Türkische Quadratur des Kreises

Archivbild: kremlin.ru/CC BY 4.0

Mit der Entlassung seines Notenbankchefs scheint Erdogan die Türkei in eine neue Währungskrise zu führen, die diktatorische Tendenzen zementieren dürfte

Der Posten des Zentralbankchefs der Türkei stellt schon seit einigen Jahren den wohl größten Schleudersitz unter den Spitzenjobs des zunehmend autoritär geführten Schwellenlandes dar. Mit der Entlassung des derzeitigen Amtsinhabers Naci Agbals, der seinen Posten erst im vergangenen November antrat, hat Staatschef Recep Tayyip Erdogan drei Währungswächter binnen der letzten zwei Jahre verschlissen.

Agbals Entlassung durch Erdogan erfolgte wenige Tage nach seiner Entscheidung, aufgrund der weiterhin sehr hohen Inflationsrate den Leitzins der Türkei um zwei Prozentpunkte auf 19 Prozent anzuheben. Die Teuerungsrate bewegt sich in der Türkei im zweistelligen Bereich, sie legte zuletzt auf rund 15 Prozent zu.

Die hohe zweistellige Inflation ging mit einem Wertverlust der türkischen Währung, der Lira, gegenüber dem Euro und Dollar einher, was zu Kapitalabflüssen aus der Türkei führte. Seit 2018 hat die Lira rund die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Dollar eingebüßt, wodurch die Inflation im Land vermittels der sich verteuernden Warenimporte zusätzlich angeheizt wird. Agbal wollte die Inflation bis 2023 unter die Marke von fünf Prozent drücken.

Tatsächlich schaffte es Agbal seit seiner Amtsübernahme am 7. November, durch Leitzinserhöhungen zumindest den Wert der Lira um 15 Prozent gegenüber dem Dollar zu erhöhen, sowie die Kapitalabflüsse aus der Türkei zu stoppen. Auf rund 20 Milliarden Dollar sollen sich die Zuflüsse ausländischen Kapitals seit November summieren, womit ein jahrelanger negativer Trend gebrochen wurde.

Die Türkische Lira erreichte nach jahrelangem Verfall ihren Tiefpunkt im Herbst 2020 bei einem Kurs von 8,5 Lira zum Dollar, um während der Amtszeit Agbals an Wert zu gewinnen und bei rund 7,5 bis 7,2 Lira stabilisiert zu werden.

Die Entlassung Agbals führte am Montag umgehend zu einem massiven, mitunter zweistelligen Wertverlust der Lira, so dass ein großer Teil dieser monatelangen monetären Stabilisierungsbemühungen wieder verloren ging. Am Montag wurde die türkische Währung wieder zeitweise bei einem Kurs von mehr als acht Lira pro Dollar gehandelt.

Der altgediente AKP-Mann Sahap Kavcioglu, der am Wochenende zum Nachfolger Agbals ernannt wurde, hat wiederholt die Leitzinserhöhungen des scheidenden Zentralbankchefs kritisiert und gilt als ein Verfechter der geldpolitischen Linie Erdogans.

Der türkische Präsident begreift sich als Zinskritiker, er hat immer wieder Zinserhöhungen als "Mutter allen Übels" bezeichnet.

Monetäre Aporie

Die geldpolitischen Auseinandersetzungen in der Türkei stellen dabei eine grundlegende Entwicklungssackgasse dar, in der sich viele Schwellenländer in dem gegenwärtigen, durch die Pandemiebekämpfung ausgelösten Krisenschub wiederfinden. Eine expansive Geldpolitik kann dank niedriger Zinsen in Krisenzeiten die Konjunktur stützen, doch zugleich lässt sie die eigene Währung gegenüber dem Dollar als Weltleitwährung, als dem globalen Maß aller Waren, abschmieren.

Dies führt zur Inflation, zu Kapitalabflüssen und zu einer steigenden Schuldenlast, da die Bedienung der in Devisen aufgenommenen Kredite sich verteuert. Eine Hochzinspolitik, die dem entgegenwirken würde, verstärkt aber aufgrund der damit einhergehenden Reduzierung der Kreditvergabe den Konjunkturabsturz.

Diese geldpolitische Aporie der Schwellenländer entfaltet sich auch zwischen Bosporus und Taurus, wobei sie noch durch das Machtkalkül der islamistisch-nationalistischen Regierung vertieft wird. Die soziale Krise in der Türkei, wo viele AKP-Wähler sozial absteigen, gefährdet somit die Machtbasis Erdogans.

Dieser sieht sich folglich zu einer Politik des billigen Geldes genötigt, die zwar kurzfristig als eine Art konjunkturelles Strohfeuer den wirtschaftlichen Absturz verhindert - die aber mittelfristig ein immer stärkeres inflationäres Krisenpotenzial aufbaut.

Im vergangenen Jahr schaffte es die Türkei dank billigen Kredits und zweistelliger Inflation tatsächlich, als eines der wenigen Schwellenländer ein Wirtschaftswachstum von rund 1,8 Prozent zu verzeichnen, doch war dieser konjunkturelle Erfolg vor allem einem Kreditboom zu verdanken, wie etwa das Handelsblatt ausführte. Die "Aktivitäten des Finanzsektors" seien 2020 um satte 21 Prozent gewachsen, während der Dienstleistungssektor und der Bausektor eine Kontraktion von 4,3 Prozent und 3,5 Prozent erfuhren.

Konjunkturelle "Pyrrhussiege" und dramatische Arbeitslosenzahlen

Diese Abhängigkeit Erdogans von einer expansiven Geldpolitik führte letztendlich zu einem konjunkturellen "Pyrrhussieg" der Türkei im Krisenjahr 2020, wie das Webmagazin Al-Monitor ausführt. Neben der ausartenden Inflation, die Erdogan im November dazu nötigte, den Monetaristen Agbal die Geldpolitik zu überlassen, habe der Absturz der Lira dazu geführt, dass der Dollarwert der türkischen Volkswirtschaft trotz Wachstum sinke.

Der Preis des Greenback sei in der Türkei, die eine rapide Dollarisierung erfährt, 2019 um 18 Prozent und 2020 um 24 Prozent angestiegen. Dies bedeute, dass das Bruttoinlandsprodukt der Türkei im vergangenen Jahr um 43 Milliarden-Dollar geschrumpft sei, obwohl es - gemessen in Lira - ein Wachstum von knapp zwei Prozent verzeichnete.

Wie dramatisch sich die soziale Lage für viele Lohnabhängigen in der Türkei Erdogans gestaltet, machen Medienberichte zur tatsächlichen Zahl der Arbeitslosen in dem Schwellenland deutlich.

Laut offizieller Statistik weist die Türkei einer Arbeitslosenrate von rund 13 Prozent auf, doch jüngst publizierte Datensätze, die eine breitere statistische Erfassungsgrundlage aufweisen, lassen auf eine Erwerbslosenquote von bis zu 30 Prozent im Januar 2021 schließen. Die Erfassungsmethode, die sich an Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO orientiert, erfasst unter anderem auch Arbeitslose, die nicht mehr als arbeitssuchend gelten.

Im vergangenen Herbst waren laut Wirtschaftsstudien rund 10 Millionen Einwohner der Türkei von akuter Verelendung bedroht, wodurch "zwei Dekaden des Fortschritts" bei der Elendsbekämpfung wieder revidiert würden.

Diese sozialpolitischen Erfolge, die nun durch den gegenwärtigen Krisenschub gefährdet sind, bildeten das soziale Fundament, auf dem Erdogan seine autoritäre islamisch-nationalistische Herrschaft errichten konnte. Deswegen pumpte das Regime in Ankara 2020 aus bloßen Machtkalkül heraus Hunderte Milliarden frisch gedruckter Lira in immer neue staatliche Konjunkturprogramme, auch wenn hierdurch deren Wert immer wieder absackte.

Eine monetäre Wende schien sich erst im November anzudeuten, als mit der Wahl Agbals auch umfassende "bittere Reformen" angekündigt wurden. Noch Anfang März kündigte Erdogan "harte" Einschnitte an, die ihren Schwerpunkt auf Preisstabilität und "finanzieller Disziplin" hätten. Dennoch hat Erdogan, der diese neoliberal-monetäre Wende nur unter dem Eindruck der rapiden Währungsabwertung im Herbst 2020 einleitete, immer wieder seine Forderung nach niedrigen Zinsen erneuert.

Gewissermaßen befindet sich der türkische Staatschef in einer wirtschaftspolitischen Sackgasse, von der aus nur Wege in die Krise beschritten werden können: Entweder eine Überhitzung samt inflationären Schub oder eine Deflation, ausgelöst durch die üblichen neoliberalen "Sparprogramme", wie sie beispielsweise Griechenland während der Eurokrise verheerten.