Ukraine-Krieg: Drang zum eindeutigen Bekenntnis

Warum nehmen so viele Deutsche gegenwärtig gern für "die Ukraine" Partei? Das Gute und das Böse erscheinen säuberlich getrennt. Kommentar und Hintergrund

Das Opfer gilt als absolut unschuldig und der Täter als absolut schuldig. Endlich mal an der Seite des Lichtes gegen "die Mächte der Finsternis" stehen. Endlich gibt es eine Gelegenheit, bei der eine klare Parteinahme als möglich erscheint.

Niemand muss sich beim Ukraine-Krieg vorwerfen lassen, selbst irgendwie beteiligt zu sein (wie an der Klimakrise). Was getan werden soll, erscheint als völlig klar. Politik kann auf einmal so wohltuend unkompliziert sein. Niemand muss sich wie (z. B. bei der Umweltproblematik) über Konflikte zwischen "Reform" ("Grüne") oder "radikalem Widerstand" ("Ende Gelände", "Letzte Generation" u. a. ) zerstreiten.

Im Kontrast zu aller sonst verwirrenden Komplexität sowie zu allen sich überlappenden und einander widersprechenden Konfliktfronten freuen sich viele darüber, dass wenigstens bei einem Thema (Ukraine) eine ganz große Einigkeit existiert. Das neue Wir erkennt seine Übereinstimmung beim Nicken anlässlich der Signalwörter.

Sieg um jeden Preis

Beliebt ist die rhetorische Frage: "Streitest Du der Ukraine ihr Recht auf Selbstverteidigung ab? Willst du sie Russland zum Fraß vorwerfen?!" Suggeriert wird: Einen Gebietsverlust der Ukraine kategorisch zu vermeiden und die russische Armee zu besiegen, sei das einzige legitime und moralisch gebotene Ziel.

Wer für die Ukraine in den Grenzen von 2013 eintritt, verschweigt den Preis. Selbst Selenskyj war diesbezüglich in einem seltenen realistischen Moment skeptisch. Er sprach davon, bereits die Rückeroberung der Krim werde hunderttausende Tote in der ukrainischen Armee kosten und ihm erscheine dieser Preis als zu hoch (FAZ am 24.5.22).

Die hiesigen 150-prozentigen Unterstützer der Ukraine wollen nichts anderes als deren Sieg gelten lassen. Alles andere erscheint ihnen als Feigheit vor dem Feind. Für sie stellt die Tatsache, dass eine Nation territorial ganz und heil bleibt, das oberstes Gut dar, egal wie viel Menschen dafür sterben. Wer diese Werterangfolge anzweifelt, wird von Eiferern als "deutscher Lumpen-Pazifist" denunziert (Sascha Lobo in Der Spiegel, am 20.4.2022.)

Um die ukrainische Kampfmoral und den Opferwillen zu stärken, ist der Gegner zu dämonisieren. Gegen "das Reich des Bösen" (US-Präsident Reagan 1983 über die Sowjetunion) kämpft’s sich motivierter. Konsequent ist es dann, sich auf Fragen der "Schuld" zu konzentrieren, zu fragen, "wer hat angefangen?" und so etwas wie "Realpolitik" auszuklammern. Als ob es nicht aller Wahrscheinlichkeit nach so oder so, früher oder später zu einem Kompromiss kommen wird, der nicht alle Interessen "der Ukraine" erfüllt.

Ein solcher Frieden ist den neuen deutschen Ukraine-Freunden als "Schandfrieden" unerträglich. Alles unter "Sieg der Ukraine" bzw. "Ukraine in den Grenzen von 2013" gilt ihnen als unmoralisch.

Wer so denkt, legt sich keine Rechenschaft ab von der eigenen impliziten Kalkulation. Die russische Armee wird sich, wenn sie statt der bisherigen 20 Prozent vielleicht 25 Prozent der Ukraine besetzt hält, in ihren Stellungen eingraben. Verteidigen ist leichter als angreifen. Um die russische Armee aus der Ukraine zu vertreiben, bedarf es einer ukrainischen Übermacht und langer Kampfhandlungen.

Gratismut

Weit entfernt von der Front erbauen sich deutsche Anhänger des Siegs "der Ukraine" an der Parole "Die Freiheit ist das höchste Gut, weil man für sie sterben tut!" In der Ukraine teilen nicht alle diesen Heroismus ihrer selbsternannten deutschen Fürsprecher:

Die Mitglieder des Territorialen Verteidigungsbataillons von Tscherkassy (Paramilitärs) weigerten sich zu kämpfen und nahmen eine entsprechende Videobotschaft auf. Sie beklagen, dass viele von ihnen in der ersten Schlacht gefallen oder verwundet worden seien, aber keine medizinische Versorgung bekommen hätten.

Sie halten ihre Anwesenheit an der Front für illegal, da die territoriale Verteidigung ausschließlich zur Verteidigung ihrer Städte organisiert wurde. "Wir wollen kein Kanonenfutter sein", resümierten die meuternden Mitglieder. Daraufhin entwaffneten die Behörden sie und drohten ihnen mit Haft. Zuvor hatten sich die Soldaten der 115. Brigade der Streitkräfte in Sewerodonezk geweigert, Befehle zu befolgen, und ein Video über schlechte Dienstbedingungen aufgenommen. Sie wurden daraufhin als Deserteure in ein Untersuchungsgefängnis gesperrt.

Anfang Mai stürmten Frauen in der Stadt Chust in der Region Transkarpatien das Einberufungsbüro und protestierten gegen die Entsendung ihrer Männer von der Territorialverteidigung an die Front im Donbass. Der Leiter des Büros ging nicht darauf ein, woraufhin die Frauen begannen, Fenster einzuschlagen und in das Gebäude einzudringen.

Junge Welt, 30.5., Printausgabe S. 6

Anlässlich der Ukraine erfreuen sich die Befürworter ihres "Sieges" an einfachen "Lösungen". Endlich mal die komplizierte Diplomatie ausklammern. Endlich Helden feiern dürfen und am Heldentum keinen Zweifel mehr haben brauchen. Endlich wieder Schwarz-Weiß!

Es gibt einen Unterschied zwischen Recht haben und auf seinem Recht bestehen. Wer in seinem eigenen Haus überfallen wird, hat alles Recht der Welt, sich zu verteidigen. Zielen dabei 10 bewaffnete Männer auf den Hausbesitzer und seine Familie und stellen ihn vor die Wahl: Haus verlassen oder Tod!, dann wäre eine Verteidigung, ein Bestehen auf sein Recht, auch im Hinblick auf die eigene Familie, nicht heldenhaft und bewundernswert, sondern dumm

Markus Kloeckner: Politik der gespaltenen Zunge. 23. 5. 22.