Die Aktivist:innen weisen auf schwerwiegende staatliche Versäumnisse […] hin […] und setzen ihre Aktivitäten nicht leichtfertig, sondern als letztes Mittel ein", heißt es in der Erklärung. Das Zeitfenster für die Bekämpfung des Klimawandels schließe sich immer schneller, warnen die Forscher.

Ja, es ist richtig, im Moment, auch angesichts der negativen bis diffamierenden Berichterstattung, stehen viele Menschen nicht hinter den Sitzblockaden der "Letzten Generation". Aber wann war ziviler Ungehorsam in der Vergangenheit schon mal wirklich populär? Er ist grundsätzlich auch nicht geeignet als Mehrheitsbeschaffer.

Dafür sind Politik und Zivilgesellschaft verantwortlich. Wenn aber die Mehrheitsbeschaffung für das dringend Notwendige politisch weiter verweigert bzw. von Lobbys blockiert wird, und danach sieht es aus, wird es in Zukunft mehr Ungehorsamsaktionen geben müssen – und meiner Vermutung nach wohl auch geben, um die politisch Verantwortlichen auf diese Weise unter Druck zu setzen.

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