Krieg in der Ukraine: Warum nicht nur Gewalt zum Erfolg führen kann

Ein Kolumnist wettert gegen "Friedensschwurbler" und "Lumpen-Pazifisten". Doch seine "Gesinnungsethik" zeugt von doppelten Standards und Unwissenheit. Ein Kommentar.

Vor einem Jahr marschierte die russische Armee in der Ukraine ein, und wie vor einem Jahr ist die Debatte über einen möglichen Frieden heute immer noch vergiftet. Nach wie vor dominieren die Bellizisten die Diskussion und trachten danach, den Diskurskorridor möglichst schmal zu halten.

Zu ihnen kann man Sascha Lobo zählen, der am Donnerstag bei Spiegel Online gegen "Friedensschwurbler" anschreiben durfte. Er fabulierte von einer "deutschen Querfront gegen die Ukraine", welche die Menschen in der Ukraine Massenmördern, Folterern und Vergewaltigern überlassen will.

Lobo bezog sich dabei auf diejenigen, die dem Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer folgen und am Samstag in Berlin an der "Friedenskundgebung" teilnehmen wollen. Sie würden eine "selbstgerechte Form des Ukrainehasses" zelebrieren, "verbunden mit klassischer, ebenso deutscher Weltegozentrik".

Unter Frieden würden die "Querfront der Friedensschwurbler" vor allem Frieden für sich selbst verstehen. "In Sinne von: von den nervigen Kriegsfolgen in Deutschland in Frieden gelassen werden", so Lobo.

Verwunderlich ist diese Position nicht. Ein Mann, der vor Jahren behauptete, ein Monatseinkommen von 15.000 Euro zu haben, dürfte eine andere Wahrnehmung von Inflation, steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten haben als der deutsche Durchschnittsbürger.

Aber Lobo belässt es nicht dabei; er bezichtigt die Menschen der "Faschismus-Verharmlosung, Faschismus-Veregalung" und des "Faschismus-Appeasement". Der Begriff "Faschismus" klingt auch hier bedeutsam – und er wäre es, wenn seine Bedeutung nicht gerade bei Timothy Snyder, dem Erich von Däniken der Faschismusforschung, entlehnt wäre.

Wie dem auch sei – Lobo bleibt in der aktuellen Kolumne seinem alten Prinzip treu. Im April letzten Jahres meinte er, manche Menschen als "Lumpen-Pazifisten" beschimpfen zu müssen. Von dieser Position aus war es auch nicht weit, um Mahatma Gandhi als "sagenhafte Knalltüte" zu bezeichnen.

Lobo kritisierte damals etwa, dass der Friedensbeauftragte der evangelischen Kirchen in Deutschland, Friedrich Kramer, erklärte, man dürfte den Konflikt nicht gesinnungsethisch angehen. Dagegen plädierte Lobo für das Gegenteil und dafür, rote Linien zu ziehen.

Ethik ist allerdings nicht willkürlich, und Lobo hätte an dieser Stelle darlegen müssen, warum sich die deutsche Öffentlichkeit ausgerechnet in diesem Konflikt engagieren sollte, während andere Konflikte kaum Beachtung finden.

Warum nicht Partei ergreifen im Krieg in Äthiopien, im Jemen, in Syrien oder anderswo? Die Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Kriegsursachenforschung listete für das Jahr 2021 weltweit mehr als 25 bewaffnete Konflikte auf – einige forderten inzwischen Hunderttausende Tote.

Auch die Gesinnungsethik fragt nach allgemeinen Kriterien, an denen man sich für eine mögliche Intervention orientieren könnte. Die Attribute "weiß", "Europäer" und "christlich" dürften allerdings nicht die Grundlage für eine Gesinnungsethik bieten. Sie wären eher der Ausdruck von Rassismus.

Ebenso schwurbelig ging Lobo die Frage des Pazifismus an: Er unterschied dabei zwischen den "Lumpen-Pazifisten" und den "Vernunftorientierten". Letztere verfolgten "einen aufgeklärten, realistischen Pazifismus", worunter er auch versteht, dass die Angegriffenen den Wunsch verspüren, sich zu verteidigen.

Nur, diesen Wunsch hat bislang niemand in Abrede gestellt. Und Verteidigung heißt nicht, dass man unbedingt mit Panzern und Gewehren schießen; dass man töten muss. Wenn es die Ukrainer wollen, könnten sie auch russischen Besatzern das Leben – gewaltfrei – so schwer machen, dass diese sich vielleicht einmal geschlagen geben müssten.

Der Name Gene Sharp steht für eine Forschung im Kalten Krieg, wie mit gewaltfreien Methoden eine Besatzungsmacht oder eine Diktatur in die Knie gezwungen werden kann. Oppositionelle im Ostblock oder – nach dem Untergang des Sozialismus in Europa – in den ehemaligen Sowjetrepubliken nutzten Sharps Hauptwerk als Leitfaden für ihre "Revolutionen".

Die von Gene Sharp empfohlenen Methoden könnten auch in der Ukraine erfolgreich sein – vorausgesetzt natürlich, dass die Bevölkerung sich nicht mit den Besatzern verbunden fühlt. Wie auch immer – massenhaft Menschenleben könnten durch gewaltfreie Aktionen gerettet werden.

Als Lobo sich im vergangenen Jahr darüber echauffierte, dass eine Friedensforscherin Maßnahmen vorschlug, die aus Sharp Repertoire stammen könnten, zeigte nur, dass er manche politischen Fragen nur unterkomplex bearbeitet.

Ein Blick in die Geschichte der pazifistischen Bewegung zeigt, es kann sie nie in Reinform geben. Der italienische Philosoph Domenico Losurdo zeigte in seinem Buch über die Gewaltlosigkeit, dass ebenjene Bewegung immer mit dem Konflikt zwischen eigenem Anspruch und der Realität zu kämpfen hatte.

Egal, ob Abolitionisten, Gandhi oder Martin Luther King Jr. – sie alle mussten – zumindest zeitweilig – Gewalt hinnehmen oder selbst Gewalt tolerieren. Seien es nur Omas in den Südstaaten der USA, die in nachts mit einem Gewehr auf ihrem Schoß auf der Veranda Wache hielten, während die gewaltlosen Aktivisten schliefen.

Wären das nur die Fragen, die auch die westlichen Regierungen umtrieben. Ihnen scheint es um etwas anderes zu gehen: Die strategische Schwächung Russlands. Und dafür sind sie bereit, die Ukrainer einen hohen Preis zahlen zu lassen. Oder wie Chas Freeman, ehemaliger Staatssekretär für Internationale Sicherheitsfragen im US-Verteidigungsministerium, ausdrückte:

Alles, was wir tun, scheint darauf abzuzielen, die Kämpfe zu verlängern und den ukrainischen Widerstand zu unterstützen, anstatt ein Ende der Kämpfe und einen Kompromiss herbeizuführen - eine edle Sache, wie ich meine, aber das wird zu vielen toten Ukrainern und Russen führen.

Chas Freeman

Und in diesem Sinne sei gefragt: Wie viele Ukrainer müssen noch geopfert werden?

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