Zurück zur Sozialdemokratie?

Nato, Rüstung, Kriegseinsätze. Wie sich die Linke gespalten hat und ob es heute noch einer Partei links der SPD bedarf

Angesichts des Niedergangs der Partei Die Linke stellt sich die Frage, ob eine solche Gruppierung heute noch gebraucht wird. Sind die Unterschiede zwischen Linkspartei und SPD weiterhin so groß, dass es zweier entsprechender Parteien bedarf? Oder ist es jetzt nicht an der Zeit, die historische Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie es zu dieser Spaltung kam. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich beurteilen, ob die Gründe dafür heute noch aktuell sind.

Die Spaltung der Arbeiterbewegung geht auf die politischen Umbrüche während und nach dem Ersten Weltkrieg zurück. 1916 verließen Kriegsgegner die SPD und gründeten die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD). Seit der Oktoberrevolution und der Bildung der III. Kommunistischen Internationale im Jahr 1919 existiert der Gegensatz von Sozialdemokratie und Kommunismus.

Die Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie als Ursache der Spaltung

Die Bruchlinie zwischen den Lagern aber war nicht von der Frage Reform oder Revolution bestimmt. Nach Domenico Losurdo ist dies "eine künstliche Darstellung, die nicht dadurch glaubhafter wird, dass sie oft unter entgegengesetzter Wertung von beiden Antagonisten geteilt wurde".1

Tatsächlich war es die Reaktion der Führungen der europäischen Sozialdemokratie auf den von den imperialistischen Mächten ausgelösten Ersten Weltkrieg, die zur Spaltung führte. Unter der Parole des "Burgfriedens" billigten, ja unterstützten diese aktiv das Massenschlachten – ob in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich oder Italien. Dagegen stellten sich überall innerparteiliche Oppositionsbewegungen, es kam zu Parteispaltungen. Aus der Sozialdemokratie heraus bildeten sich neue Parteien: Pazifistische, linkssozialistische und kommunistische.

Zur ersten Zusammenkunft oppositioneller Kräfte kam es in der neutralen Schweiz. Im September 1915 trafen sich in dem kleinen Ort Zimmerwald 38 Delegierte aus zwölf Ländern und Regionen. Das von ihnen verabschiedete Manifest enthielt eine schonungslose Abrechnung mit den Führungen der sozialdemokratischen Parteien, denen man vorwarf, "die Verantwortung für diesen Krieg, für seine Ziele und Methoden übernommen zu haben."2

Der Gegensatz zwischen den Burgfrieden propagierenden Sozialdemokraten und der linken Opposition verschärfte sich im Kriegsverlauf und nahm nach dem Waffenstillstand in einigen Ländern bürgerkriegsähnliche Formen an. Lenin beschrieb die Situation mit drastischen Worten: "In der ganzen Welt haben sich die Sozialisten gespalten. Die einen sind Minister, die anderen sitzen in den Gefängnissen."3 In Deutschland nahm der Bruderkampf noch brutalere Formen an: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und mit ihnen viele andere wurden unter Billigung von Mehrheitssozialdemokraten ermordet.

Mehr als der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten

Die Zimmerwalder Konferenz fand zwei Jahre vor der Russischen Revolution statt. Lenin war in Zimmerwald dabei, er gehörte dort aber zur Minderheit – der von ihm eingebrachte Resolutionstext fand keine Mehrheit.4 Die Spaltung der Arbeiterbewegung ging der Russischen Revolution voraus, sie lässt sich daher nicht auf den erst später dominierenden Gegensatz Sozialdemokratie versus Kommunismus reduzieren.

Auch dies ist eine "künstliche Darstellung", an deren Verbreitung beide Antagonisten interessiert sind. Es ist vielmehr an der Zeit, diese schematische Darstellung zu überwinden. In der wechselvollen Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung gibt es vielmehr zahlreiche Beispiele dafür, wie sich antimilitaristische und antiimperialistische Haltungen immer wieder neu in der Sozialdemokratie herausbilden

Davon zeugt etwa der Streit in der Weimarer SPD über den Bau des Panzerkreuzers A. Die SPD hatte 1928 ihren Wahlkampf unter die Parole "Für Kinderspeisung – gegen Panzerkreuzerbau!" gestellt. Nach ihrem Wahlsieg war es dann aber ausgerechnet der sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller, der grünes Licht für den Bau gab.5 Es war vorwiegend die KPD, die die linken Wähler gegen diesen Verrat mobilisierte.

Aber auch in der SPD wurde diese Entscheidung mit Empörung aufgenommen. Das "Umfallen" der Partei war Anlass zur Abspaltung eines Großteils ihres linken Flügels. Am 4. Oktober 1931 wurde auf der Reichskonferenz oppositioneller Sozialdemokraten die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) gegründet.6

Auf dem Präsidiumstransparent war zu lesen: "Karl Liebknecht mahnt, der Feind steht im eigenen Land". Es war die Parole von 1915, die wieder aktuell geworden war. Vor allem junge Sozialdemokraten schlossen sich der neuen Partei an, unter ihnen Herbert Frahm, der sich später Willy Brandt nannte, dabei war auch Otto Brenner, in der Bundesrepublik lange Vorsitzender der IG Metall.

Der Kotau der Nachkriegs-SPD

Nach der Befreiung folgte die SPD zunächst den in der Bevölkerung vorherrschenden pazifistischen und neutralistischen Stimmungen. Für eine gewisse Zeit schien es so, dass die Sozialdemokratie die Lektionen von 1914 und 1933 verstanden hatte, und dass sie künftig eine konsequente antimilitaristische Politik verfolgen würde.

So verweigerte die SPD lange ihre Zustimmung zu der von der Adenauer-Regierung forcierten Wiederbewaffnung und zur Einbindung der Bundesrepublik in die Nato. 1956 hatte der Münchener Parteitag "die deutsche Sozialdemokratie sogar auf das Ziel festgelegt, die Einführung der Wehrpflicht zu verhindern bzw. die Wehrpflicht wieder zu beseitigen, falls sie (…) gegen ihren Willen eingeführt werden sollte."7

Anders als der DGB hatten sich die Delegierten aber nicht dazu durchringen können, die Partei aufzufordern, die Kräfte aktiv "zu unterstützen, die willens sind, 'mit demokratischen Mitteln die Wiederbewaffnung im gespaltenen Deutschland und die Wehrpflicht wieder rückgängig zu machen.'"8 Doch auch der DGB unternahm so gut wie nichts, um den Widerstand gegen Wehrpflicht und Nato zu stärken.

Und so kam es wie so oft in der Nachkriegsentwicklung: "SPD und DGB beteiligten sich zwar zeitweilig an derartigen Bewegungen, ließen es aber letztendlich an Entschlossenheit fehlen, wodurch die größte politische Oppositionsbewegung entscheidend an Orientierung und Durchsetzungskraft verlor."9

Es sollte aber noch bis 1960 dauern, bis sich die SPD auch offiziell zu Nato und Wehrpflicht bekannte. Herbert Wehner erklärte am 30. Juni des Jahres in einer Grundsatzrede vor dem Deutschen Bundestag für die SPD10:

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands geht davon aus, dass das europäische und das atlantische Vertragssystem, dem die Bundesrepublik angehört, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik ist.

Wehner antwortete damit auf eine unmittelbar zuvor erhobene Forderung des CSU-Vorsitzenden und Bundesverteidigungsministers Franz-Josef Strauß nach einer gemeinsamen Außenpolitik von CDU/CSU und SPD.

Wehners Erklärung stand in einem klaren Widerspruch zu dem erst ein Jahr zuvor beschlossenen Godesberger Programm, denn dort fand sich kein Bekenntnis zum atlantischen Vertragssystem, die Nato wurde darin noch nicht einmal erwähnt. Gefordert wurde vielmehr11:

Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Einbeziehung ganz Deutschlands in eine europäische Zone der Entspannung und der kontrollierten Begrenzung der Rüstung, die im Zuge der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit von fremden Truppen geräumt wird, und in der Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen weder hergestellt noch gelagert oder verwendet werden dürfen.

Antiimperialismus außerhalb und innerhalb der SPD

Nach dem Kotau vor der von Adenauer vorangetriebenen Westbindung der Bundesrepublik entledigte sich die SPD recht bald der innerparteilichen Widersacher ihres Schwenks: Am 6. November 1961 erklärte der SPD-Vorstand die Mitgliedschaft in dieser Partei mit der Zugehörigkeit zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und seiner Fördergesellschaft für unvereinbar.

Dies war die Geburtsstunde der Außerparlamentarischen Opposition, da der verstoßene SDS nun zum Motor eines sich außerhalb der SPD organisierenden Protests gegen Militarisierung, gegen Atombewaffnung der Bundeswehr, vor allem aber gegen die Westbindung der Bundesrepublik wurde.

In den Fokus nahm die neu entstehende Studentenbewegung auch die rücksichtslosen und grausamen Kriege, die Frankreich in Algerien und die USA in Vietnam führten. Protestiert wurde gegen eine Außenpolitik der Bundesrepublik, die mörderische Regime überall in der Welt unterstützte. Bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg erschossen.

Gestärkt wurde die Studentenbewegung durch die 1968 gegründete Deutsche Kommunistische Partei (DKP), wodurch die westdeutschen Kommunisten nach zwölf Jahren Illegalität wieder in der Öffentlichkeit aktiv werden konnten. Trotz der anfangs starken Stellung der DKP unter Studenten und jungen Intellektuellen blieb die Partei jedoch insgesamt erfolglos. Ihr Einfluss in der Arbeiterklasse blieb schwach, bei Wahlen war sie chancenlos. Mit der Wende 1989/90 wurde diese schwache kommunistische Partei noch weiter geschwächt.

Es sollte nicht lange dauern, bis sich aufgrund der Politisierung vieler Studenten in der Sozialdemokratie wieder antiimperialistische Haltungen zeigten. Zunächst radikalisierte sich der eben erst von der SPD als Ersatz für den verstoßenen SDS gegründete Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB). Es folgten die Jungsozialisten, die 1969 eine Linkswendung vollzogen. Dort bildete sich eine marxistische Strömung heraus, die in den 1980 vorgelegten "Herforder Thesen – zur Arbeit von Marxisten in der SPD" die Unterordnung der Bundesrepublik unter die Interessen der Nato und damit der USA scharf kritisierte.12

Linke Sozialdemokraten, Kommunisten, unabhängige Linke, Christen und Grüne engagierten sich in den 80er-Jahren gemeinsam im Kampf gegen die sogenannte Nachrüstung und für eine Fortsetzung der Entspannungspolitik. Höhepunkt der Friedensbewegung war die Kundgebung von mehr als einer halben Million Menschen gegen den Nato-Doppelbeschluss am 10. Juni 1982 auf den Bonner Rheinwiesen.

Der Streit um Westbindung und Nato war spätestens mit den Protesten gegen die Nachrüstung in die SPD zurückgekehrt, und er sollte auch die Debatte um das neue Grundsatzprogramm bestimmen, mit dem das Godesberger Programm abgelöst werden sollte. In diese Auseinandersetzung griff auch Olaf Scholz ein. In einem Artikel setzte er sich 1987 als stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten mit den außen- und sicherheitspolitischen Passagen des Entwurfs auseinander.

Dabei griff er das "Nato-Bekenntnis" an. Bemerkenswert ist seine damalige Formulierung, wonach "erst eine sozialistische Welt dauerhaft den Frieden garantieren könne". Und weiter 13:

Überhaupt entpuppt sich die SPD gerade in dem Kapitel "Die Politik des Friedens" als eine Partei des Status quo. Sie behauptet die Notwendigkeit der Mitgliedschaft der BRD in der Nato. Obwohl die Forderung nach einem isolierten Austritt der Bundesrepublik aus der Nato falsch ist und die Überwindung der Militärblöcke in Europa der richtige Weg ist, mutet das Nato-Bekenntnis in einem sozialdemokratischen Grundsatzprogramm doch merkwürdig an. (…).

Heute hingegen verurteilt jener Olaf Scholz die ablehnende Haltung der Partei Die Linke gegenüber der Nato und verlangt von ihr ultimativ ein Bekenntnis zu diesem Bündnis und zur Westbindung der Bundesrepublik. Davon wollte er die Aufnahme von Gesprächen über eine Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei nach der Bundestagswahl im September 2021 abhängig machen.

Von der Partei Die Linke forderte Olaf Scholz damit genau das ein, was 1960 der CSU-Vorsitzende und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß seinerzeit von der SPD verlangt hatte.