#allesdichtmachen und das Selberdenken

Warum mein Respekt für Schauspieler nach der kontrovers diskutierten Videoaktion größer ist denn je

Zugegeben: Ich hatte nicht das allerbeste Bild vom Schauspiel. Es gibt diese philosophische Tradition der Erkenntnis, die in Kunst und Spiel einen müden Abklatsch der Wirklichkeit sieht. Und plappern Schauspielerinnen und Schauspieler ohnehin nicht nur nach, was im Drehbuch steht? Diese Meinung muss ich nun revidieren.

Doch erst noch ein paar Worte zum Kontext: Ich schreibe diesen Artikel in den Niederlanden. Man hat Angst vor illegalen Feiern am heutigen Königstag (27. April). Zum 28. April werden hier die Schutzmaßnahmen aber … gelockert! Die Ausgangssperre wird aufgehoben; man darf wieder zwei Personen am Tag zu Hause empfangen; Terrassen von Cafés und Restaurants werden wieder geöffnet; und man kann auch ohne Termin in Geschäften einkaufen. Natürlich gibt es noch nähere Details zum Abstand, der maximalen Kundenanzahl et cetera, et cetera.

Diese Änderungen wurden in einer Pressekonferenz der Regierung am 20. April angekündigt. Für die Woche vom 13. bis zum 20. April meldete da das Rijksinstituut voor Volksgezondheid (RIVM; vergleichbar dem deutschen RKI): Die Anzahl der positiven Corona-Tests stieg auf 50.026 (verglichen mit 47.178 der Vorwoche) und 10,1 Prozent aller Tests (vorher 9,6 Prozent). Die Anzahl der Neuaufnahmen im Krankenhaus hingegen sank leicht auf 1.542 (von 1.752 in der Vorwoche).

Zum Vergleich: Als man im Januar die landesweite Ausgangssperre einführte, die immerhin zu den stärksten Krawallen seit 1980 geführt hat, war die Anzahl der positiven Tests deutlich niedriger. Und als man die Maßnahmen im Februar vor Gericht verteidigte und auf die Gefährlichkeit der "britischen" Variante des Virus verwies, war die Zahl der positiven Tests noch niedriger.

Fazit: Trotz deutlich gestiegener und weiter steigenden Infektionszahlen gibt es ab übermorgen also starke Lockerungen der Schutzmaßnahmen. Wenn ich in meinem Bekanntenkreis herumfrage, wie das sein kann, bekomme ich unisono als Antwort: Die Leute hielten sich doch sowieso nicht mehr an die Regeln. Darum ziehe die Regierung jetzt nach. Aha.

#allesdichtmachen

In den deutschsprachigen Medien haben wir indes wir einmal ein Skandälchen. Rund 50 Schauspielerinnen und Schauspieler aller Geschlechter und mehrerer Ethnien haben es gewagt, ihren Mund aufzumachen. Sie haben es gewagt, der herrschenden Meinung und der herrschenden Politik zu widersprechen. Tja, da wird es wohl nichts mehr mit dem Bundesverdienstkreuz. (Sofern man nicht, wie etwa Jan Josef Liefers, bereits eines hat.)

Ich habe mir die rund 50 einminütigen Filmchen gestern alle angeschaut. Auch die, die inzwischen von der Seite allesdichtmachen.de zurückgezogen wurden; man muss ja nur lange genug suchen. Und anders als Rüdiger Suchsland, der sie aus der Perspektive eines erfahrenen Filmkritikers beurteilte, fand ich sie gar nicht "im Ganzen (…) eher dumm und gelegentlich geschmacklos".

Suchsland beschäftigt sich vor allem mit den Reaktionen in den Medien. (Was wiederum für ein paar Medienmachern auf Twitter Anlass war, die Existenzberechtigung von Telepolis anzugreifen.)

Ich greife hier nur einmal ein Gespräch von Holger Klein mit der Schauspielerin Samira El Ouassil auf Übermedien heraus. Darin heißt es, die Aktion habe vollständig versagt. Sie sei inhaltlich nicht treffend, in ihrer Form unverständlich und in ihrer Wirkung ein Affront gegen diejenigen, die am schwersten von der Pandemie betroffen sind.

O-Ton: "Am Ende schaut man sich diese 53 Videos an – und fühlt nur diesen schneidenden Effekt der Bitterkeit. Sie haben mit dem Messer nicht nur gekitzelt, wie es Künstler normalerweise machen, sondern sie haben zugestochen, in den Diskurs hineingestochen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und wir wissen am Ende nicht, wofür? Und warum? Was wollen sie denn jetzt genau?" Doch, zum Glück, es folgt Vergebung: "Wir müssen Menschen auch zugestehen, Sachen komplett falsch zu machen."

Perspektiven

So habe ich die Filme nicht wahrgenommen. Vielmehr wurden verschiedene Perspektiven eingenommen, beispielsweise von denjenigen, die in kleinen Wohnungen eingeschlossen sind und sich nicht mal so eine Villa mit mehr Bewegungsraum kaufen können; oder von denen, die aufgrund der Maßnahmen vereinsamen. Am häufigsten wurde meiner Wahrnehmung nach die scheinbare Willkür thematisiert, mit der mal Verschärfungen, mal Lockerungen beschlossen werden.

Weniger prominent, doch auch mehrmals wurde der angebliche Zwang thematisiert, sich von irgendwelchen Gruppen zu distanzieren. So machte Christian Ehrlich den Vorschlag, im Theater auf die linke Seite zu gehen, bevor man applaudiere. Und weil die linke Seite, wenn man sich umdrehe, zur rechten werde, solle man das Publikum sicherheitshalber ganz verbannen. Hanns Zischler überspitzte das so weit, dass er sich sogar von sich selbst distanziere.

Die offizielle Website endet übrigens mit dem Hashtag "#FCKNZS". Über den Videos steht jetzt zur Erläuterung: "Wenn Videos von dieser Seite verschwinden, dann heißt das nicht zwingend, dass die jeweiligen Leute sich distanzieren. Es kann genauso gut bedeuten, dass jemand sich einfach nicht in der Lage sieht, diesen Shitstorm auszuhalten, oder seine Familie schützen will." Schauspieler sind eben auch Menschen.

Selberdenken ist schwer

Sie haben nicht dazu aufgerufen, die Schutzmaßnahmen zu missachten. Sie haben nicht einmal einen Aufruf lanciert, gegen sie zu demonstrieren. Ich sehe in den Filmchen vor allem eine Aufforderung zum Selberdenken, zum Gebrauch seines eigenen kritischen Verstands. Und weil Schauspieler eben keine Philosophen sind, machen sie das beispielsweise mit dem Stilmittel der satirischen Übertreibung. Grenzt das jetzt schon an einen Staatsstreich?

Vor noch gar nicht so langer Zeit brüstete man sich noch mit Meinungsfreiheit, als es beispielsweise um diffamierende Zeichnungen eines Religionsoberhauptes ging; oder um die Beleidigung eines Staatspräsidenten als Ziegenf***. Soll die Meinung nur dann frei geäußert werden dürfen, wenn die Anderen mit der eigenen Meinung übereinstimmen? So sind die Grund- und Menschenrechte nicht gedacht!

Besonders unpassend erscheinen mir die - vorhersehbaren - Klagen, die Filmchen verhöhnten die Opfer der Pandemie. Das mit der Opferbilanz ist so eine Sache, die noch gar nicht ausgemacht ist: Zählen etwa die Menschen, die wegen herausgeschobener Behandlungen bereits gestorben sind oder noch sterben werden, nicht? In meinem Bekanntenkreis gab es gerade so einen Fall, dass ein Mann mit Darmproblemen wochenlang wegen der Corona-Maßnahmen vom Krankenhaus abgewiesen wurde.

Als der Hausarzt schließlich auf der sofortigen Aufnahme bestand und die Untersuchung erzwang – hatten sich leider schon Metastasen gebildet und war es für die Behandlung zu spät.

Was ist mit den Menschen, die unter Unsicherheit, Isolation und Einsamkeit leiden? Zählen die nicht? Oder mit denen, deren wirtschaftliche Existenz vor dem Aus steht, obwohl sie sich an alle Regeln gehalten haben? Was ist mit den Menschen, die sich aus Verzweiflung das Leben genommen haben oder jetzt daran denken?

Fakten

Vergessen wir nicht, dass die Gefahr vom Virus ausgeht. Und vergessen wir auch nicht, wie oft die regierenden Politiker schon auf dem falschen Fuß erwischt wurden: Trotz vorliegender Berichte hatte man sich nicht ausreichend vorbereitet; die Pläne mit der Corona-App waren keine Glanzleistung; die Beschaffung von Schutzmasken führte zum Debakel; und die Organisation der Schutzimpfungen ist ein europäisches Drama.

Es war vorhersehbar, dass im Superwahljahr die Schutzmaßnahmen für politische Interessen verwendet würden. Es war allenfalls zu befürchten, dass sich einige Abgeordnete persönlich an der Krise bereichern werden. Das Ausmaß, in dem das (bisher) ans Tageslicht kam, ist dennoch schockierend. Weder die Gefährlichkeit des Virus noch das Versagen der Politik ist aber den Schauspielern anzulasten.

Dystopie

Wenn jetzt, wie ebenfalls zu erwarten, Schauspielerin El Ouassil und andere der Aktion vorwerfen, "rechte Resonanzräume offenzulassen", dann kann ich mich darüber nur wundern. Wie ausdrücklich muss man sich denn noch von rechten Bewegungen distanzieren, damit es auch beim letzten Kommentator ankommt?

Das Bequeme an der Verwendung von Etiketten wie "Querdenker", "Troll" oder "Verschwörungstheoretiker" ist, dass man sich mit dem Anderen nicht mehr argumentativ auseinanderzusetzen braucht. Bedeutende Medienmacher scheinen zudem erfahrungsresistent zu sein: Als die Linkspartei neu war, hat man sie jahrelang als "Verfassungsfeinde" dargestellt. Was ist passiert? Sie wurde stärkste Oppositionsfraktion. Jahre später wurden AfD-Wähler kategorisch als Rechte oder Neonazis dargestellt. Was ist passiert? Sie ist stärkste Oppositionsfraktion.

Als gebildeter Mensch muss man doch irgendwann einmal begreifen, dass Demokratie so nicht funktioniert: Man kann große Bevölkerungsgruppen nicht auf Dauer verhöhnen und ausgrenzen. Und das ausgerechnet von denen, die sich sonst gerne den Anschein der Meinungsvielfalt geben. Wer setzt sich denn heute noch dafür ein, dass Europas Demokratien nicht bald eine Mischung aus George Orwells "Animal Farm", "1984" und Juli Zehs "Corpus Delicti" werden?

Monitor-Chef Georg Restle bemühte sich in einem Tagesthemen-Kommentar um versöhnliche Worte: #allesdichtmachen könne manche Schmerzen, viele Reaktionen seien aber überzogen.

Wenn man nicht nur anderen nach dem Mund redet, dann wird man zwangsläufig hier und da anecken. In einem vernünftigen Rahmen sollte man sich von radikalen Strömungen abgrenzen. Aber man wird nie ganz ausschließen können, dass Andere einen missverstehen, missverstehen wollen oder schlicht missbrauchen. Sollen wir darum - vorsichtshalber schweigen?

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