Zweifel an der Theorie vom verwirrten Einzeltäter
Heute vor 25 Jahren fand der Bombenanschlag aufs Oktoberfest statt Noch immer wird gerätselt, wer hinter ihm gestanden hat
Heute vor 25 Jahren ging auf dem Münchner Oktoberfest eine Bombe hoch. 13 Menschen starben noch am Tatort, über 200 wurden verletzt, viele davon sind bis heute schwer geschädigt. Schnell wurde seinerzeit ein Schuldiger gefunden: Der rechtsradikale Waffennarr Gundolf Köhler soll die Bombe im Alleingang gebaut, vor Ort deponiert und gezündet haben. Köhler selbst konnte sich nicht verteidigen. Er war selbst bei dem Anschlag gestorben; das Einzige, was man von ihm finden konnte, war seine Hand. Genauso schnell, wie der vermeintliche Alleintäter ermittelt worden war, wurde der Fall zu den Akten gelegt.
Doch bis heute gibt es Zweifler. Ignaz Platzer zum Beispiel, der beim Anschlag auf der Wiesn zwei Kinder verlor, wird bis heute das Gefühl nicht los, die Ermittler hätten mehr vertuscht als aufgedeckt. Ein Hauptargument der Kritiker: Der Zündmechanismus der Bombe sei zu kompliziert gewesen, als dass Köhler ihn ohne fremde Hilfe gebaut haben könnte. Doch jahrelang blieben Überlebende, Opferangehörige und Augenzeugen mehr oder weniger sich selbst überlassen.
September, 1980. Wahlkampf in Deutschland. Helmut Schmidt (SPD) gegen Franz-Josef Strauß (CSU). Strauß will den Medienrummel rund um das Attentat für sich nutzen und verkündet, die Linken stünden hinter dem Anschlag. Doch schon bald konzentrieren sich die Ermittlungen auf den 21-jährigen Geologiestudenten Köhler, Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann. Es ist nicht zuletzt diese Wendung in den Ermittlungen und natürlich die vorschnelle Beschuldigung "der Linken" -, die Strauß die Wahl kostet. Bei den Wahlen am 5. Oktober erhielten CDU/CSU 44,5 % der Stimmen, die SPD 42,9 % und die FDP 10,6 %. Die sozial-liberale Koalition (SPD/FDP) unter Helmut Schmidt bleibt also im Amt.
Schon 1985 hatte der Journalist Ulrich Chaussy in seinem Buch "Oktoberfest. Ein Attentat" anhand von Augenzeugenberichten und Originaldokumenten nachzuweisen versucht, warum die offizielle Version so nicht stimmen kann: Zeugenaussagen, die sich widersprechen, heiße Spuren, die ganz offensichtlich nicht verfolgt wurden, Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann, die angeblich keine Rolle spielten. Bis heute glaubt er nicht an die Einzeltätertheorie. Gegenüber der SZ sagte Chaussy unlängst: "Ich nehme nicht in Anspruch, sagen zu können, wer hinter dem Anschlag wirklich steckt, aber ich kann sagen: So, wie es offiziell gewesen sein soll, war es nicht."
Strategie der Spannung?
Experten für Geheimdienstaktivitäten haben durchaus eine Theorie, wer hinter dem Anschlag stecken könnte. So kommt der Schweizer Professor Daniele Ganser zu dem Ergebnis, dass der Wiesnanschlag verblüffend gut ins Profil der Geheimarmee Gladio (92 Patronenhülsen, ein Balletttänzer und die CIA) passt, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs in ganz Europa operierte und die öffentliche Meinung nicht zuletzt durch terroristische Anschläge manipulierte. Immer, wenn irgendwo etwas Schreckliches geschah, wurden "die Linken" als Täter entlarvt. Daraufhin war die Bevölkerung mehr als bereit, bürgerliche Freiheiten aufzugeben und den offiziellen Sicherheitskräften größere Budgets zu bewilligen. Von diesen Geldern profitierte indirekt auch Gladio, so dass die angeblichen Vorsichtsmaßnahmen den Terror eher förderten als bekämpften.
Diese perfide Taktik wurde von Gladio-Mitglied Vincenzo Vinciguerra als "Strategie der Spannung" (Strategia della tensione) bezeichnet:
Man musste Zivilisten angreifen, die Männer, Frauen, Kinder, unschuldige Menschen, unbekannte Menschen, die weit weg vom politischen Spiel waren. [ ] Dreißig Jahre lang bis in die achtziger Jahre wurde die Bevölkerung absichtlich in Unruhe und Angst vor einem Ausnahmezustand gehalten. Bis sie bereit war, einen Teil ihrer persönlichen Rechte im Austausch für größere Sicherheit aufzugeben, für die alltägliche Sicherheit, die Straße entlang zu gehen, mit der Bahn oder dem Flugzeug zu reisen, in eine Bank zu gehen. Die Menschen in diese Haltung zu zwingen, das ist die Logik, die hinter den Verbrechen steckt. Und da der Staat dahinter steht, der sich nicht selbst belasten wird, werden diese Verbrechen unaufgeklärt bleiben.
Entstanden war Gladio mit Unterstützung amerikanischer Geheimdienste bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Ziel von Gladio bestand darin, den Einfluss kommunistischen Gedankenguts im Allgemeinen und der Sowjetunion im Speziellen möglichst gering zu halten. Um das zu erreichen, musste man treue Anhänger ausbilden, die im Fall einer Machtübernahme durch die Kommunisten vor Ort bleiben und das feindliche System von innen heraus bekämpfen würden. In seinem Buch NATO's Secret Armies: Terrorism in Western Europe zeigt Daniele Ganser, dass für fast jedes Land Europas eine solche "Stay Behind Organization" nachgewiesen werden konnte. Nach eigenen Angaben hat Ganser im Grunde keine neuen Quellenrecherchen betrieben, sondern nur zusammengetragen, was an Material bereits vorhanden war. Um im vielsprachigen Europa möglichst viele Leser zu erreichen, ist das Buch zunächst auf Englisch erschienen.
Jahrzehntelang opierierte Gladio im Geheimen. Zwar geriet die Organisation in den 50er Jahren erstmals unfreiwillig ins Licht der Öffentlichkeit, doch erst im Oktober 1990 flog das Terrornetzwerk als Ganzes auf. Ausgerechnet der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti brachte den Stein ins Rollen. Er tat es nicht ganz freiwillig, versuchte aber, die Enthüllungen zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen. Erstens musste er vor einem Ausschuss, der sich unter anderem mit den seinerzeit ungeklärten Attentaten der Rechtsextremisten in Italien befasste, Rede und Antwort stehen. Zweitens wurden genau zur selben Zeit, als Andreotti mit "Gladio" an die Öffentlichkeit ging, die so genannten "Moro-Papiere" veröffentlicht. Der christdemokratische Parteipräsident und fünfmalige Regierungschef Aldo Moro war im März 1978 entführt und im Mai 1978 ermordet worden. Bei den Moro-Papieren handelte es sich um Briefe Moros und Verhörprotokolle der Roten Brigaden, die in einer konspirativen Wohnung gefunden worden waren. Aus den Unterlagen ging hervor, dass Moro von Gladio wusste, und Andreotti musste damit rechnen, dass er bei seiner Anhörung zu eben jenem Thema befragt werden würde. Also ging er in die Offensive und sorgte mit seinen Enthüllungen dafür, dass nur das bekannt wurde, was er, Andreotti, bekannt machen wollte.
Samstag, 2. August 1980. Im Bahnhof von Bologna warten hunderte Menschen auf die Einfahrt des Adria Express oder auf einen der anderen Züge, die sie rausbringen zum Meer. Überall herrscht Ausflugsstimmung. Plötzlich eine Explosion. 85 Menschen sterben, zweihundert werden verletzt. Wäre auf Gleis 1 kein Zug gestanden, hätte es noch viel mehr Opfer gegeben. Ähnlich wie beim Anschlag aufs Oktoberfest nur wenige Wochen später werden zuerst die Linken beschuldigt, die Ermittlungen verlaufen chaotisch, überall Widersprüche, nicht verfolgte Spuren, Vertuschung. Doch die Ermittler bleiben dran, spüren die Drahtzieher auf, kriegen sie jedoch nicht zu fassen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Gladio hinter den Anschlägen steckt. Zwar kommt es 1987 zum Prozess gegen 20 Angeklagte, 1995 zur Verurteilung eines Terroristenpärchens, doch inzwischen sind sie wieder frei. Auch wenn die Ermittler nicht immer ihr Ziel erreichten, so ist doch in Italien in Sachen Gladio-Aufklärung sehr viel mehr passiert als in Deutschland.
Hierzulande kommt unter anderem durch Gansers Buch wieder Bewegung in die Sache. Anlässlich des 25. Jahrestages fordert ein breites Bündnis die Wiederaufnahme der Ermittlungen und lädt für heute zu einem Aktionstag nach München ein. Von offizieller Seite wird heute wie jedes Jahr am 26. September vom Münchner Oberbürgermeister ein Kranz an der Gedenktafel niedergelegt, die recht unscheinbar am Haupteingang zur Festwiese an die Opfer des Anschlags erinnert. Ansonsten findet das Oktoberfest wie üblich statt.
Auch damals, nach dem verheerenden Anschlag, dem schlimmsten der deutschen Nachkriegsgeschichte überhaupt, wurde weitergefeiert. "Das ökonomische Prinzip siegte," so urteilte die ZEIT seinerzeit, "weil niemand da war, der den Münchnern glaubwürdig hätte versichern können, dass das Laissez-Faire keine Politik ist und auch kein Anstand."