Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Wie stark bzw. schwach ist die russische Armee?

Eine militärische Übung russischer Truppen in der Region Saporischschja. Bild: Russisches Verteidigungsministerium

Deutsche Medien sprechen von erlahmender russischer Kampfkraft. Was steckt dahinter? Und was heißt das für Verhandlungen und Waffenhilfe an Kiew?

Der Ukrainekrieg geht aktuell in sein drittes Jahr. Damit hatte zu Beginn niemand gerechnet, weder die russische noch die ukrainische Seite.

Wie er sich militärisch weiter entwickeln wird, hängt vor allem von der Kampfkraft der beiden Kontrahenten ab. Auch im Falle von Verhandlungen zur Beendigung des Krieges hängt das politische Ergebnis, der am Ende gefundene Kompromiss, maßgeblich von der militärischen Lage zu diesem Zeitpunkt ab.

Verhandlungen und Waffenhilfe schließen sich nicht aus

Insofern ist es falsch, wenn im deutschsprachigen Diskurs sowohl Befürworter einer vorbehaltlosen Unterstützung der Ukraine mit allen gewünschten Waffen als auch Gegner solcher Waffenlieferung ständig die Alternativen "Waffenlieferungen – keine Verhandlungen" und "keine Waffenlieferungen – aber Verhandlungen" diskutieren.

Einerseits sind baldige Verhandlungen zur Beendigung des Tötens auf beiden Seiten unerlässlich, der Krieg forderte nach verschiedenen Schätzungen bisher 150.000 bis 200.000 Todesopfer. Andererseits würde ein sofortiger Lieferstopp von Waffen an die Ukraine diese in eine militärisch aussichtslose Lage bringen.

Dies hätte einen russischen Diktatfrieden zur Folge oder unter Umständen sogar eine Ablehnung von Verhandlungen durch die russische Seite, da ein militärischer Sieg in greifbare Nähe rückte. So gefährlich und verlustreich der Weg des Westens für die Ukrainer war, 2022 nur auf einen militärischen Sieg gegen Russland zu setzen, so lässt sich diese Entscheidung realpolitisch nicht mit einem Federstreich ohne erheblichen Schaden rückgängig machen.

Die Büchse der Pandora wurde bereits geöffnet. Das ändert nichts daran, dass auch ein weiteres Beharren nur auf einen militärischen Sieg der Ukraine ohne baldige Verhandlung viele Todesopfer vorprogrammiert.

Bisheriger Kriegsverlauf ergibt keinen ukrainischen Vorteil

Hängt hier die ukrainische Seite vor allem von der Unterstützung des Westens ab, die viel und öffentlich in Deutschland diskutiert wird, ist die Kampfkraft der russischen Invasionsarmee weniger im Fokus. Der bisherige und aktuelle Kriegsverlauf zeigt, dass zumindest momentan die russische Kriegsmaschinerie funktioniert.

Trotz Misserfolgen der Invasionstruppen 2022, dem Scheitern des Vorstoßens auf Kiew, dem Verlust der bereits eroberten Gebiete bei Cherson und Charkiw konnte mit einer massiven Verstärkung der Truppen 2023 eine weitgehend stabile Front geschaffen werden.

Die ukrainische Gegenoffensive ab dem Frühsommer scheiterte und in den letzten Wochen kam es wie bei Awdijiwka zu regionalen russischen Erfolgen an Kampfschwerpunkten. Auch ob sich diese zu einem Durchbruch der ukrainischen Front auswachsen oder nur einem Stillstand an einer neuen, weitgehend stabilen Frontlinie führen, hängt maßgeblich von der Kampfkraft der angreifenden russischen Truppen ab, die hohe Verluste für Erfolge wie selbstverständlich in Kauf nehmen.

Westliche Experten sehen Niedergang der russischen Armee

Die Kampfkraft und langfristige Kriegsfähigkeit Russland ist unter den Experten heiß umstritten. Der polnische Fachmann für die russischen Streitkräfte Pavel Luzin zeichnet etwa in einer Analyse ein düsteres Bild für die russische Seite, das man auch immer wieder bei deutschen Politikern, Journalisten und Fachleuten findet.

Er betont vor allem einen nach seiner Ansicht "organisatorischen Verfall" der russischen Armee mit vielen irregulären Einheiten und dem Einsatz immer älterer Militärtechnik als Ersatz für die im Krieg zerstörten Waffen.

Er weist hin auf wachsende Differenzen zwischen der offiziell in Papieren genannten, ständig wachsenden Stärke des Militärs und den tatsächlich vorhandenen Soldaten. Umfassend legt er da, dass diese seit dem Kriegsausbruch real gar nicht gestiegen sei, was auch die fehlende Rotation der Fronttruppen zur Folge habe.

Die Rekrutierung von Ausländern und die Beschaffung von Waffen und Munition in Ländern wie dem Iran oder Nordkorea zeigen nach seiner Ansicht, dass es um die Ausdauer und Kampfkraft der russischen Armee nicht so positiv bestellt sei, wie die russische Führung mit voller Macht glauben machen will.

Zweifel an schön gefärbten Analysen

Darstellungen wie die von Luzin wecken inzwischen nicht nur Zweifel bei fachkundigen Beobachtern, die dem Kreml nahestehen. So antwortet dem Polen direkt Wladislaw Inosemzew, Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien. Der russische Ökonom wandelte sich in den 2010er-Jahren von einem Berater der russischen Regierung zu einem ihrer scharfen Kritiker, insbesondere aufgrund des sich zu dieser Zeit ständig verschärfenden außenpolitischen Kurses des Kreml, den er als Verlust der Rationalität bezeichnet.

Er hält es für falsch, Kiew "mit Geschichten über ein baldiges Ende des Krieges zu beruhigen". Putin habe mit einer Verschärfung des innenpolitischen Kurses und riesigen Finanzanstrengungen sein Land auf eine aktuell funktionierende Kriegswirtschaft umgestellt.

Um Freiwillige zu bekommen, würden lukrative Gehälter und Entschädigungen gezahlt und die Produktion wichtiger Waffen wurde um ein Vielfaches gesteigert. Ein Ende dieser Fähigkeit sei nicht in Sicht.

Inosemzew stellt nicht alle Erkenntnisse seines polnischen Kollegen infrage. Auch er glaubt an eine wachsende Lücke zwischen den offiziellen Statistiken über russische Truppenstärken und deren Realität. Auch er sieht einen vorübergehenden Engpass, den Russland durch Waffenkäufe im Iran oder Nordkorea ausgleichen musste.

Verlagerung von Drohnenproduktion nach Russland

Doch er betont, dass hier bereits ebenfalls Abhilfe geschaffen würde, etwa durch die Verlagerung der Produktion von Nachbauten iranischer Drohnen nach Russland.

Auch den im Westen häufigen Vergleich mit der UdSSR, die sich am Ende an ihren Militärausgaben überhoben habe, lässt Inosemzew nicht unerwähnt. Der Unterschied zum heutigen Russland sei, dass es sich bei der aktuellen Rüstungsindustrie nicht um eine starre Planwirtschaft handele, sondern um leistungsfähige Unternehmen.

Inosemzew bestreitet nicht massive Verluste an russischem Kriegsmaterial an der Front, das sehr oft Gegenstand von deutschen oder ukrainischen Pressemeldungen ist. Doch er glaubt an die Kraft der russischen Wirtschaft, diese aufzufüllen.

Dabei gehe es den Russen nicht um die "Idee, die fortschrittlichsten Waffen herzustellen", diese würden im Stellungskrieg nicht benötigt. Die Masse mache es.

Verhandlungen und Lösungssuche sollten Priorität haben

Hier soll nicht unerwähnt bleiben, dass Inozemtsev in seiner inzwischen radikalen Ablehnung des Regimes Putin zu den Befürwortern einer Ausweitung der Militärhilfe für die Ukraine durch den Westen zählt. Er warnt vor der Kraft Russland vor allem, da schönfärberische westliche Einschätzungen, die sich auch in zahlreichen deutschen Presseartikeln finden, eine falsche Sicherheit erzeugen könnten.

Dass man Russland nicht "nebenher" besiegen könne. Das böse Erwachen wäre beim Glauben an den "Sieg von allein" vorprogrammiert.

Doch auch Inosemzew kann nicht bestreiten, dass etwa die Produktionssteigerung bei Militärgütern, gerade Munition, im Westen aktuell wesentlich langsamer vonstattengeht als in Russland. Dass die Unterstützung immer weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine im Westen angesichts der Kosten und fehlenden Erfolge bröckelt.

Dass der Einsatz neuer Waffen wie der viel diskutierten deutschen Taurus-Raketen mit hoher Reichweite, die vor allem für Ziele im russischen Hinterland eingesetzt werden soll, auch immer eine ebenfalls eskalierende Antwort Moskaus zur Folge hat, zu der Russland auch in der Lage ist.

Je länger der Krieg dauert, umso mehr Tote

Garantiert bei all dieser militärischen Entwicklung ist nur eines: Je länger und umso intensiver dieser Krieg weitergeführt wird, umso mehr Menschen werden sterben und die Mehrheit davon werden Ukrainer sein, die auch die Masse der zivilen Opfer stellen.

Diesen Umstand ignorieren jedoch die meisten Militärstrategen beider Seiten. Deswegen ist die Forderung nach einer Aktivierung der Diplomatie gegenüber Russland, das Finden eines Kompromisses und das Ziel eines Endes der Kämpfe zwei Jahre nach Kriegsbeginn kein Verrat an der Ukraine.

All diese Maßnahmen setzen keinen Stopp der Waffenhilfe für Kiew voraus. Sie sind aber die einzige Möglichkeit, eine Fortsetzung des Sterbens und eine mögliche weitere Ausweitung des Krieges zu verhindern.