... die im Dunkeln sieht man nicht
Alle Augen schauen auf Hartz IV, doch der eigentliche Angriff auf Sozialstaat und Bürgerrechte findet woanders statt
“Im Osten lärmen, im Westen angreifen” lautet eines der 36 Strategeme der Kriegskunst, die heute zum kleinen Einmaleins der Manager und Unternehmensberater gehört. Deutschland braucht “einen Turnarround, eine grundlegende Reform, die wehtut”, wissen die Rationalisierer von McKinsey - und wir wissen schon, wem es regelmäßig wehtut, wenn McKinsey auftaucht.
Den medienwirksam inszenierten Großangriff auf den Sozialstaat, an dem McKinsey maßgeblich beteiligt war, kennen wir unter dem Namen Hartz IV. Doch da geht inzwischen nichts mehr. Wer sich hier rührt, das weiß jeder Pop-Politiker, der wird zerpflückt.
Während sich also mal wieder in Deutschland scheinbar gar nichts mehr bewegt, geht im Schatten von Hartz IV ein Gespenst um, dessen Auftauchen wir nicht einmal in unseren düstersten Visionen erahnten: die Rede ist von “Lebensmittelarmut”, von Hunger überall in Deutschland. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch, hat uns Hölderlin nachhaltig eingeprägt. Auch diesmal naht Rettung, zwar nicht von Politikern oder von traditionellen Wohlfahrtsverbänden, sondern ausgehend von einer einfachen Idee, welche binnen weniger Jahre die “größte soziale Bewegung Deutschlands” entfachte. So jedenfalls heißt es in der Gründungslegende der Tafel.
Wir hören Heinz Walter, Küchenleiter der Kantine der Aachener Agentur für Arbeit:
Ich war immer der Meinung, dass nur in der dritten Welt, bzw. in Afrika Hunger gelitten wird, aber nicht hier vor der Haustür. Das will mir nicht in den Kopf rein, das kann einfach nicht sein.
Herr Walter kocht in Reaktion auf einen WDR-Fernsehbericht nun täglich 20-25 Essen zusätzlich, die dann von der Aachener Tafel an eine Grundschule geliefert werden. In dem Folgebeitrag des WDR-Fernsehens berichtet Jutta Schlockermann, Vorsitzende der Aachener Tafel, von Kindern, “die kein Essen haben, während der Mittagspause, während der Frühstückszeit und auch am Abend”.
Genau wie ihr Bundesverband in Berlin, hat auch die Aachener Tafel ihre Gründungslegende. “Wir konnten die Not in unserer Nachbarschaft nicht mehr sehen”, heißt es auf der Homepage. Und “die überquellenden Abfall-Container an manchen Supermärkten auch nicht".
Das klingt erfrischend spontan, basisdemokratisch und einleuchtend. Allein: im Zusammenhang mit einer scheinbar von unten kommenden spontan entstandenen sozialen Bewegung fällt zunächst deren Professionalität auf. So hat der Bundesverband der Tafeln acht Grundsätze festgelegt, die für alle Filialen in Deutschland verbindlich sind und sich “Tafel”, verbunden mit der Androhung von strafrechtlichen Konsequenzen bei Markenmissbrauch, schützen lassen.
Auch die Internetauftritte der Tafeln sind, während viele Vereine und selbst mittelständige Unternehmen immer noch selbst gebastelte Seiten für ausreichend halten, durchweg professionell unter Beachtung der Corporate Identity gestaltet. Der Gesamteindruck erinnert eher an ein Franchise-Konzept nach Art von McDonald’s als an altbekannte Bürgerinitiativen oder Friedensgruppen. Wer steckt wirklich hinter der erfolgreichen Markteinführung der Tafel®?
First we take Manhatten...
Sabine Werth , die zusammen mit anderen Berliner Frauen irgend etwas für Obdachlose tun wollte, so heißt es, las 1993 zufällig einen Artikel über die New Yorker Organisation City Harvest.
Es war das Jahr, in dem Bill Clinton Präsident, Scharping erstmal Kanzlerkandidat wurde und in dem Oscar Lafontaine Unterweltkontakte vorgeworfen wurden. Die deutsche Öffentlichkeit war entsetzt vom fremdenfeindlichen Brandanschlag in Solingen.
Und in Berlin überzeugte Frau Werth ihre Freundinnen davon, das Leitmotiv einer New Yorker Charity-Resteverwertung zu übernehmen:
Millions of pounds of good, edible food are thrown away each year by New York City food businesses. At the same time, an estimated 1.6 million people are hungry, one third of them children. City Harvest is the link between those who have so much and those who have too little.
Man kann es kaum glauben. Noch nicht einmal drei Jahre nach der Wiedervereinigung waren ja die meisten Wessis noch stolz und die meisten Ossis versessen auf unsere blühenden Landschaften. Man war entsetzt, wenn man gehört hat, dass im reichen Amerika angeblich Menschen nicht genug zu essen hätten. Aber mal ehrlich: Wer hätte es damals schon für möglich gehalten, dass es ein halbe Jahrhundert nach der Luftbrücke hungernde Berliner gibt, und wer wäre darauf gekommen, ihnen Lebensmittelpakete zukommen zu lassen? Für soviel Kreativität hat Frau Werth das Bundesverdienstkreuz, das ihr 2003 verliehen wurde, wohl verdient.
... then we take Berlin
Jedenfalls soll der Aufbau einer deutschen Tafellandschaft zunächst nicht so toll geklappt haben. Glücklicherweise tauchte dann irgendwann Hilfe von einem global vernetzen Beraterkonzern auf, der bisher eher im Zusammenhang mit Massenentlassungen bei DAX-Unternehmen, Vorschlägen zum Sozialabbau und Sonderförderung für die Eliten bekannt war als für die Unterstützung “sozialer Bewegungen”.
Die Konzernzentrale dieser Beratergruppe, bei der man trotz weltweiter Verzweigung viel Wert darauf legt, eine geschlossene Gesamtfirma zu bilden, hat ihre Zentrale in New York - genau wie City Harvest. Da war es nahe liegend, einmal nachzuschauen, ob vielleicht auch die amerikanische Mutter der deutschen Tafelidee Unterstützung durch McKinsey erfahren hat. - Sie hat. Solche McKinsey-Leitfäden zur Gründung und zum Management von Tafeln, gehören in jeder deutschen Tafelfiliale zur Standardausstattung.
Einmal auf dieser Spur zeigt sich eine Einflussnahme von McKinsey in einem Umfang, der den Verdacht entstehen lässt: Ist McKinsey womöglich der eigentliche Initiator der “internationalen Tafellandschaft”? Müssen wir nach McDonalds Fastfood bald mit McKinseys Junkfood für Bedürftige weltweit rechnen?
Zum Beispiel die Schweiz: Hier wollte Bankiersgattin Yvonne Kurzmeyer Gutes tun und kam auf die Idee, eine Tafel nach New Yorker und Berliner Vorbild zu gründen. Mit 600.000 Franken von ihrem privaten Geld gründete sie die Stiftung “Hoffnung für Menschen in Not”. Und weiter heißt es in der Schweizer Gründungslegende:
Dank guten Kontakten zur Wirtschaft konnte Kurzmeyer die Unternehmensberater-Firma McKinsey motivieren, ein für die Schweiz zugeschnittenes Handbuch zum Betrieb einer Tafel zu entwickeln.
Auch in Kanada und Österreich berät McKinsey die Tafeln. Eindeutig klar ist also: McKinsey ist das internationale Bindeglied zwischen den nationalen Tafelgesellschaften.
Nun wird sich wohl kaum ein Beweis dafür erbringen lassen, dass McKinsey der eigentliche Initiator der Tafeln ist. Folgt man Foucaults Machttheorie, wie er sie im ersten Band von “Sexualität und Wahrheit”, in “Der Wille zum Wissen”, entwickelt, dann ist eine eindeutig identifizierbare Zentralmacht analog zum fürstlichen Souverän bei Machiavelli, nach der noch jede Verschwörungstheorie sucht, unter den gegenwärtigen Bedingungen globaler Herrschaft des Kapitals weder wahrscheinlich, noch ist es notwendig, um dann, in einem zweiten Schritt, dieses souveräne Subjekt nach der Intention dieser Macht befragen zu können.
Für die Tafelentwicklung erleichtert das Wissen um die intensive Einflussnahme von McKinsey das Erkennen ihrer teilweise noch verborgenen Intention: dass sie genau auf den Turnaround zusteuert, den McKinsey immer wieder fordert, nämlich die massive Einschränkung des staatlichen Geldtransfers auf der Grundlage von Bürgerrechten. Statt Geld mit Bürgerrechtsanspruch gibt es großzügige private Spenden an die Bedürftigen auf Grundlage der Menschenrechte.
Aber es ist keineswegs so, dass es hier eine klare Frontlinie gibt zwischen einem Regime, das diese Macht von oben erzwingen will, und einem Widerstand, der sich von unten dagegenstemmt. “Macht ist unten” sagt Foucault.
Tafeln hebeln deutsches Recht aus
In Aachen haben wir gesehen, wurde die Tafel vom Leiter des Sozialamtes angeregt. In Bochum dagegen hat der Leiter der Bezirksverwaltung Wattenscheid versucht, der Tafelmacht Widerstand entgegenzusetzen, indem er in einem Fernsehinterview angekündigt hat, schlicht und ergreifend die geltenden Gesetze anzuwenden und das bedeutete immerhin noch bis zum 16. Juni 2005, dass Sachleistungen auf den Hilfebedarf angerechnet werden - müssen! Mit anderen Worten: Aus dem verführerischen Angebot der Tafeln, kostenloses Essen zusätzlich zum staatlichen Geldtransfer zur Grundversorgung zu verteilen, wäre die Alternative geworden: Fütterung mit Lebensmittelpaketen statt Geld für den Supermarkteinkauf.
Das Anwenden dieses im Übrigen das gesamte Sozialrecht wesentlich bestimmenden Subsidiaritätsprinzips, nach dem eben - vereinfacht gesagt - nur der vom Staat versorgt werden soll, der nicht von anderer Seite schon genug bekommt, hätte natürlich das sofortige Aus der Tafeln nach sich gezogen. Man darf wohl unterstellen, dass genau das die Absicht dieses mutigen Menschen war. Denn dass es sich hier nicht um einen dummen Paragrafenreiter gehandelt hat, wird durch die Begründung sofort deutlich: Man habe schließlich kein Sozialsystem wie in Amerika, sagte er vor laufender Kamera.
Aus dem entblößten Blickwinkel des nur noch bedarfsorientierten Lebens, des Bedürftigen, wie er in der Tafelbewegung genannt und genormt wird, aus diesem bedürftigen Blick heraus, repräsentiert natürlich dieser Beamter die Staatsmacht, die ihm, dem kleinen Mann, noch das letzte Butterbrot nicht gönnt. Und die prompte Reaktion von höherer Verwaltung und Politikern, dieser Beamte habe “absoluten Quatsch” erzählt und natürlich würde die Tafelspende nicht auf die Sozialhilfe angerechnet, beruhigt diesen bedürftigen Blick, während es uns gerade in Unruhe versetzt und zeigt, welch enorme Macht die Tafel ist. Das, was sich Verwaltungsspitze und Politiker da geleistet haben, nennt man nach meinem Rechtsempfinden Nötigung zur Veruntreuung.
Und die Klarstellung, um die der Vorsitzende eines Unterausschusses im Bundestag gebeten hat, dass ja wohl mit “anderweitiger Bedarfsdeckung” nicht die Lebensmittel der Tafeln gemeint wären, wird in einer späteren Phase natürlich als “zum Missbrauch von staatlichen Leistungen geradezu einladende Gesetzeslücke” bezeichnet und gestrichen werden. Oder aber der Geldbetrag wird nach und nach immer geringer ausfallen. Schließlich ist es gerade noch genug für Zigaretten. Dann aber muss man ja schon aus Verantwortung für die Gesundheit der Schutzbefohlenen heraus auch diesen Betrag streichen. Nein, das wird nicht zynisch klingen, eher schon eine Argumentation, die dem Bedürftigen eine Entscheidungskompetenz unterstellt, die man nicht voraussetzen darf, die also zu seinem Tode führen würde.
Jedenfalls sehen wir also eine Welle der Hilfsbereitschaft auf uns zurollen, die täglich größer wird. Aktuell zum Beispiel durch die Gründung von so genannten Foodbanks auch in Deutschland, die logistisch auf riesige Mengen minderwertiger Lebensmittel ausgerichtet werden und durch die der Lebensmittelausstoß der lokalen Tafeln, die ihren Umsatz längst in Tonnen messen, um ein Vielfaches wachsen wird.
Geostrategie von Biopolitik: Noch ist Deutschland ein weißer Fleck auf der Karte der “European Federation of Food Banks”. Doch die Gründung wird gegenwärtig von den Tafeln mit Hochdruck betrieben. Wir ahnen, wie diese Welle der Hilfsbereitschaft den Sozialstaat unter sich begraben wird.