USA wussten, dass man Russlands rote Linien bei Nato-Expansion überschritt

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Diplomaten-Depeschen belegen, wie Washington die Kriegsgefahr im Zuge der Osterweiterung in Kauf nahm. Warnungen kamen von allen Seiten. Erstaunlich ist, wie präzise prophezeit wurde, was schließlich geschah. (Teil 1)

Seit fast einem Jahr hat der Krieg in der Ukraine Hunderttausende von Menschenleben gekostet und die Welt an den Rand des – wie Präsident Joe Biden es ausdrückte – "Armageddon" gebracht. Neben dem buchstäblichen Schlachtfeld hat sich ein ähnlich erbitterter intellektueller Kampf um die Ursachen des Krieges entwickelt.

Kommentatoren haben sich beeilt, die seit langem kritisierte Politik der Nato-Erweiterung als irrelevant für den Ausbruch des Krieges zu erklären oder als bloßes Feigenblatt, das der russische Präsident Wladimir Putin benutzt, um das zu verschleiern, was die frühere Außenministerin Condoleezza Rice und der frühere Verteidigungsminister Robert Gates kürzlich in einem Meinungsbeitrag in der Washington Post als "seine messianische Mission" bezeichneten, "das russische Imperium wiederherzustellen".

Branko Marcetic schreibt für Jacobin, Washington Post und den Guardian.

Fiona Hill, die zwei republikanische Regierungen und Präsidenten beraten hat, hält die Hinweise auf die Nato-Osterweiterung lediglich für das Ergebnis eines "russischen Informationskriegs und einer psychologischen Operation", die dazu führen, dass "ein Großteil der amerikanischen Öffentlichkeit ... der Nato oder den USA die Schuld an diesem Ergebnis gibt".

Eine Überprüfung der Aufzeichnungen und Dutzende von diplomatischen Depeschen, die über WikiLeaks öffentlich zugänglich gemacht wurden, zeigen jedoch, dass US-Beamte sich dessen bewusst waren oder ihnen über Jahre hinweg direkt gesagt wurde, dass die Erweiterung der Nato von russischen Beamten weit über Putin hinaus als große Bedrohung und Provokation angesehen wurde und dass die Ausweitung der Nato auf die Ukraine für Moskau die äußerste rote Linie darstellt. Dieser Schritt würde die Hardliner und nationalistischen Teile des russischen politischen Spektrums aufputschen und stärken. Das könnte schließlich zu einem Krieg führen.

In einer Serie von Warnungen, die außergewöhnlich prophetischen Charakter besitzen, wurde den US-Offiziellen mitgeteilt, dass das Drängen auf eine ukrainische Mitgliedschaft in der Nato nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer russischen Einmischung in das Land erhöhen würde, sondern auch die Gefahr einer Destabilisierung des geteilten Landes in sich berge.

Die Vereinigten Staaten und anderer Nato-Mitgliedsländer würden Druck auf die ukrainische Führung ausüben, damit sie die dortige ablehnende öffentliche Meinung verändert. All das wurde der US-Führung sowohl öffentlich als auch privat nicht nur von hochrangigen russischen Beamten bis hin zum Präsidenten mitgeteilt, sondern auch von Nato-Verbündeten, verschiedenen Analysten und Experten, liberalen russischen Stimmen, die Putin kritisch gegenüberstehen, und manchmal sogar von US-Diplomaten selbst.

Diese Warnungen sind auch bedeutsam in Hinsicht darauf, wie die USA gerade die rote Linien testen, die China in Hinsicht auf die Unabhängigkeit Taiwans gezogen hat. Man riskiert erneut eine militärische Eskalation, die sich vorrangig gegen den Inselstaat richtet.

Die diplomatische Bilanz der USA in Bezug auf die Nato-Erweiterung zeigt, wie gefährlich es ist, die roten Linien einer anderen Militärmacht zu ignorieren oder ganz zu überschreiten, und wie klug eine zurückhaltende Außenpolitik sein kann, die die Einflusssphären anderer Mächte mit derselben Sorgfalt behandelt, wie sie den Vereinigten Staaten entgegengebracht wird.

Putins Amtsantritt und die pausierende Nato-Erweiterung

Die Nato-Erweiterung war von Anfang an mit Schwierigkeiten behaftet. Der prowestliche damalige russische Präsident Boris Jelzin erklärte dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, er sehe "nichts als Demütigung für Russland, wenn Sie derart weitermachen", und warnte davor, dass dieser Schritt "die Saat des Misstrauens säen" und "nicht nur in Russland als der Beginn einer neuen Spaltung Europas interpretiert werden" würde.

Wie von George Kennan, dem Architekten der Containment-Strategie, vorausgesagt, trug der Beschluss, die Nato-Ausweitung voranzutreiben, dazu bei, die Feindseligkeit und den Nationalismus in Russland zu schüren. Die Duma (das russische Parlament) erklärte sie zur "größten militärischen Bedrohung für unser Land in den letzten 50 Jahren", während der Vorsitzende der oppositionellen Kommunistischen Partei sie als "einen Versailler Vertrag für Russland" bezeichnete.

Als Putin am Tag vor der Jahrtausendwende Präsident wurde, waren "die ursprünglichen Hoffnungen und Pläne der frühen 1990er-Jahre tot", sagte ein führender liberaler russischer Politiker. Auf die erste Runde der Nato-Erweiterung folgte die Bombardierung Jugoslawiens im Jahr 1999, die ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats erfolgte und Russland dazu veranlasste, den Kontakt mit dem Bündnis abzubrechen.

Im Jahr 2000 wurde in der nationalen Sicherheitsstrategie Russlands davor gewarnt, dass die Anwendung von Gewalt durch die Nato jenseits ihrer Grenzen als "Destabilisierungsbedrohung für die gesamte strategische Situation" angesehen würde. Gleichzeitig äußerten die dortigen Militäroffiziere und Politiker, "dass die Nato, wenn sie sich weiter ausdehnt, 'eine Basis schaffen würde, um in Russland selbst zu intervenieren'", wie die Washington Post berichtete.

Ironischerweise gab es in den darauf folgenden zwei Jahrzehnten zunehmender Spannungen im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Nato eine Phase der Beruhigung: die ersten Jahre der Präsidentschaft Putins, als der neue russische Präsident sich über das russische Establishment hinwegsetzte und versuchte, auf die Vereinigten Staaten zuzugehen.

Unter Putin nahm Moskau die Beziehungen zur Nato wieder auf, ratifizierte schließlich den START-II-Rüstungskontrollvertrag und äußerte sogar öffentlich die Idee, dass Russland dem Bündnis beitreten könnte, wofür Putin von seinen politischen Rivalen angegriffen wurde. Gleichzeitig äußerte er weiter die von Anfang an bestehenden Bedenken Moskaus gegen die Erweiterung des Bündnisses. Putin sagte dem Nato-Generalsekretär im Februar 2001, die Expansion sei "eine Gefahr für Russland". In einer Rede in Berlin im Jahr 2000 erklärte er:

Wenn sich ein Land wie Russland bedroht fühlt, würde dies die Lage in Europa und in der ganzen Welt destabilisieren.

Putin schwächte seine Haltung ab, als er versuchte, mit der damaligen US-Regierung unter Präsident George W. Bush eine gemeinsame Basis zu finden. "Wenn die Nato eine andere Form annimmt und zu einer politischen Organisation wird, würden wir natürlich unsere Haltung gegenüber einer solchen Erweiterung überdenken, solange wir das Gefühl haben, in den Prozess einbezogen zu werden", sagte er im Oktober 2001. Dafür wurde er erneut von politischen Gegnern und russischen Eliten attackiert.

Als die Nato 2002 Russland zum ersten Mal eine beratende Rolle in ihrer Entscheidungsfindung zugestand, versuchte Putin, die Erweiterung zu unterstützen. Der damalige italienische Präsident Silvio Berlusconi richtete laut einer diplomatischen Depesche vom April 2002 ein "persönliches Ersuchen" an Bush. Er möge "Putins innenpolitische Erfordernisse verstehen" und müsse ihn "als Teil der Nato-Familie ansehen". Man sollte Putin helfen, "in Russland die öffentliche Meinung zu formen, damit die Nato-Erweiterung dort unterstützt werde".

In einer anderen Depesche drängte ein ranghoher Beamter des US-Außenministeriums darauf, einen Nato-Russland-Gipfel abzuhalten, um "Präsident Putin dabei zu unterstützen, den Widerstand gegen die Erweiterung zu neutralisieren", nachdem der russische Staatschef erklärt hatte, eine Nato-Ausdehnung ohne eine Vereinbarung über eine neue Partnerschaft zwischen der Nato und Russland sei für ihn politisch unmöglich.

Das war das letzte Mal, dass in den von WikiLeaks veröffentlichten diplomatischen Aufzeichnungen eine russische Aufgeschlossenheit gegenüber der Nato-Erweiterung erwähnt wurde.