20.000 oder mehr als eine Million?
Für die Demo am Samstag in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen kursieren weit voneinander abweichende Schätzungen. Sieht man, was man sehen will?
Thomas Pany hatte am Samstagnachmittag in seinem Artikel "Corona-Sommertheater" zunächst die Angaben der Polizei über die Zahl der Teilnehmer an der Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen unter den Linden übernommen. Zunächst hatte die Polizei von 17.000 Teilnehmern gesprochen, auf der Kundgebung seien es dann 20.000 gewesen. Zudem verwies er auf Schätzungen des Telepolis-Autors Thomas Moser, der abweichend von den meisten Medien sogar von 50.000-60.000 sprach.
Der Herausgeber eines sogenannten Alternativmediums schrieb in einer Email: "Ich lese Telepolis seit Wochen nicht mehr, weil das mit Journalismus kaum mehr zu tun hat; Ihre Artikel waren bisher eine der wenigen Ausnahmen. Wenn Sie den aber so lassen, können Sie den Laden zu machen, denn noch eklatanter könnten die Falschinformationen nicht sein: Sie schrieben von 17.000 Menschen in Berlin - schauen Sie im Internet, die Bilder zeigen unmissverständlich mindestens eine halbe Millionen Menschen. Die WEIGERN sich gerade zu gehen - und TP bringt dieselben Fakes wie alle andern: 17.000 sind nach Hause gegangen. Können Sie machen - aber dann ist Telepolis tot."
Und ein Leser beschwerte sich: "Telepolis: Seit einigen Jahren ein unterirdischer Abklatsch dessen, was ansonsten mit diversen Schimpfworten belegt wurde und auch zu Recht belegt wird. Herr Rötzer, Sie als verantwortliche Entität für das, was hier publiziert wird: Möchten Sie sich erklären? Mindestens 1,3 Millionen lokal auf der Straße, eine Vielzahl dessen davon im Herzen moralisch unterstützend dabei. Und Sie, Herr Rötzer, lassen einen Herrn Pany hier weiter die Propaganda der neuen Reichführung und die offiziellen Hassbotschaften spucken. Schämen Sie sich nicht?"
Im Forum zum Artikel fand die Auseinandersetzung natürlich auch statt. Je nach Weltbild glaubt man den aufgeblähten Zahlen oder eher den sicherlich kleingerechneten der Polizei. Dass die Veranstalter regelmäßig mehr an Teilnehmern sehen als andere Beobachter, zumal staatliche, ist bekannt. Die rechtsoffene Anti-Corona-Maßnahmen-Bewegung, die sich durch den Aufruf von Querdenken 711 in Berlin versammelte, regt interessanterweise links- und rechtsextreme Gruppen zu Aufstandsphantasien an.
So sieht die Rote Fahne, die von 1,2 Millionen Teilnehmern spricht, alle anderen Angaben der Lügenpresse zuordnet und "Stopp Desinformation" fordert, einen Umsturz nahen, der aber irgendwie national sein soll, mit einem nationalen Programm und einer Regierung der nationalen Einheit und "Arbeiter- und Volksräten in den Städten". Nationales findet Martin Sellner von den Identitären auch gut.
Er ist begeistert von den Massen, die "den Globalisten panische Angst" machen, weil sie über die Menschen "die Gedankenkontrolle verloren" hätten: Sie würden ahnen, dass diese Masse auch kritische Meinungen zu anderen "Tabuthemen" hat, und wenn die Masse sich dessen bewusst werde und "den 'heiligen' Gral der globalen Dominanzstrategie, den Bevölkerungsaustausch ins Visier nimmt, ist es aus. Sie haben Angst und (derzeit) keinen Plan. Wir schon." Auch wenn es nichts Neues ist.
So werden alle vereint, die gegen die "Reichsführung" sind, dabei sind auch NPD und AfD. Dabei ist auch Rubikon, das den "Tag der Freiheit" anpreist und unhinterfragt Michael Ballweg von Querdenken 711 anordnen lässt, dass die Pandemie mit der von ihm organisierten Bewegung beendet wird. Man muss nur wollen, alles ist ein Spuk, das Virus eine Lüge. Jens Wernicke, Herausgeber von Rubikon lobt sich und KenFm, nicht auf die "gewaltigsten Propaganda-Lügen" hereingefallen zu sein, "die ich jemals erleben musste".
Es geht wieder um die Zahlen. Da gibt es die Einheitsfront aller Medien und die Leuchttürme der Wahrheit, die Zeugen zu Wort kommen lassen, die nach ihren Eindrücken sagen, dass es "knapp eine Million" gewesen seien. Es würden Tatsachen verdreht, das sei nicht fair. Der blaue Bote, der von den Zahlen der "Diktatur" spricht, zitiert dann irgendwelche Menschen, die die Teilnehmerzahl schon mal auf 1,8 oder sogar 5 Millionen beziffern.
Am Nachmittag verbreiteten Demo-Veranstalter Querdenken 711 bereits die Zahl von angeblichen 1,2 Millionen Teilnehmern, die dann noch auf 1,3 Millionen erhöht wurde. Da lässt sich auch der AfD-Abgeordnete Stephan Protschka nicht lumpen und hält mit den 1,3 Millionen mit: "Der deutsche Michel wacht auf." Verglichen wurde dies mit Teilnehmerzahlen der Loveparade. Es sei die "größte Versammlung von Menschen, die die Bundesrepublik je gesehen hat". Man habe "Historisches geleistet", schließlich stehe man dort, wo der Arbeiteraufstand 1953 stattgefunden hat. Spätestens in zehn Jahren werde die Straße des 17. Juni die Straße des 1. August 2020 heißen. Selbstüberschätzung und Populismus sind nicht zu übersehen.
Jetzt haben wir den Salat. Die alternativen Medien und die sehr gemischten Anhänger der Corona-Bewegung werfen den sogenannten Mainstreammedien Fake News und bewusste Lügen vor, die Mainstreammedien wie die tagesschau sprechen ebenfalls mit vergleichenden Bildern und Beobachtern von "maßlosen Übertreibungen". Wir haben das schon mal beim Amtsantritt von Donald Trump gesehen. Die einen wollen ihre Anhängerschaft aufblähen und zeigen Bilder von dichten Menschenmengen, die anderen bezweifeln die Angaben und zeigen Bilder von nicht gefüllten Flächen. Es werden alternative Fakten präsentiert und jede Seite bezichtigt die andere der Lüge. Lakonisch der Kommentar:
Wie man es dreht und wendet. Es waren mindestens 2 Milliarden Menschen gestern in Berlin.
Man darf davon ausgehen, dass die Teilnehmerzahl größer war, als von der Polizei berichtet, wahrscheinlich einige Zehntausende, vielleicht knapp Hunderttausend. Bilder wie sie Günter Klein vom Münchner Merkur gegenüberstellt, bestärken Zweifel an den Millionenangaben. Die Berliner Zeitung berichtet:
Die Berliner Zeitung besorgte sich deshalb damals eine Vermessungskarte des Bezirksamtes, in der Breite und Länge der Straße des 17. Juni zwischen Platz des 18. März und Großem Stern eingezeichnet sind. Demnach hat die Straße in dem Bereich eine Fläche von etwa 77.000 Quadratmeter. Die Polizei zählt die Besucher nach einer seit Jahren angewandten Faustregel: pro Quadratmeter Veranstaltungsfläche können bis zu vier Menschen dicht gedrängt stehen. Daraus ergibt sich eine Höchstkapazität von gut 300.000 Menschen, wenn man Bühnen und andere Flächen beanspruchende Aufbauten ignoriert.
Doch am Sonnabend waren auch auf dem Höhepunkt der Kundgebung weite Flächen dieser achtspurigen Straße frei. Gleichwohl legen die Übersichtsaufnahmen nahe, dass es wohl mehr als 20.000 Teilnehmer waren - aber mit Sicherheit keine Million. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Polizei irgendwann die Zugänge zu dem Platz sperrte mit der Begründung, er sei überfüllt. Viele Demonstranten standen an den Absperrungen.
Berliner Zeitung
Die Taz kommt zu einer Einschätzung der Teilnehmerzahl, die in etwa der der Polizei entsprechen würde. Was man sieht, hängt sehr von der Perspektive ab. Kann man dieses Video für eine Abschätzung ernst nehmen? Die Veranstaltungsorganisatoren hätten Luftaufnahmen machen müssen, was sie nicht gemacht haben (bitte mitteilen, wenn es solche Bilder gibt). Nach einigen, die es gibt, scheint die Zahl von einer Teilnehmerzahl von mehr als einer Million tatsächlich maßlos übertrieben oder Ausdruck eines Wunschdenkens zu sein, das ebenso wie Pandemie die Wirklichkeit ins Abseits stellt, um sich als alternativ, kritisch oder subversiv darzustellen.
Aber gleich, ob wir Beobachter vor Ort oder über Medien waren, ist uns ein objektiver Blick verwehrt und legt sich eine ideologische Perspektive über die "Nachrichten". Die sich selbst als alternativ bezeichnenden Medien sind nur eine Partei mit eigenen Interessen, sich in den Vordergrund zu spielen. Skepsis gegenüber dem Tumult auf dem Marktplatz ist gefragt. Die ist gefragt als Aufklärung über die Besserwisser, aber als Rattenfänger von Hameln kann man da nicht wirken.