Zukunftstüchtig? Was wir bei Konflikten sehen müssen
- Zukunftstüchtig? Was wir bei Konflikten sehen müssen
- "Es wird viel Konflikt genannt, weil man nicht genau weiß, was es ist"
- "Mich interessieren die nächsten fünf Minuten"
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Wie geht Planetendenken? Was ist Fortschritt? Was können wir entwickeln? Über einen tiefenzeitlichen Horizont, den wir nötig haben. Ein Gespräch mit Armen Avanessian.
Ein rascher Blick in die Tagesnachrichten hinterlässt den Eindruck, dass sich unser Planet in Konflikten verstrickt. Aber handelt es sich dabei wirklich um Konflikte?
Der Philosoph Armen Avanessian weist darauf hin, dass wir zu tatsächlichen Konflikten oft noch nicht in der Lage sind, da wir das Einlassen auf die andere Position nicht beherrschen, sondern oberflächlich über die Verästelungen der Probleme hinweggehen.
Konflikt ist eine Allerweltsvokabel, die schnell bei der Hand ist, um etwas Unverstandenes zu titulieren. Diese schnelle Vorgehensweise verhindert jedoch ein tieferes Verständnis von der Zukunft unseres Planeten. Erst die Erweiterung des wissenschaftlichen Instrumentariums um andere Diskurse ermöglicht eine umfassende Erfassung der Erde als sich verändernde Wesenheit.
Ein solch planetares Danken, das Avanessian zusammen mit dem Autor Daniel Falb in seinem neuesten Buch "Planeten Denken. Hyper-Antizipation und Biografische Tiefenzeit" (Merve Verlag, 2024) entwickelt, fordert einen weitaus größeren Zugriff.
Telepolis sprach mit ihm darüber.
"Intellektueller Stillstand ist ja generell wenig attraktiv"
Wie verlagern sich jeweils Ihre thematischen Schwerpunkte? Sie waren ja etwas zögerlich, über vor längerem geschriebene Texte zu sprechen.
Armen Avanessian: Ganz banal gesprochen: Intellektueller Stillstand ist ja generell wenig attraktiv. Man hofft natürlich, sich weiterzubewegen. Speziell möchte ich nicht immer zu denselben Sachen gefragt oder eingeladen werden.
Abgesehen davon hat sich in den letzten zehn Jahren auch etwas getan: Zu den Büchern, die ich zu spekulativem Realismus, zu Akzelerationismus und zu zeitontologischen Fragen herausgegeben habe, gibt es einiges Neues zu sagen.
Es geht zum einen um die Anwendung auf andere Phänomene, aber auch darum, den zeittheoretischen Einsatz zu schärfen. Es gibt also ausreichend Gründe, hierzu Neues zu publizieren.
Das betrifft auch mein neuestes Buch zum Planetendenken. Dass wir lernen müssen, Planeten nicht nur als Materialklumpen zu denken, sondern auch als Zeitfiguren, als temporal veränderliche Entitäten. Das setzt in gewisser Hinsicht an frühere Publikationen an und bereichert sie hoffentlich, zudem werden einzelne Aspekte vertieft.
"Der Kapitalismus baut ständig Bremsen ein"
Sie sprachen gerade die zeitliche Dimension an. Sie scheint ein roter Faden in Ihren Publikationen zu sein. Beim Akzelerationismus spielt die Überlegung auch eine Rolle, wie man kapitalistischen Strukturen begegnen kann, vielleicht durch Überholung und zeitliche Ausreizung der kapitalistischen Strukturen?
Armen Avanessian: Ich habe ja stets vorgeschlagen – wohl mit nicht allzu viel Erfolg –, Akzelerationismus nicht als ein reines Geschwindigkeitsphänomen zu verstehen, also dass man mit immer größerer quantitativer Beschleunigung immer ärgere Extreme erreicht.
Im Deutschen gibt es statt einer solchen Identifikation die Möglichkeit, zwischen Beschleunigung und Akzeleration begrifflich zu differenzieren. Statt einfach nur zu beschleunigen, geht es bei Akzeleration auch um die Einführung einer Differenz.
Die Grundbeobachtung, die ich weiterhin sehr plausibel halte, ist, dass der Kapitalismus viel von seiner befreienden, beschleunigenden, liberalen Kraft schwadroniert, aber de facto ständig Bremsen, Filter oder Umleitungen einbaut. Entsprechende Beobachtungen und Einwände finden sich bereits bei Autoren wie Marx oder Deleuze & Guattari.
Viele Planetenbewohner können überhaupt nicht frei reisen, viele sind überhaupt nicht frei. Und ebenso wenig setzen sich die besten Ideen auf einem angeblich freien Markt durch. Ganz im Gegenteil diktiert ein monopolgesättigter Markt.
Schauen Sie sich den Status Quo der digitalen Industrie und der sozialen Medien an. Was hieße es denn, wenn wir stattdessen den Kapitalismus beim Wort nehmen und die vorhandenen Dynamiken und die technischen Potenziale wirklich ausnützen und in diesem Sinne beschleunigen? Soziale Medien, wissenschaftliche oder medizinische Errungenschaften, aber auch Climate-Engineering würden uns ganz andere Optionen an die Hand geben.
Was hieße es, die vorhandenen Technologien nicht nur profitorientiert, sondern im Dienste des Kunden, im Dienste der Menschen in einer progressiven gesellschaftlichen Entwicklung einzusetzen? Dies ist für mich weniger eine Frage der Beschleunigung, als einer politischen Akzeleration oder progressiven Freisetzung ungenutzter Potenziale.
"Wir wissen noch gar nicht, was es bedeutet, auf einem Planeten zu wohnen"
Welche tatsächlichen Partizipationsmöglichkeiten haben die Planetenbewohner angesichts dieser fortlaufenden technologischen Prozesse?
Armen Avanessian: Der Ausgangspunkt unseres neuen Buches "Planeten Denken" ist, dass wir noch gar nicht wissen, was es bedeutet, auf einem Planeten zu wohnen. Wir sprechen zwar ständig vom Planet Erde, aber schon bei der genaueren Definition, was ein Planet ist, haben die meisten wohl Probleme.
Das ist aber nicht nur ein Bildungsproblem, sondern auch ein soziales, ein politisches und ein gesellschaftliches Problem, weil wir noch nicht verstanden haben, dass Planeten sich verändernde Entitäten sind, und zwar unter Umständen nicht erst im Anthropozän, sondern immer schon.
Wir haben noch keine wirklich astronomisch oder astrobiologisch informierte politische Theorie.
Oder anders: wir haben ein völlig anachronistisches und uninformiertes Verständnis vom Planeten. Uns geht es darum, zu zeigen, dass mit einem neuen zeitlichen oder tiefenzeitlichen Verständnis von Planeten auch ein ganz anderer Zeithorizont verbunden ist, zu denken und zu handeln, und zwar mit einem tiefenzeitlichen Horizont. Zudem mit dem Wissen um die Veränderlichkeit des Planeten.
"Wir haben zu wenige Konflikte"
In dem soeben genannten Buch, Ihrem neuesten, gehen Sie mit ihrem Mitautor Daniel Falb auch darauf ein, dass dieses planetare Denken bisher nicht ausreichend in den verschiedenen Diskursen eingedrungen ist. Dies verbindet sich dann auch mit Ihrem Buch aus dem Jahr 2022 zu Konflikten, wenn man die Überlegungen zu Konflikten auf eine planetarische Dimension erweitert?
Armen Avanessian: Die Idee zu dem Konflikt-Buch war, dass wir nicht zu viele Konflikte haben, sondern zu wenige. Es gelingt uns nicht wirklich, Konflikte herzustellen. Wir haben Streit, wir haben Dissens, wir hören uns nicht gut genug zu oder wir ereifern uns zu schnell, haben vermehrt Kriege, wenn nicht sogar kaum bemerkt einen dritten Weltkrieg.
Aber Konflikte im emphatischen Sinn haben wir nicht. Ich spreche dabei von Grundkonflikten in einer Gesellschaft, die sie gewissermaßen ausmachen und sie aufspannen, und die eine Gesellschaft dementsprechend auch nicht so einfach lösen kann.
Zwei historische Autoren, mit denen man das gut veranschaulichen kann, sind einerseits Freud, der sagt: Wir haben grundsätzliche Neurosen, die unsere Persönlichkeit ausmachen und die wir nicht einfach wegtherapieren können, wie der Ödipus-Komplex zum Beispiel, der unser Wesen und unseren Charakter ausmacht.
Der andere Autor ist Marx, demzufolge unsere Gesellschaft von einem grundsätzlichen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit geprägt ist. Dieser verschwindet auch nicht einfach mit besseren Arbeits- und Gehaltsbedingungen oder längeren Urlaubszeiten, so wünschenswert diese auch sein mögen.
Sondern dieser Konflikt besteht notwendig weiterhin und um ihn anzugehen, um ihn überhaupt verbessern zu können, bedarf es entsprechender Institutionen. Diese haben sich historisch entwickelt: Parteien, Gewerkschaften, die Arbeiterbewegung und so weiter.
"Uns fehlen Institutionen für das 21. Jahrhundert"
Und was heißt das für unsere Gegenwart?
Armen Avanessian: Für diverse Grundkonflikte unserer gegenwärtigen Gesellschaft – denken wir an Ökonomie versus Ökologie – fehlen uns einfach die entsprechenden Institutionen im 21. Jahrhundert. Dies war ungefähr die Grundthese des Konflikt-Buches: Konflikte sind etwas Positives, aber wir müssen erst lernen, sie herzustellen.
Und klar, im Rahmen eines planetarischen Denkens und Handelns stellt sich die Frage: Was wären denn planetarische Institutionen, die mit immer näherkommenden Herausforderungen, mit Klimaveränderungen, mit Pandemien, auf eine Art und Weise umgehen, die nicht mehr nationalstaatlich geprägt ist und die auch nicht unbedingt durch globale Institutionen abgedeckt wird?
Damit meine ich Organisationen der Globalisierung, die nicht zuletzt durch eine Hegemonie westlicher Staaten des Globalen Nordens geprägt sind. Wie gehen wir mit den aus der Zukunft immer näherkommenden Problemen um, wie der Klimaveränderung oder Pandemien, die wir eigentlich schon heute angehen müssen oder müssten, weil es in der Zukunft dafür zu spät sein könnte?
In meinen Büchern habe ich nun nicht versucht, oder mir nicht angemaßt, vorschreiben zu wollen, wie diese planetarischen Institutionen aussehen müssen, mit denen wir zukünftigen Problemen oder Konflikten überhaupt werden begegnen können.
Mein Ziel war und ist eher, darauf hinzuweisen, dass wir diese planetarische Dimension des Denkens und institutionellen Handelns überhaupt erst herstellen müssen.
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