Ziviler Gehorsam, nicht Ungehorsam ist unser Problem
Die "Letzte Generation" steht am Pranger, zu Unrecht. Regelbruch und Widerstand sind das Schwungrad des historischen Fortschritts. Warum Medien und Politik Ungehorsam nur in der Vergangenheitsform feiern.
Die friedlichen Sitzblockaden der Klimaprotestgruppe "Letzte Generation" werden immer wieder in Medien zum Teil stark kritisiert. Ihnen wird vorgeworfen, die Gesellschaft zu terrorisieren, illegal zu handeln, den Autoverkehr willkürlich zu stören und die Falschen zu treffen, Rettungskräfte zu behindern, die Bevölkerung zu spalten, während die Aktionen keinen Effekt auf die Politik hätten, sondern Bürger:innen von Klimaschutz entfremden würden.
Die Vorwürfe im Einzelnen zu prüfen – manche sind falsch, manche scheinheilig – würde an dieser Stelle zu weit führen. Einige Anmerkungen von mir dazu finden Sie hier.
Was in der Debatte, in der Fragen der Legitimität, Legalität und Effektivität oft wild und unrechtmäßig vermischt werden, dabei fast nie auftaucht, ist die zentrale Rolle, die ziviler Ungehorsam für geschichtlichen Fortschritt bis heute gespielt hat – und auch in der Klimakrise spielen muss.
Meine Kollegin Claudia Wangerin hat sehr eindrücklich dargelegt, dass die Aktivist:innen viel mit den Suffragettinnen, die für ein Frauenwahlrecht kämpften, zu tun haben, aber nichts mit RAF-Terroristen, mit denen manche Journalist:innen und Politiker:innen sie vergleichen.
Wie die Frauenvorkämpferinnen vor mehr als hundert Jahren werden die Klimaaktivist:innen heute als militant diffamiert. Auch damals war die Mehrheit der Bevölkerung keineswegs auf der Seite der Frauenrechtlerinnen oder begrüßte gar ihre zivilen Ungehorsamsaktionen, die anders als bei der "Letzten Generation" auch Gewalt gegen Sachen einschloss.
Manche wurden bei Protesten auf offener Straße attackiert und von Männern vergewaltigt, um sie zur Räson zu bringen. Einige Frauen, die sich den Protesten anschlossen, wurden von ihren Familien verstoßen, in Gefängnissen folterartig zwangsernährt oder als "hysterisch" in psychiatrische Kliniken geschickt.
Die Querulantinnen und Chaotinnen von damals sind heute die Heldinnen, auf deren Schultern wir stehen.
Wenn man in die Geschichte blickt, ist ziviler Ungehorsam Motor für Fortschritt gewesen. In der Antike setzte Sophokles mit der Figur der Antigone diesem Schwungrad bereits ein frühes Denkmal. Antigone widersetzte sich dem Befehl ihres Onkels, König Kreon, und beerdigte ihren Bruder Polyneikes. Sie berief sich dabei auf ein höheres, moralisches Recht gegenüber der weltlichen Rechtsprechung – im vollen Bewusstsein darüber, was ihr blühen würde.
Die moderne Geschichte lässt sich ohne Rechtsbruch und Widerstand schlicht nicht verstehen. Von den Bauernaufständen im ausgehenden Mittelalter über die renitenten Arbeiterbewegungen vor allem im 19. Jahrhundert, die mit illegalen Ausständen, Streiks, Firmenbesetzungen und Sabotageakten Widerstand leisteten, bis zu Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings Märschen, bei denen Anweisungen missachtet, Regeln gebrochen und gegen Gesetze verstoßen wurde, reicht der weite und oftmals auch blutige Bogen.
Meist riefen die Regelbrüche brutale Gegenreaktionen hervor, die die Situation noch verschlimmerten und Hoffnungslosigkeit verbreiten sollten. Aber das war niemals von Dauer.
Ein Beispiel: Das gewerkschaftliche Streikrecht, das Eisenbahner und öffentliche Angestellte gerade wieder legal in Anspruch nehmen können, wurde erkämpft mit illegalen Mitteln, zivilem Ungehorsam, blutigen Straßenschlachten und gravierenden Störungen der öffentlichen Ordnung.
Die Industriellenverbände in den USA und Europa versuchten mit Schlägertrupps und Verboten die Aufstände für bessere Arbeitsbedingungen, gesetzliche Garantien und mehr Lohn zu unterdrücken. Dazu gesellten sich verschiedene Arten der sogenannten "industrial relations", eine frühe Form der modernen Unternehmenspropaganda.
Die streikenden Arbeiter wurden dabei als unpatriotische Störer des sozialen Friedens in der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt. Derart schafften es die Fabrikbesitzer, die Bevölkerungsmeinung zu beeinflussen und die Arbeiterforderungen als aggressiv und schädlich für die Volkswirtschaft und die Gesellschaft insgesamt darzustellen.
Das führte zu Rückschritten und Gesetzesverschärfungen. Aber am Ende konnten die Arbeiter:innen Verbesserungen und Erfolge erringen, von denen wir heute profitieren.
Auch die Aktionen der Weißen Rose, Sabotageakte oder der Partisanenkrieg während der nationalsozialistischen Herrschaft in großen Teilen Europas gelten uns heute als Zeichen von demokratischem Widerstand gegen Unrecht. Sie sind Vorbild und Inspiration. Sie erinnern daran, dass Regeln zu Zeiten gebrochen werden müssen, um Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten die Stirn zu bieten.
Eine Welt aus den Fugen: Wenn direkte Aktionen notwendig werden
Trotzdem sind die Geschichts- und Schulbücher weiter voll von Herrschern und Kirchenfürsten, bürgerlichen Eliten, Intellektuellen und Unternehmern als den eigentlichen Architekten des historischen Prozesses.
Aber die Rechte und Schutzbestimmungen wurden den Menschen nicht von oben als Geschenke der Mächtigen zuteil, sondern sind Resultat von zivilem und manchmal gar nicht so zivilem Ungehorsam. Fortschritt ist von unten erkämpft worden. Nachzulesen unter anderem bei William A. Peltz in "A People’s History of Modern Europe" oder dem Klassiker des US-Historikers Howard Zinn "A People’s History of the United States".
Letzteres Buch ist über zwei Millionen Mal verkauft und in viele Sprachen übersetzt worden. Es hat mehrere Generationen darüber aufgeklärt, wie demokratische Einrichtungen und soziale Verbesserungen gegen die Herrschenden und Privilegierten tatsächlich in den USA erkämpft und wie Unrecht immer wieder überwunden werden konnten – durch den Einsatz von einfachen Menschen, die organisiert Widerstand leisteten.
Zinn verstarb 2010 und wäre heute hundert Jahre alt. Er wuchs auf in einfachsten Verhältnissen in Brooklyn, New York, und organisierte sich gewerkschaftlich in Schiffswerften. Er studierte dann und setzte sich sein Leben lang für die Bürgerrechte von Schwarzen, für Arbeiterrechte und Unterdrückte ein.
Als er im November 1970 eine Rede über zivilen Ungehorsam an der Johns Hopkins Universität in Baltimore halten wollte, wurde er von Detektiven in Boston aufgehalten und landete für mehrere Tage im Gefängnis. Er hatte an einem Protest gegen den Vietnamkrieg teilgenommen – wie er später gegen alle US-Kriege bis zur Irak-Invasion opponieren sollte.
An einer Stelle der nicht gehaltenen Rede heißt es:
Sobald man sagt, das Thema ist ziviler Ungehorsam, wird eigentlich gesagt, unser Problem ist ziviler Ungehorsam. Das ist aber nicht unser Problem .... Unser Problem ist der zivile Gehorsam. Unser Problem ist die große Menge an Menschen auf der ganzen Welt, die dem Diktat ihrer Regierung gehorcht haben und in den Krieg gezogen sind, und Millionen sind wegen dieses Gehorsams getötet worden. Unser Problem sind Szenen, wie man sie im Film "Im Westen nichts Neues" sehen kann, wo Schuljungen pflichtbewusst in Reih und Glied in den Krieg ziehen. Unser Problem ist, dass die Menschen überall auf der Welt gehorsam sind, angesichts von Armut, Hunger, Dummheit, Krieg und Grausamkeit. Unser Problem ist, dass die Menschen gehorsam sind, während die Gefängnisse voll von kleinen Dieben sind und die großen Diebe das Land regieren. Das ist unser Problem. Wir erkennen das Problem als solches auch an, wenn es zum Beispiel um Nazi-Deutschland geht. Wir wissen, dass das Problem dort Gehorsam war, dass das Volk Hitler gehorchte. Die Menschen haben gehorcht; das war falsch.
Zinns Haltung ruht auf einem klaren Fundament. Er geht von der Annahme aus, dass die Welt aus den Fugen geraten ist, dass alles falsch ist, dass die falschen Leute im Gefängnis sitzen und die falschen Leute an der Macht sind, dass der Reichtum im Land und in der Welt so verteilt ist, dass nicht nur kleine Reformen, sondern eine drastische Umverteilung des Reichtums erforderlich ist.
Genau das mache zivilen Ungehorsam notwendig, wie Zinn nicht müde geworden ist zu betonen. Wegen des grundlegenden Unrechts sei Gehorsam daher falsch. Aber wenn man die Medien verfolge und den Politikern zuhöre, scheine es, so der US-amerikanische Historiker und Aktivist, als ob die Dinge gar nicht so schlecht sind und nur ein paar Sachen nicht richtig laufen würden.
Heute ist die Lage noch mehr aus den Fugen geraten als 1970. Wir sind, wie UN-Generalsekretär António Guterres, gestützt auf die internationale Wissenschaftsgemeinschaft, warnt, auf einem "Highway to Hell". Wer beim Klima nicht führt, sei kriminell, fügt er hinzu. Amtlicher kann man den Zustand von politischem Unrecht nicht bekommen.
Lediglich wenige Jahre verbleiben noch für eine Kursänderung, um fatale Kipppunkte im Erdsystem nicht vollends zu überschreiben und irreversible Prozesse in Gang zu setzen, wie der Weltklimarat immer lauter mahnt. Wenn nicht gehandelt wird, bedeutet es faktisch "Game Over" für ein einigermaßen akzeptables Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde. Doch die Regierungen reagieren auf die Warnungen weiter nicht, einschließlich der deutschen.
Zinn würde angesichts der Menschheitskrise und des Unrechts von Regierungen, mit vollem Wissen über die Folgen auf Kurs zu bleiben, wohl sagen: Nicht die "Letzte Generation" ist unser Problem, sondern der Mangel an Ungehorsam gegen dieses planetare Verbrechen. Und der Glaube daran, dass die Lösung der Menschheitskrise im politischen, störungsfreien Normalbetrieb ablaufen werde – was in Sicht auf die letzten Jahrzehnte und die vielen Massendemonstrationen, Petitionen und politischen Offensiven eher ein frommer Wunschtraum ist.
Den Klimaaktivist:innen bläst sicherlich ein rauer Wind ins Gesicht, wie vielen Ungehorsamen zuvor in der Geschichte. Aber mutige Aktionen, bei denen friedlich Protestierende bereit sind, wegen ihrer Gewissensentscheidung sogar ins Gefängnis zu gehen, können Sogeffekte erzeugen. Zu beobachten sind jedenfalls einige Solidarisierungen, die nicht nur von anderen Gruppen innerhalb der Klimabewegung ausgehen.
So haben sich 1600 Wissenschaftler:innen an die Seite der "Letzten Generation" gestellt und einen Unterstützungsappell "Handeln statt Kriminalisieren" veröffentlicht. Sie fordern die Politik auf, endlich das Problem zu adressieren: "Die Aktivist:innen weisen auf schwerwiegende staatliche Versäumnisse […] hin […] und setzen ihre Aktivitäten nicht leichtfertig, sondern als letztes Mittel ein", heißt es in der Erklärung. Das Zeitfenster für die Bekämpfung des Klimawandels schließe sich immer schneller, warnen die Forscher.
Ja, es ist richtig, im Moment, auch angesichts der negativen bis diffamierenden Berichterstattung, stehen viele Menschen nicht hinter den Sitzblockaden der "Letzten Generation". Aber wann war ziviler Ungehorsam in der Vergangenheit schon mal wirklich populär? Er ist grundsätzlich auch nicht geeignet als Mehrheitsbeschaffer.
Dafür sind Politik und Zivilgesellschaft verantwortlich. Wenn aber die Mehrheitsbeschaffung für das dringend Notwendige politisch weiter verweigert bzw. von Lobbys blockiert wird, und danach sieht es aus, wird es in Zukunft mehr Ungehorsamsaktionen geben müssen – und meiner Vermutung nach wohl auch geben, um die politisch Verantwortlichen auf diese Weise unter Druck zu setzen.
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