Russland: Der kleinzuhaltende, aber nützliche Feind

Bill Clinton und Wladimir Putin, New York, 2000. Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0

US-Regierungsdokumente: Nach Ende der Sowjetunion sollte Russland kein Teil eines europäischen Sicherheitssystems werden. Sein Erstarken sollte verhindert werden. Hintergrund und Kommentar.

Rund 8.000 km Meer und Landmasse schützen die USA vor Russland. Dennoch fühlen sich die USA zumindest nach Maßgabe politischer Erklärungen und einschlägiger Think-Tank-Analysen von Russland bedroht und sehen sich deshalb vorgeblich zu entsprechenden Verteidigungsmaßnahmen sowohl in der eigenen "Western Hemisphere" als auch in Europa veranlasst.

Von einer realen Angriffsfähigkeit Russlands, etwa im Wege der zurzeit im Westen spekulierten Besetzung angrenzender europäischer Nato-Staaten oder gar Deutschlands, konnte angesichts der mehrfachen Überlegenheit von USA/Nato und eines aufgrund Zweitschlagfähigkeit ausgeschlossenen atomaren Angriffs zumindest bislang faktisch keine Rede sein. Zumal sich ja immer, wenn man einmal einen Landstrich erobert hat, die Frage stellt, was dann?

Allerdings hat das vor kurzer Zeit erfolgte Auftauchen der neuen russischen, auch konventionell bestückbaren Hyperschallraketen eine mögliche russische Gefechtslage mit den USA verbessert - zumindest bis zum Aufholen des russischen Vorsprungs durch die USA: Russland könnte jetzt auch vice versa das amerikanische Territorium ohne nennenswerte Raketenabwehr konventionell erreichen und damit spiegelbildlich mindestens mit den Möglichkeiten der USA auf dem europäischen Kontinent gleichziehen.

Jenseits der medial aufbereiteten Bedrohungskulisse verfolgen die USA aber seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stattdessen tatsächlich ihr eigentliches Kernziel, keine rivalisierende Großmacht, also Russland und seit einigen Jahren auch China, auf dem eurasischen Kontinent entstehen zu lassen.

Beseelt vom eigenen politisch-moralischen Exzeptionalismus ("city upon the hill"), angetrieben aber von den eigenen nationalen Interessen (Manifest Destiny), beansprucht die USA seit Anfang des letzten Jahrhunderts die Rolle des Weltpolizisten, ohne den eine globale Ordnung angeblich nicht herzustellen sei. Dies veranschaulichen die nachfolgenden Zitate:

Es ist unmöglich, dass die verbündeten [europäischen] Mächte ihr politisches System auf irgendeinen Teil des [amerikanischen] Kontinents ausdehnen, ohne unseren Frieden und unser Glück zu gefährden; ... Es ist daher ebenso unmöglich, dass wir eine solche Einmischung in irgendeiner Form mit Gleichgültigkeit betrachten sollten.

Monroe Doktrin, 2. Dezember 1823, [Einfügungen d. Verf.]

Unsere offenkundige Bestimmung, den Kontinent [Nord-Amerika] zu besiedeln, der von der Vorsehung für die freie Entwicklung unserer sich jährlich vervielfältigenden Millionen bestimmt ist.

John L. O'Sullivan 1845, [Einfügung d. Verf.]

Chronisches Unrecht oder eine Ohnmacht, die zu einer allgemeinen Lockerung der Bande der zivilisierten Gesellschaft führen, kann in Amerika wie anderswo schließlich das Eingreifen einer zivilisierten Nation erfordern, und in der westlichen Hemisphäre kann das Festhalten der Vereinigten Staaten an der Monroe-Doktrin die United States in flagranten Fällen solchen Unrechts oder solcher Ohnmacht zur Ausübung einer internationalen Polizeimacht zwingen, wenn auch widerwillig

Theodore Roosevelt, Corollary, 1904

"Die religiösen und politischen Ideale [der USA] verschmolzen zu einer allgemeinen Ideologie der Überlegenheit gegenüber allen anderen Nationen, dem amerikanischen Exzeptionalismus. Er bildet die Grundlage und Rechtfertigung für den amerikanischen Expansionismus und Einfluss" (...) und führt "zu der Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten ein 'Modell' für den Rest der Welt seien".

Restad, U.S. Foreign Policy Traditions: Multilateralism vs. Unilateralism since 1776; [Einfügung d. Verf.]

Die Rolle der Ukraine in der US-Militärstrategie

Was nun - vor dem beschriebenen Hintergrund der eigenen Überlegenheit und des Anspruchs auf Weltherrschaft - die Verhinderung einer "Großmacht Russland" angeht, bildet die Ukraine dazu militärstrategisch eine ganz entscheidende Rolle, wie schon Mackinder (Heartland-Theorie) und Brzezinski (The Great Chessboard: Ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht) hervorgehoben haben.

Denn die USA beziehen bei einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine dann militärische Posten direkt vor der Haustür Russlands. Dieses steht dann militärisch - ohne Pufferzone und Ausfallterritorium - mit dem Rücken zur Wand.

Das Ziel der Eindämmung Russlands und der Verhinderung von dessen möglichen Großmacht-Status verfolgt die USA seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion beharrlich, insbesondere neben der Nato-Osterweiterung über den Trittstein Ukraine.

Dazu ein kurzer Überblick: Nach der 2004 von westlichen Kräften unterstützten, aber erfolglosen "Orangen Revolution" zur Verhinderung der russlandfreundlichen Janukowitsch-Regierung und dem 2008 gescheiterten Versuch der USA, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, erfolgte 2014 der maßgeblich von den USA unterstützte Sturz der ukrainischen Janukowitsch-Regierung.

Wir haben mehr als 5 Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen, diese und andere Ziele zu erreichen.

Victoria Nuland, 2013

Seit 2014 erfolgen militärische Zusammenarbeit (Interoperabilität) und gemeinsame Manöver mit der Nato auf ukrainischem Boden. 2019 verankerte die Werchowna Rada in der ukrainischen Verfassung zudem eine "strategische Orientierung der Ukraine zum vollständigen Beitritt zur EU und der Nato".

Mitte 2021 entsteht in Weißrussland, also an der Nordwestgrenze Russlands, eine – aus russischer Sicht kaum als Zufall zu wertende, sondern als vorlaufende Schwächungsinitiative zu begreifende - Protestbewegung im Zuge der dortigen Wahlen.

Diese vom Westen unterstützte Revolte scheiterte zwar letztlich, sie hätte aber im Erfolgsfall für Russland nicht nur einen Bruch der relativ engen politischen Verbindung bedeutet, sondern eine zusätzliche militärische Destabilisierung im Vorfeld des ohnehin von USA und Russland als unvermeidbar angesehenen Ukraine-Konflikts.

Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse und dem sich dahinter verbergenden Machtkampf zwischen USA und Russland bietet dieses im Dezember 2021 der USA und Nato die Aufnahme von Verhandlungen über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur in Europa an und kündigt für den Fall des Ausbleibens robuste militärische Maßnahmen an ("militärische Sonderoperation").

Einen Monat später, im Januar 2022, flammt im Übrigen in Kasachstan, also an der Südostgrenze Russlands, eine wie gerufen aussehende Revolte auf. Durch Einsatz eines primär durch Russland gestellten OVKS-Kontingents wurde der Aufstand niedergeschlagen. Hätten die Proteste in Weißrussland und Kasachstan Erfolg gehabt, wäre vom Norden über die Baltischen Staaten, dann nach Süden hin über Weißrussland und Ukraine und dann dem Nato-Aspiranten Georgien bis hin zum destabilisierten Kasachstan ein Russland einkreisender militärischer Cordon entstanden.

Die militärstrategische Rolle der Ukraine für die USA und damit die - aus Moskauer Sicht - wahrgenommene Bedrohungslage ist damit hinreichend dokumentiert.

Screenshot GoogleMaps plus Einfügung d. Verf.

Da USA und Nato sich im Verlauf Januar/Februar 2022 nicht zu Verhandlungen über eine neue Sicherheitsarchitektur bereit erklärten, marschierte Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine ein. Auf Seiten der Ukraine fungiert die USA als Haupt-Sponsor der kriegerischen Auseinandersetzung durch Lieferung von Waffen, Aufklärungsdaten, militärische Ausbildung ukrainischer Soldaten und umfangreiche Finanzhilfen in mehrfacher Milliardenhöhe.

Wie zur Bestätigung von Russlands Einschätzung der bedrohlichen Nato-Osterweiterung und der militärstrategischen Rolle der Ukraine für die USA bezeichnete im Februar 2022 der seinerzeitige Präsident Poroschenko die Minsker Verträge lediglich als Vorwand zur parallelen Aufrüstung der Ukraine:

Unser Ziel war es, erstens die Bedrohung zu stoppen oder zumindest den Krieg zu verzögern, um acht Jahre für die Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums und den Aufbau starker Streitkräfte zu sichern.

Poroschenko, Februar 2022, RT

Diese - hier nur skizzierten - Entwicklungen zum Ukrainekrieg fügen sich nahtlos ein in die seitens der USA seit 1991 verfolgte Eindämmungsstrategie gegenüber Russland bzw. die Verhinderung von dessen möglichen Großmacht-Status.