Was heißt Solidarität in der Corona-Ära?

Auch mehr Patienten ohne Covid werden wegen Überlastung der Krankenhäuser sterben

Das nasse und kalte Herbstwetter fördert die Verbreitung von Erkältungsviren. Dementsprechend steigen nun auch wieder die Infektionszahlen für das Corona-Virus.

Nach wie vor gelten Impfungen als bester Schutz vor einem schweren COVID-Verlauf. Laut Bundesgesundheitsministerium sind jetzt (1. November) rund 85 Prozent der Deutschen ab 60 Jahren vollständig geimpft. Bei den 18- bis 59-Jährigen sind es 73 Prozent und bei den 12- bis 17-Jährigen 42 Prozent.

Allerdings gibt es auch große regionale Unterschiede: So bleiben Sachsen (57 Prozent), Brandenburg und Thüringen (jeweils 61 Prozent) die Schlusslichter. Bremen liegt mit 78 Prozent an der Spitze, gefolgt vom Saarland (73 Prozent), Hamburg und Schleswig-Holstein (jeweils 72 Prozent). Es gibt ein deutliches Nordwest-Südost-Gefälle.

Ein provokanter Vorschlag

Am 25. Oktober schrieb ich hier über eine neue Studie zur Berechnung der Sterblichkeit. Darin machte ich einen provokanten Diskussionsvorschlag: Warum nicht Menschen, die ohne medizinische Notwendigkeit auf die Impfung verzichten, an den Behandlungskosten beteiligen, falls sie später wegen Covid-19 ins Krankenhaus müssen und sie sich das finanziell leisten können?

Am häufigsten wurde mir daraufhin von Leserinnen und Lesern die Abkehr vom Solidaritätsprinzip vorgeworfen. Manche zogen Vergleiche, dass man dann Menschen auch bei riskanten Hobbys an den Folgekosten beteiligten müsse, etwa beim Skifahren außerhalb vorgegebener Pisten. Ein Leser meinte, mich in einer Privatnachricht als "Faschisten" bezeichnen zu müssen.

Dabei hatte ich unterstrichen: Alle werden behandelt. Niemand wird aufgrund seines Impfstatus abgewiesen.

Krise im Gesundheitssystem

Stellen wir dem die Situation im Pflege- und Gesundheitssystem gegenüber: Das Personal steht auch zu normalen Zeiten oft unter Stress. Marktwirtschaftlicher Kostendruck, Fachkräftemangel und alternde Gesellschaft lassen grüßen. Durch die Zunahme an Covid-Behandlungen wurde nicht nur das Personal weiter belastet, sondern mussten andere Behandlungen aufgeschoben werden.

Eine neue Studie von Krebsforschern unter Beteiligung des Universitätsklinikums Tübingen hat jetzt ergeben, dass durch die Pandemie weltweit jede siebte potenziell lebensrettende Tumor-Operation abgesagt werden musste. So ein bösartiger Tumor kann dann im ganzen Körper Metastasen bilden.

Dadurch wird die Folgebehandlung wesentlich schwieriger, vielleicht sogar aussichtslos. Viele dieser Menschen weilen nun wahrscheinlich nicht mehr unter uns. Sie sind gestorben, weil sie nicht (rechtzeitig) operiert werden konnten. Ihre Angehörigen trauern um den unwiederbringlichen Verlust.

In meinem Bekanntenkreis gibt es so einen Fall: Der Vater einer Bekannten hatte lange Zeit schwere Darmprobleme. Im Krankenhaus gab es aber wegen Covid-19 keinen freien Behandlungstermin. Erst als sich der Hausarzt mit größter Mühe dafür einsetzte, fand eine Untersuchung statt.

Ergebnis: Darmkrebs mit Metastasen. Inzwischen leider zu spät für eine Behandlung. Die Familie bereitet sich jetzt auf den bevorstehenden Tod des Vaters vor. Dazu ein Zitat von Markus Löffler, einer der Studienautoren über die Tumor-Operationen:

Es ist zu erwarten, dass die veränderte Versorgungssituation während der Pandemie, die durch Ergebnisse unserer Studie belegt ist, auch zukünftig Auswirkungen haben wird. Entsprechend kann man damit rechnen, dass durch Verschiebungen und verminderte Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen während der Pandemie fortgeschrittene Krebserkrankungen auch in Deutschland verstärkt auftreten werden.

Markus Löffler, Tansplantationschirurg am Universitätsklinikum Tübingen und einer der deutschen Leiter des COVIDSurg Forschungsnetzwerks

Da auch in den Niederlanden die Anzahl der positiven Corona-Tests und der Krankenhausaufnahmen wieder steigt, wendeten sich die Leiter der acht Intensivstationen der Universitätskliniken mit einem Brandbrief an die Medien: Das Wasser stehe ihnen bis zum Hals. Aufgrund zunehmender COVID-Behandlungen gebe es bald zu wenige Betten zur Behandlung von Unfallopfern oder nach Herz- und Krebsoperationen.

Mit großer Mühe will man die Triage vermeiden: Wen behandelt man, wen behandelt man nicht? Bei der Terminvergabe von Untersuchungen und Operationen findet aber - schlicht aufgrund begrenzter Möglichkeiten - schon eine Auswahl statt. Diese Auswahl führt in manchen Fällen zum unnötigen Tod von Menschen.

Stellen wir dem die häufigsten Nebenwirkungen der Corona-Impfungen entgegen: vorübergehende Schmerzen an der Einstichstelle im Arm und etwas Müdigkeit.

Und jetzt stelle ich noch einmal die Frage: Welches Verhalten ist hier solidarisch, welches unsolidarisch?

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