Nato-Russland-Rat Ende Januar: Russlands Vize-Verteidigungsminister Fomin, Vize-Außenminister Grushko und Nato-Generalsekretär Stoltenberg. Bild: Nato, CC BY-NC-ND 2.0
Reiner Schwalb über gesichtswahrende Lösungen des Konfliktes mit Russland, die Zukunft der Ukraine und wie der Zwei-plus-Vier-Vertrag heute helfen kann
Reiner Schwalb ist Brigadegeneral a.D. und ehemaliger Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau. Er ist einer der Unterzeichner eines Aufrufs von 26 ehemaligen Botschaftern und Generälen, Friedensforschern und Theologen mit dem Titel "Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland".
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Telepolis sprach mit ihm über die Frontstellung zwischen den Nato-Mitgliedsstaaten und Russland sowie Möglichkeiten zur Deeskalation.
Herr Schwalb, Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, US-Präsident Joseph Biden – sie alle drohen Russland im Falle einer wie auch immer gearteten Militäraktion gegen die Ukraine mit schweren Konsequenzen. Das wirft unmittelbar zwei Fragen auf: Wie wahrscheinlich ist ein solcher Angriff und welches Ziel hätte er?
Reiner Schwalb: Einen Angriff halte ich persönlich dann für unwahrscheinlich, wenn der Kreml wesentliche Elemente seiner schriftlichen Forderungen erfüllt sieht. Für Nato-Mitglieder stehen aber weder Artikel 10 des Nato-Vertrags noch die Charta von Paris zur Disposition.
Russland hingegen fordert genau dies: Einen rechtlich verbindlichen Vertrag, der einer weiteren Ausdehnung der Nato eine Absage erteilt. Kommt es dann also zu einem Krieg? Nicht, wenn es uns gelingt, diesen Gegensatz zu überwinden.
Mir fällt es schwer, ein für Russland sinnvolles Ziel zu finden. Also diente für mich der russische Truppenaufmarsch primär dem Ziel, dass mit Putin auf Augenhöhe verhandelt wird und sekundär, dass das Normandie-Format wiederbelebt wird. Beides hat begonnen.
Sind die Drohungen der drei genannten Nato-Mitgliedsstaaten und anderer Regierungen denn glaubhaft und – wichtiger noch – effektiv?
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Reiner Schwalb: Glaubhaft sind sie, ja, aber wenn Sie die Sanktionsdrohungen meinen, dann fällt es mir schwer zu beurteilen, ob sie effektiv sein werden. Sie werden dann nicht effektiv sein, wenn Putin nicht ein gesichtswahrendes Minimum seiner Forderungen erfüllt sieht. Hierbei geht es weniger um seine Glaubwürdigkeit gegenüber seinen Wählern als vielmehr um seine Glaubwürdigkeit gegenüber seinen Unterstützern unter den Silowiki – den mächtigen Ministerien und eigenen Geheimdiensten.
Reiner Schwalb: Da müssen Sie die Bundesregierung fragen. Aus meiner Sicht war die Energieversorgung selbst zu den kältesten Zeiten des Kalten Krieges stabil und wurde nicht als politisches Druckmittel gegenüber Europa genutzt. Warum sollte es jetzt anders sein?
Mich irritiert, dass wir – also Deutschland, die EU und die USA – damit spielen, genau dies zu machen: Energielieferung via Nord Stream 2 als politisches Druckmittel zu nutzen.
Als einfacher Staatsbürger fällt mir zudem die Widersprüchlichkeit der Argumente auf.
Die USA argumentieren mit der Energiesicherheit Europas. Falls Nord Stream 2 ans Netz ginge, würde die Abhängigkeit von russischem Gas weiter steigen und Europa würde damit erpressbar. Dies ist unlogisch.
Die USA bieten weiterhin an, den Wegfall des Nord-Stream-2-Gases durch verflüssigtes Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) zu kompensieren. Wenn dies Argument stimmt und das der Ukraine ebenso, dann würden ja die USA der Ukraine den Gashahn zudrehen.
Persönlich glaube ich allerdings, dass Nord Stream 2 kaum zu halten sein wird.
Bringt Deutschland seine historische Erfahrung ein?
Dennoch sehen Sie Deutschland in einer einzigartigen Vermittlerrolle. Wie das?
Reiner Schwalb: Aus verschiedenen Gründen: Wir haben gemeinsam mit Frankreich die Vermittlerrolle im Ukraine-Konflikt angenommen, in dem sogenannten Normandie-Format. Hier sollte die deutsch-französische Achse mit aller Energie tätig und erfolgreich sein.
Dies käme Ukraine zugute, weil der Krieg im eigenen Land beendet werden würde – auch wenn die Krim-Annexion zunächst ausgeklammert bliebe.
Es käme Russland zugute, weil es wieder normalere Beziehungen zu seinem größten direkten Nachbarn im Westen entwickeln könnte.
Und es käme Europa zugute, weil deutlich werden würde, dass wir Konflikte in Europa als Europäer lösen können.
Nur noch ein zweiter Grund; Wir könnten dafür werben, dass sich das deutsche Modell des Zwei-plus-Vier-Vertrages für die Nato und Russland als akzeptabel erweisen könnte. Es könnte eine vertraglich bindende Lösung geben, bei der wir nicht von unseren Prinzipien abweichen müssten und Russland seine Sicherheitsbedenken beachtet sähe.
Im letzten Satz von Artikel 5, Absatz 3 dieses Vertrages finden wir folgenden Passus:
Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.
Eine solche vertragliche Regelung hat dazu beigetragen, die Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands zu ermöglichen, aber keinerlei negativen Einfluss auf unsere Sicherheit gehabt, da Artikel 5 des Nato-Vertrags, nach dem "ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird" seine Gültigkeit behielt.
Könnte dies nicht als Grundlage für zukünftige mögliche Beitrittskandidaten formuliert werden und könnten nicht wir, mit unseren positiven Sicherheitserfahrungen, dafür werben?
Unter diesen Rahmenbedingungen würde auch künftigen Mitgliedern der Nato die notwendige Sicherheit geboten. Gleiches könnte und müsste man aber auch von Russland hinsichtlich der Stationierung russischer Truppen in Belarus fordern. Deutschland könnte also mit seinen eigenen Erfahrungen als Werber für Lösungen auftreten.
Das Normandie-Format hat als Ad-hoc-Instrument aber nur überschaubare Resultate gebracht, der "Strategische Kompass" der EU, ein auch auf deutsche Initiative initiiertes sicherheits- und verteidigungspolitisches Grundlagendokument, ist noch in der Schwebe. Welches Gewicht hat Deutschland?
Reiner Schwalb: Das kann ich nicht beurteilen. Während meiner Zeit in Moskau von 2011 bis 2018 war mein Eindruck, dass Russland sehr großen Wert auf deutsche Positionen legte. In Europa ist unser Gewicht trotz manch anderslautender Meldung auch nicht zu vernachlässigen. Dennoch, auf strategischer Ebene wird der Kreml nur mit dem Weißen Haus sprechen wollen.
Einflusssphären sorgen nicht für Stabilität
Politische Gespräche haben im Januar kein Ende der zunehmenden Spannungen zwischen dem Westen und Russland gebracht. Indes wurden aus sicherheitspolitischen Kreisen mehrere Appelle lanciert. Wie groß ist die Unruhe im Militär, Sicherheitspolitik und Diplomatie?
Reiner Schwalb: Das russische Handeln, das ja nicht erst seit der Krim-Annexion von manchen Politikern und Experten als aggressiv angesehen wird, hat natürlich mit der jetzigen Truppenverstärkung die Debatte um einen Umgang mit Russland neu belebt, der den eigenen deutschen Interessen gerecht wird. Ich halte dies weniger für Unruhe als für nachvollziehbares Ringen um den richtigen Weg – intern und mit unseren Partnern.
Zahlreiche westliche Beobachter haben dem russischen Präsidenten Putin vorgeworfen, eine Rückkehr zur Politik der Einflusssphären anzustreben. Trifft das zu?
Reiner Schwalb: In gewissem Sinne ja. Sicherheitspolitisch will Russland sicherstellen, dass es keine zusätzlichen militärischen Einrichtungen, insbesondere keine US-Stationierungen, in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gibt.
Sind Einflusssphären aber nicht geopolitische Realität? Oder könnten morgen die Russen Raketensysteme und Truppen in Kuba und Venezuela stationieren?
Reiner Schwalb: Die Geschichte Europas hat doch gezeigt, dass Sicherheitszonen, festgeschriebene Einflusssphären, langfristig nicht zu mehr Stabilität, sondern zu neuen Konflikten geführt haben. Die europäische Sicherheitsarchitektur hingegen, so wie auch in der Charta von Paris neu betont, hat sich grundsätzlich bewährt.
Elemente wie gleiche Sicherheit, Selbstbestimmungsrecht der Staaten, Multipolarität, Achtung der Menschenrechte sind doch gut. Deswegen haben wir in unserem Aufruf auch für eine Wiederbelebung plädiert. Wenn man auf der Arbeitsebene nicht weiterkommt, muss man sich hochrangig treffen.
Warum, denken Sie, ist es so schwer, einen realpolitischen Ausweg aus der verfahrenen Lage zu finden?
Reiner Schwalb: Zu viel wird von Spitzenpolitikern in der Öffentlichkeit diskutiert. Das erscheint in unserer offenen Gesellschaft zwar wichtig. Damit fällt es aber beiden Seiten schwerer, gesichtswahrende Kompromisse zu finden.
Gesichtswahrend erscheint mir in der jetzigen Situation nur ein Ausweg: Sowohl die USA, die Nato, die EU und die Ukraine als auch Russland müssen Erfolge für sich reklamieren können.
In solchen Situationen sollte man offen reden, nicht aber öffentlich. Dies gilt auch für die interne Abstimmung in Nato und EU. Da wir militärische Lösungen ausgeschlossen haben, ist die Kreativität der Diplomatie gefragt.
Wie bei allen großen Kontroversen ist auch die Debatte über Russland stark polarisiert. Wie sind Ihre Erfahrungen in sicherheitspolitischen Kreisen, welche Reaktionen haben Sie nach der Mitzeichnung des Aufrufs "Raus aus der Eskalationsspirale" erfahren?
Reiner Schwalb: Es gab positive und negative Reaktionen. Da unser Ziel war, die Debatte neu zu beleben, kann man feststellen, dass dies auch mit konkreten Vorschlägen geschehen ist. Mit Argumenten sollten wir uns rational und realpolitisch auseinandersetzen.
Wenig hilfreich sind Emotionalisierungen und Kategorisierungen wie "naive Russland-Versteher" gegen "ewiggestrige Kalte Krieger". Dafür sind das Thema und auch die jetzige Lage zu wichtig. Empörung ist für Betroffene zwar gerechtfertigt, scheint mir aber ein schlechter Ratgeber für eine Konfliktlösung zu sein.
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