"... im Grunde ein Krieg zwischen den USA und Russland"
Die US-Regierung beharrt darauf, die Ukraine in die Nato aufzunehmen und Russland in die Knie zu zwingen. US-Experten warnen vor den Folgen
Russlands Ukraine-Krieg ist illegal, aber für die seit 2014 andauernde und immer bedrohlicher werdende Ukraine-Krise ist der Westen verantwortlich, sagt der renommierte US-Politologe John Mearsheimer von der Universität Chicago. Ähnlich hatte ich in meinem Telepolis-Artikel "Ukraine-Krise als "umgekehrte Kuba-Krise" argumentiert.
Darin habe ich auch meine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass der Ukraine-Konflikt nicht "bis zum letzten Ukrainer" weitergeführt wird, sondern möglichst bald nach einem Waffenstillstand durch einen Friedensvertrag zu einem Ende kommt, der auch den berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung trägt.
Trotz mehrerer Verhandlungsrunden zwischen Vertretern Russlands und der Ukraine ist ein solches Friedensabkommen aber nicht in Sicht. Stattdessen bereiten Berlin und die EU neue Waffenlieferungen an die Ukraine vor und ein Ex-US-Diplomat urteilt, der Westen favorisiere zwecks Schwächung Russlands einen langen Krieg, sodass dieser schreckliche Krieg "bis zum letzten Ukrainer" weitergehen könnte.1
Eine Zeit des kollektiven Wahnsinns
Ein Freund schrieb mir nach der Lektüre meines Artikels: "Wir sind ja nicht nur, wie sonst auch, in einer normal verrückten Zeit, sondern mittlerweile in einer Zeit des kollektiven Wahnsinns eingetreten, in der der Blick für elementare Aspekte der Realität nahezu vollständig verloren gegangen ist."
Und weiter: "Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass ein Politologe aus dem politologischen US-Establishment wie Mearsheimer angesichts des kollektiven Wahnsinns unter den Intellektuellen als eine der wenigen Stimmen der Vernunft erscheint." Hinzu fügte er noch ein Link zu einem Video-Vortrag (von Minute 3.15 bis 18.20), den Mearsheimer bei einer Veranstaltung des "American Committee for US-Russia Accord" (Acura) am 7.4.2022 gehalten hat.
Die Moderatorin dieser Veranstaltung in den USA war Katrina vanden Heuvel, eine bekannte US-Publizistin, von der die schöne Formulierung stammt, dass "die Nato jetzt weitgehend existiert, um die Risiken zu bewältigen, die durch ihre Existenz entstanden sind".
Das muss heute wohl eher als Verniedlichung erscheinen, da die Nato gerade wieder zeigt, was eigentlich schon seit 1999 hätte erkennbar sein müssen: Dass sie nämlich das aggressivste Militärbündnis der Welt ist und uns nun an den Rand oder in den 3. Weltkrieg treibt.
Mearsheimer hat bei dieser Veranstaltung einen kurzen Vortrag gehalten, der deshalb so wichtig ist, weil er noch einmal in eindrucksvoller Weise die Vorgeschichte und die Hintergründe des Ukraine-Krieges in 15 Minuten zusammenfasst und aufzeigt, welche bedrohlichen Aussichten der Ukraine-Krieg für uns alle noch bereithalten könnte.
Acura hat am 18.4.2022 ein Transkript von Mearsheimers Präsentation veröffentlicht, das (mit einigen kleinen Kürzungen) die Grundlage des folgenden Textes ist (Übersetzung und Zwischenüberschriften durch mich, KDK).
"Es ist die gefährlichste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg"
John Mearsheimer: Vielen Dank für die Einladung. Ich stimme übrigens dem zu, was Sie gesagt haben, Katrina, als Sie sagten, dass dies die gefährlichste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ist. Ich denke, sie ist tatsächlich gefährlicher als die Kuba-Krise, wobei ich die Gefahr dieser Krise nicht vermindern will.
Aber ich denke, im Grunde haben wir es hier mit einem Krieg zwischen den USA und Russland zu tun, und es ist kein Ende in Sicht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das in naher Zukunft enden soll. Und ich denke, es gibt eine sehr gefährliche Möglichkeit der Eskalation. Erstens, eine Eskalation dorthin, dass die Vereinigten Staaten tatsächlich mit Truppen gegen Russland kämpfen, die beiden Seiten stoßen militärisch zusammen, was bisher nicht geschehen ist.
Und ich denke, in diesem Fall besteht die ernsthafte Gefahr einer nuklearen Eskalation. Ich sage nicht, dass das wahrscheinlich ist, aber ich könnte Geschichten darüber erzählen, wie das tatsächlich passieren könnte.
"Wie sind wir in diesen Schlamassel geraten?"
Die Frage ist also, wie wir in diesen Schlamassel geraten sind. Woran liegt das? Und der Grund, warum es sehr wichtig ist, sich mit diesem Thema zu befassen, ist, dass wir nur dann die russische Denkweise verstehen können.
Wenn man verstehen will, wie die Russen über diese Krise denken, muss man die Ursachen verstehen. Nun, die Mainstream-Ansicht, die ich natürlich ablehne, ist, dass Wladimir Putin entweder ein geborener Aggressor ist oder er entschlossen ist, die Sowjetunion oder eine Version der Sowjetunion wiederherzustellen. Er ist ein Expansionist, er ist ein Imperialist und damit basta.
Ich denke, dieses Argument ist falsch und meine Ansicht ist, dass es hier tatsächlich um die Bemühungen des Westens geht, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an den Grenzen Russlands zu machen.
Und das Schlüsselelement in dieser Strategie ist natürlich die Nato-Osterweiterung. Und in meiner Geschichte geht alles auf die Entscheidung vom April 2008 auf dem Nato-Gipfel in Bukarest zurück, wo gesagt wurde, dass sowohl Georgien als auch die Ukraine Teil der Nato werden würden.
Die Russen machten damals ganz offenkundig deutlich, dass dies für sie inakzeptabel ist, dass weder Georgien noch die Ukraine ein Teil der Nato werden würden. Und tatsächlich machten die Russen deutlich, dass sie diese Nato-Erweiterungen als eine existenzielle Bedrohung betrachten.
Was bedeutet "eine existenzielle Bedrohung für Russland"?
Essenziell ist, zu verstehen, was diese Worte bedeuten. Aus russischer Sicht wurde die eventuelle Nato-Aufnahme der Ukraine von Anfang an als eine existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Viele Menschen im Westen glauben nicht, dass es eine existenzielle Bedrohung für die Russen ist, aber was sie glauben, ist hier irrelevant, denn das einzige, was zählt, ist, was Putin und seine russischen Mitbürger denken, und sie denken, dass es eine existenzielle Bedrohung ist.
Nun, um ehrlich zu sein, auch ich denke, dass die Beweise überwältigend sind, dass die Ukraine-Krise nicht von einem Putin verursacht worden ist, der als Imperialist handelt, sondern dahinter steckt die Nato-Osterweiterung.
Wenn man sich Putins Rede vom 24. Februar ansieht, in der er rechtfertigt, warum Russland in die Ukraine einmarschiert ist, dreht sich alles um diese Nato-Erweiterung und die Tatsache, dass sie von ihm als existenzielle Bedrohung für Russland wahrgenommen wird.
Wenn man sich den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine ansieht, kann man nur schwer argumentieren, dass die Russen entschlossen sind, die Ukraine zu erobern, zu besetzen und in ein Großrussland zu integrieren.
Wenn man Selenskyj zuhört, was er über eine mögliche Lösung sagt, dann spricht er als Erstes über die Schaffung einer neutralen Ukraine. Das sagt Ihnen, dass es hier wirklich nur um die Nato-Osterweiterung und die ukrainische Neutralität geht. Ferner gibt es keine Beweise dafür, dass Putin gesagt hat, dass er die Ukraine tatsächlich zu einem Teil Russlands machen will.
Auch gibt es keine Beweise dafür, dass Putin gesagt hat, dass dies machbar wäre und dass er beabsichtigt, es zu tun. Keine Frage, in seinem Herzen möchte er, dass die Ukraine ein Teil Russlands wird. In seinem Herzen würde er wahrscheinlich auch gerne sehen, dass die Sowjetunion zurückkommt. Aber wie er offensichtlich deutlich gemacht hat, ist das nicht möglich, und jeder, der so denkt, denkt nicht geradeaus.
Das hat er in der Tat zum Ausdruck gebracht. Deshalb möchte ich, dass man mir Beweise vorlegt, aus denen sich ergibt, dass das, was er tatsächlich in Bezug auf die Formulierung der Politik tut, der Versuch ist, ein Großrussland zu schaffen oder die Sowjetunion wiederherzustellen.
All dies bedeutet: Wenn Sie, wie ich, glauben, dass Putin einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist, dann bedeutet das tatsächlich, dass er dies als Bedrohung für das Überleben Russlands ansieht. Und wenn er sich in einer solchen Situation befindet, darf er nicht verlieren. Wenn man sich einer existenziellen Bedrohung gegenübersteht, verliert man nicht. Man hat keine Wahl. Man muss gewinnen.
"Wir haben beschlossen, Russland in der Ukraine zu besiegen"
Nun, das bringt uns zur amerikanischen Seite. Was machen die Amerikaner? Was wir tun, was wir nach dem Ausbruch der Krise am 22. Februar 2014 (dem Maidan-Putsch, Ergänzung durch mich, KDK) getan haben, ist, dass wir unsere Anstrengungen verdoppelt haben.
Wir haben beschlossen, dass wir Russland in der Ukraine besiegen werden. Wir sind dabei, den Russen in der Ukraine eine entscheidende Niederlage beizubringen. Und gleichzeitig werden wir ihre Wirtschaft strangulieren. Wir werden böse Sanktionen gegen sie verhängen und wir werden sie in die Knie zwingen. Mit anderen Worten, wir werden gewinnen und sie werden verlieren.
Weiterhin haben die Biden-Administration und der Präsident selbst enorme Anstrengungen unternommen, um die Propaganda zu verstärken und die Russen als die Quelle allen Übels und uns als die Guten darzustellen. In den Köpfen der Menschen soll der Eindruck entstehen, dass hier eine Situation entstanden ist, die sich nicht für Kompromisse eignet, weil man keine Kompromisse mit dem Teufel eingehen kann. In der Tat, was hier getan werden muss, ist, dass wir gewinnen müssen.
"Keine Lösung der Krise in Sicht"
Nun, Sie werden wissen, dass es eine verheerende Niederlage für Joe Biden wäre, wenn die Russen diesen Krieg gewinnen würden. Und natürlich, wie ich Ihnen gerade sagte, müssen sie aus russischer Sicht diesen Krieg gewinnen, weil dies eine existenzielle Bedrohung ist, der sie gegenüberstehen.
Die Frage, die Sie sich dann stellen sollten, ist, wie geht das auf? Beide Seiten müssen gewinnen. Aber es ist unmöglich, dass beide Seiten gewinnen, nicht, wenn man an die Situation denkt, mit der wir hier konfrontiert sind. Wie bekommen wir also eine Verhandlungslösung? Ich sehe es einfach nicht.
Ich sehe nicht, dass die Russen eine sinnvolle Grundlage für eine Lösung haben, und die gleiche Situation sehe ich für die Amerikaner. Was wird also wahrscheinlich passieren?
Auf unserer Seite und sogar auf der russischen Seite wird jetzt davon gesprochen, dass dieser Krieg noch Jahre andauern wird. Mit anderen Worten, wir werden einen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland haben, der Jahre andauern wird.
"Eine militärische Konfrontation zwischen USA und Russland droht"
Nun, ich meine, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Kämpfe direkt verwickelt sind, aber wir sind so nahe wie möglich daran, um involviert zu sein. Und dann fängt man an, sich selbst zu sagen, ist es nicht möglich, dass wir hier hineingezogen werden?
Es gibt einen enormen politischen Druck auf die Biden-Administration, dass wir aus humanitären Gründen die Flugverbotszone einführen sollen, und so weiter und so fort.
Bisher war Biden in der Lage, diesem Druck zu widerstehen, aber wird er in der Lage sein, das für immer durchzuhalten? Und was ist, wenn es zu einem militärischen Zwischenfall kommt, der uns in die Kämpfe hineinzieht?
Wir könnten also sehr wohl in eine Situation geraten, in der die Vereinigten Staaten und Russland in der Ukraine gegeneinander kämpfen. Dann stellt sich die Frage einer eventuellen nuklearen Eskalation.
Ich denke zuallererst, wenn die Vereinigten Staaten in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden und es ein konventioneller Krieg in der Ukraine oder zu einem Luftkrieg in der Ukraine kommt, werden die Vereinigten Staaten den Sieg davontragen.
Wenn die Ukrainer militärisch so gut, wie bisher, gegen die Russen standhalten, können Sie sich vorstellen, wie viel besser die Amerikaner bei Gefechten in der Luft und sogar am Boden abschneiden werden, oder?
"Die Gefahr, dass auch Atomwaffen eingesetzt werden, wächst"
Halten Sie es in dieser Situation nicht für möglich, dass Russland sich Atomwaffen zuwendet? Ich denke, es ist möglich. Ich habe viel Militärgeschichte studiert. Ich habe die japanische Entscheidung studiert, die Vereinigten Staaten 1941 in Pearl Harbor anzugreifen. Ich habe die deutsche Entscheidung studiert, den Ersten Weltkrieg während der Julikrise 1914 (Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo, Ergänzung von mir, KDK) zu beginnen. Ich habe mir die ägyptische Entscheidung angesehen, Israel 1973 anzugreifen.
Das sind alles Fälle, in denen die Entscheidungsträger das Gefühl hatten, in einer verzweifelten Situation zu sein, und sie alle verstanden, dass sie auf sehr entscheidende Weise die Würfel warfen und eine unglaublich riskante Strategie verfolgten, aber sie hatten einfach das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Sie fühlten, dass ihr Überleben auf dem Spiel stand.
Worüber wir hier sprechen, ist, sich ein Land wie Russland vorzustellen, das denkt, dass es einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist, das denkt, dass sein Überleben auf dem Spiel steht, und wir treiben es in die Ecke. Wir sprechen davon, es zu zerstören. Wir sprechen davon, es nicht nur in der Ukraine zu besiegen, sondern es auch wirtschaftlich zu ruinieren.
Dies ist eine extrem gefährliche Situation, und ich finde es ziemlich bemerkenswert, dass wir dieses ganze Thema so leichtfertig angehen. Und übrigens, ich denke, dass vieles davon damit zu tun hat, dass so viele Menschen, die heute über dieses Problem nachdenken, in einer unipolaren Welt (nach 1991, Ergänzung von mir, KDK), und nicht während des Kalten Krieges aufgewachsen sind, in der wir lange und intensiv über den Atomkrieg nachgedacht haben.
Wir haben ebenfalls eine lange Zeit über die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen nachgedacht und darüber, wie diese zu einem Atomkrieg führen könnten. Menschen, die in der unipolaren Welt aufgewachsen sind, verhalten sich viel unbekümmerter in Bezug auf diese Themen. Und ich denke, das bedeutet eine sehr gefährliche Situation.
Nun möchte ich noch anmerken, dass selbst, wenn die Russen und die Amerikaner am Ende nicht gegeneinander kämpfen, aber die Ukrainer in der Lage sind, die Russen in der Ukraine zum Straucheln zu bringen und ihnen bedeutende Niederlagen beizubringen, die Russen immer noch zu Atomwaffen greifen könnten. Es ist möglich. Ist das wahrscheinlich? Nein, aber es ist möglich. Und das macht mir große Angst und es sollte die meisten Amerikaner und sicherlich die meisten Europäer erschrecken.
All dies soll also sagen, wenn ich mir heute die Beziehungen zwischen den USA und Russland anschaue, denke ich, dass wir uns tatsächlich im Krieg miteinander befinden. Obwohl die Amerikaner derzeit nicht gegen die Russen auf dem Schlachtfeld kämpfen, ist dies eine sehr gefährliche Situation.
"Wir werden den Ukrainern nicht erlauben, mit Russland einen Deal abzuschließen"
Und was ist nun mit der Ukraine? Haben die Ukrainer keine eigenständige Handlungsfähigkeit? Denn schließlich ist es ihr Land, das zerstört wird.
Man könnte argumentieren, dass der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen. Und das Endergebnis ist dann, dass die Ukraine tatsächlich als Land zerstört wird. Ist es angesichts der Tatsache, dass sie eine Entscheidungsfreiheit haben, nicht möglich, dass die Ukrainer selbst sagen, genug ist genug, und dem ein Ende setzen?
Ich glaube leider nicht, dass das der Fall sein wird. Und ich denke, Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten den Ukrainern nicht erlauben werden, einen Deal abzuschließen, den die Vereinigten Staaten für inakzeptabel halten.
Die Washington Post hatte am Montag einen Artikel veröffentlicht, der sehr deutlich machte, dass die Regierung und unsere Nato-Verbündeten sehr besorgt darüber sind, dass die Ukrainer einen Deal mit den Russen abschließen könnten, der es so aussehen lässt, als hätten die Russen gewonnen, oder der tatsächlich zugibt, dass die Russen zumindest bis zu einem gewissen Grad gewonnen haben.
Wir wollen nicht, dass das passiert. Wie ich bereits sagte, ist die Biden-Administration darauf aus, Russland eine entscheidende Niederlage zuzufügen. Wenn die Ukrainer beschließen, einen Deal abzuschließen und Russland zu erlauben, in einem gewissen Sinne den Krieg für sich zu entscheiden, werden die Amerikaner sagen, dass das inakzeptabel ist.
Und die Amerikaner könnten mit den rechten Nationalisten in der Ukraine zusammenarbeiten, um Selenskyj oder seinen Nachfolger zu stürzen. Ich sehe also keine Möglichkeit, wie die Ukraine von sich aus eingreifen und dieser Krise ein Ende setzen kann. Ich sehe einfach, wie der Krieg immer weitergeht.
"Nato-Osterweiterung ein tragischer Fehler"
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass George Kennan in den späten 1990er-Jahren sagte, dass die Nato-Erweiterung ein tragischer Fehler sei und dass sie zum Beginn eines neuen Kalten Krieges führen würde. Zuerst sah es so aus, als hätte er sich geirrt. Wir hatten 1999 die erste Welle der Nato-Osterweiterung und sind damit durchgekommen. Wir hatten 2004 die zweite Welle der Osterweiterung und sind damit auch durchgekommen.
Aber als dann im April 2008 bei der Nato die Entscheidung für eine dritte Erweiterungswelle getroffen wurde, die Georgien und die Ukraine umfassen würde, war es ziemlich klar, dass wir den Bogen überspannt haben und zu weit gegangen sind. Und das Endergebnis, das muss ich leider sagen, ist, dass ich denke, dass sich Kennans Prognose als richtig erwiesen hat.
John Mearsheimer
"Der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik seit 1945"
Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit dem Hinweis, dass außer Mearsheimer noch eine Reihe weiterer prominenter US-amerikanische Politiker und Wissenschaftler sich in den letzten Jahrzehnten entschieden gegen eine Nato-Osterweiterung ausgesprochen haben, weil sie die heraufziehenden damit verbundenen Gefahren erahnten, wie Christian Müller in einem eindrucksvollen Artikel zusammengestellt hat.2
Dazu gehörte der von Mearsheimer genannte George F. Kennan, ein hochgebildeter, neben seiner Muttersprache Englisch auch Deutsch und Russisch sprechender Historiker und Diplomat, der selber von 1933 bis 1937 in der US-Botschaft in Moskau im Einsatz war, und der am 5. Februar 1997 in der New York Times mit drastischen Worten warnte:
Eine Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizt … Die Russen sind wenig beeindruckt von den amerikanischen Versicherungen, eine Erweiterung der Nato finde ohne feindselige Absichten statt. Sie würden ihr Prestige (das in der russischen Meinung immer an erster Stelle steht) und ihre Sicherheitsinteressen als beeinträchtigt ansehen.
Dazu gehört auch Noam Chomsky, emeritierter Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer der bekanntesten Intellektuellen der USA, der 2015 vor der Erweiterung der Nato auf die Ukraine warnte3:
Wir können uns zum Beispiel vorstellen, wie die USA während des Kalten Krieges reagiert hätten, wenn der Warschauer Pakt sich auf Lateinamerika ausgedehnt hätte und Mexiko und Kanada nun planten, dem Warschauer Pakt beizutreten.
Schlussgedanken
Die Ausführungen von John Mearsheimer in seinem Vortag vom 7.4.2022 sind auch eine Erklärung dafür, warum in unseren Hauptmedien ein möglicher Frieden in der Ukraine derzeit überhaupt kein Thema ist.
Statt der Weiterführung von notwendigen Friedensverhandlungen, die auch die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands (etwa eine Neutralisierung der Ukraine) berücksichtigen müssten, werden von den USA und dem Westen immer mehr Waffen in die Ukraine geschickt und noch schärfere Sanktionen gegen Russland verhängt. Wohin soll das führen?
Nach Mearsheimer kämpft also nicht die Ukraine gegen Russland, sondern die USA gegen Russland, unter Missbrauch der Ukrainer. Die Ukrainer sind nicht mehr als Kanonenfutter im finalen Proxy-Krieg eines wohl lange geplanten geopolitischen Krieges für die Aufrechterhaltung ihrer weltweiten unipolaren Dominanz, den die USA aus bequemer sicherer Distanz gegen Russland führen.
Ein kleiner Lichtblick in den letzten Tagen: Angesichts wachsenden Drucks auf Bundeskanzler Olaf Scholz, der Forderung nach Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine nachzukommen, hat sich am 22.4.2022 ein Kreis von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und anderen Bereichen der Zivilgesellschaft, zu denen auch Daniela Dahn und Konstantin Wecker gehören, in einem offenen Brief an den Kanzler gewandt und ihn zum Stopp von Waffenlieferungen aufgefordert.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.