AIDS im nachkolonialen Afrika - Auftakt zur Epidemie

Seite 2: Apartheid im Herzen Afrikas

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Um 1960 lebten etwa 88.000 Belgier im Kongo. In der Mehrzahl dem Mittelstand zugehörig, leisteten sie als Kleinhändler, Angestellte, Techniker, Lehrer und Ärzte ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Beim Überangebot billiger einheimischer Arbeitskräfte profitierten sie von Dienstleistungen, die ihnen in Belgien kaum zur Verfügung gestanden hätten. Hinzu kamen eine subventionierte Infrastruktur und rechtliche Freiheiten, welche ihnen das Bewusstsein oder besser gesagt die Illusion vermitteln sollte, zum Establishment zu gehören.

Von den ausgesprochenen Nutznießern des Systems dürften nur die wenigsten jemals im Kongo gewesen sein. Gemeint sind die Aktionäre und Bosse der anglo-belgischen Union Minière du Haut-Katanga sowie anderer Großunternehmen im Rohstoffhandel.

Die Verwaltung orientierte sich an Britisch-Indien. Ein Großteil der einheimischen Bevölkerung lebte auf dem Lande und unterstand ihren einheimischen Häuptlingen in traditioneller Gerichtsbarkeit. Wirtschaftszonen und Städte wurden dagegen direkt von der belgischen Administration gelenkt, der auch die afrikanischen Angestellten in Polizei, Militär und Verwaltung untergeordnet waren.7

Die sichtbare Abgehobenheit der weißen Oberschicht, zementiert durch eine rassistische Gesetzgebung, wirkte wie eine Zielscheibe. Obwohl die Stadtbevölkerung sowohl ökonomisch als auch rechtlich besser als die Landbevölkerung stand, blieb sie einer strikten Rassentrennung unterworfen. Wie jede kongolesische Stadt bestand Leopoldville aus einem weißen und einem schwarzen Stadtteil mit getrennter Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser, Geschäfte, Kinos, Restaurants usw.) Über die Primarschule hinausgehende Bildungsmöglichkeiten waren für Afrikaner nicht vorgesehen, sodass es außergewöhnlichen Ehrgeiz erforderte, diese zu erkämpfen.

Die höchste Stufe des sozialen Aufstiegs für einen Afrikaner war in Belgisch-Kongo an einen Einschreibungsnachweis (attestation d’immatriculation) geknüpft. Mit diesem Dokument war er rechtlich zumindest den weißen Ausländern, also Europäern ohne belgische Staatsbürgerschaft gleichgestellt. Sein Erwerb erlaubte die Mitnutzung der höherwertigen Infrastruktur, welche für die weiße Bevölkerung vorgesehen war.

In einer abgeschwächten Vorstufe konnten sich Kongolesen um die Bescheinigung staatsbürgerlicher Leistung (carte du mérite civique) bemühen, welche unter anderem das Privileg einräumte, bei eventueller Bestrafung nicht mehr ausgepeitscht zu werden. (Für den Rest der Einheimischen wurde diese Praxis erst 1955 abgeschafft.) Mit dem Dokument galt ein Kongolese als "fast zivilisiert", was verständlicherweise als Demütigung empfunden wurde. Doch die Etappen der Emanzipation waren an langwierige, oftmals entwürdigende Aufnahmeverfahren gebunden. Im Jahre 1959 waren unter 14 Millionen Kongolesen nur 1557 im Besitz der carte du mérite civique, während 217 von ihnen eine attestation d’immatriculation besaßen. (Details zur rechtlichen Abstufung, Vergabepraxis und den Auswirkungen findet man bei C. Braeckman8, N. Tousignant9 sowie D. Tödt10, letzteres in deutscher Sprache.)

Hinter der Schikane stand ein durchdachtes System. Die belgische Oberschicht betrachtete die Politik ihrer französischen und britischen Nachbarn zur Formung einer einheimischen Elite als Fehler, da ebendiese früher oder später eine Machtkonkurrenz darstellen würde. Pas d’élites, pas d’ennuis! (keine Eliten, keine Scherereien) lautete der Wahlspruch, den man in einer Zeit umzusetzen versuchte, die vom Zerfall des weltweiten Kolonialsystems gezeichnet war.

Die Herabstufung von Afrikanern zu Bürgern zweiter Klasse im eigenen Land und die gesetzlich verordnete Rassentrennung nach Hautfarben sorgten erwartungsgemäß dafür, dass rassistische Ressentiments von allen Richtungen Auftrieb erhielten. Gleichzeitig garantierte sie die enge Bindung der weißen Minderheit an das System, welches nicht nur ihre Lebensweise, sondern ihr physisches Überleben absicherte.

Offene Arroganz wird den Mächtigen selten verziehen

Am 4. Januar 1959 entwickelte sich in Leopoldville aus einer nichtgenehmigten Versammlung der Unabhängigkeitspartei Abako (Association des Bakongo pour l'Unification, l'expansion et de la Défense de la Langue Kikongo) plötzlich eine unerwartete Situation: Nach Schüssen eines Polizeibeamten zog eine Menschenmenge, der sich fast die Hälfte der afrikanischen Stadtbevölkerung anschloss, durch die Stadt. Ein harter Kern der Demonstranten randalierte. Zur Zielscheibe wurde alles, was sich irgendwie mit der weißen Hautfarbe assoziieren ließ: Einrichtungen und Personen, unabhängig von deren Geschlecht, Alter oder persönlicher Einstellung.

Den Soldaten der kongolesischen Force Publique gelang es unter beträchtlichem Aufwand, das weiße Stadtviertel vor einer Plünderung zu schützen. Zur Bilanz der Ereignisse zählten zwischen 250 und 500 Toten unter der afrikanischen Bevölkerung und ein bleibender Schreck unter den Weißen.11 Erstmals in der Kolonialgeschichte wurden die afrikanischen Truppen durch ein beträchtliches Kontingent aus dem Mutterland ergänzt, während die belgische Regierung nun hastig darüber nachdachte, wenigstens die Filetstücke der Beute zu retten.

Die Nutznießer des Systems (französische Karikatur). Um den Hauptprofiteur oben zu halten, musste man die beiden anderen durch geeignete Einheimische auswechseln. Bild: L'assiette au beurre, n 110, 1903 / BnF (Bibliothèque nationale de France).

Machtwechsel?

In der belgischen Bevölkerung, die keine ähnlichen Privilegien besaß und weniger von kolonialem Herrschaftsbewusstsein durchdrungen war, gab es kaum Opferbereitschaft, für eine abgehobene Kaste in einem Krieg fern der Heimat die eigene Haut zu Markte zu tragen. 1960 schwenkte die Regierung in Brüssel, die bisher starr am Kolonialstatus festgehalten hatte, innerhalb weniger Monate überraschend um. Falls Unabhängigkeit darin besteht, durch Korruption einer kleinen lokalen Oberschicht in den Besitz aller wesentlichen Güter zu kommen, wäre sie sogar rentabler als das alte System. Im Grunde war die Idee nicht einmal originell, sondern nur die Erweiterung des erprobten Prinzips, Drecksarbeit durch eine gekaufte Schicht Einheimischer erledigen zu lassen.

Unter der Vielzahl regional und ethnisch organisierter politischer Bewegungen unterschied sich der MNC (Mouvement National des Congolais) durch seine Offenheit, die gesamte Bevölkerung von Belgisch-Kongo zu repräsentieren. Eine seiner Führungspersönlichkeiten war der charismatische Patrice Lumumba. Zu den Erwerbstätigkeiten des jungen Teilzeitjournalisten gehörte auch die Arbeit als Handelsvertreter und kaufmännischer Direktor einer Brauerei - für Kongolesen damals eine ungewöhnlich hohe Position.

Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass Lumumbas Ansichten kommunistisch geprägt waren. Bereits im Anschluss an die Brüsseler Verhandlungen im Februar 1960 hatte er sich in die BRD begeben, um vor Vertretern aus Politik und Wirtschaft eine schriftliche Garantie zum pro-westlichen Kurs seiner Partei abzugeben (siehe T. Gülstorff12). Er ließ es jedoch an der nötigen Unterwürfigkeit fehlen, als König Baudouin in seiner Abschiedsrede am 30. Juni 1960 die zivilisatorischen Verdienste von Léopold II lobte. Damit hatte er sich als Vertreter belgischer Interessen disqualifiziert.

Wegen des katastrophalen Fachkräftemangels wäre auch ein unabhängiger Kongo auf die Hilfe belgischer Spezialisten angewiesen. Eine Gruppe von Politikern, Militärs und Technokraten beschloss, diesen Zustand auszunutzen.

Der Historiker Hugues Wenkin veröffentlichte 2017 ein vom 12. Juli 1960 datiertes Memorandum. Das Papier aus der Feder eines Beraters von Ministerpräsident Eyskens wurde zur Vorbereitung einer Kabinettssitzung verfasst, wo die Errichtung eines Militärprotektorats über die ehemalige Kolonie diskutiert werden sollte. Gleichzeitig sollte die Abspaltung einzelner Regionen gefördert werden. "Im Interesse des Kongo und von Belgien" wurde außerdem die Ermordung von Lumumba ins Auge gefasst. (Der vollständige Text in französischer Sprache findet sich bei Wenkin13, S. 204.)

Unter Berücksichtigung dieser Notizen erscheinen historische Ereignisse in einem anderen Licht. Am 5. Juli 1960, sechs Tage nach der Unabhängigkeitserklärung, provozierte Generalleutnant Émile Janssens seine afrikanischen Untergebenen in der Kaserne von Léopoldville mit einer Rede14, wobei er den Spruch "avant l’indépendance = après l’indépendance" (vor der Unabhängigkeit = nach der Unabhängigkeit) an eine Wandtafel schrieb. Aufgrund ihrer Herkunft hatten Kongolesen auch künftig keinerlei Beförderung in höhere Offiziersränge zu erwarten.

Général Janssens im Gespräch mit dem kongolesischen Premier Patrice Lumumba. Bild: H. Wenkin, mit freundlicher Genehmigung der Edition O. Weyrich

Es war dieselbe alte Arroganz der Macht, welche nun eine Rebellion der Armee entfachte. In der Kaserne von Thysville kam es zu brutalen Übergriffen der Soldaten auf ihre Vorgesetzten und deren Familien. Ehefrauen der Offiziere wurden vor den entsetzten Augen ihrer Kinder von Soldaten vergewaltigt. Die Unruhen griffen rasch auf Truppeneinheiten in Luluabourg, Élisabethville und Matadi über, wo sie von wahllosen Plünderungen der weißen Stadtviertel begleitet wurden. Während Lumumba die Auflösung seiner Armee vor Augen stand, erhielt er von den ehemaligen Machthabern ein "Hilfeangebot".15 Sie hatten ihre Truppenkontingente zuvor beträchtlich aufgestockt und glaubten sich imstande, ihre technische Überlegenheit ausspielen zu können.

Wäre die militärische Unterstützung von der kongolesischen Regierung angenommen worden, so hätte sie ihren Rückhalt in der Bevölkerung verloren und wäre de facto wieder in die alte Abhängigkeit zurückgekehrt. Lumumba lehnte folgerichtig ab, entließ stattdessen Janssens und startete zusammen mit dem Präsidenten Kasavubu eine Reise durch das Land. Vor den Kasernen leitete er umgehend die Afrikanisierung der Kader ein, wodurch sich die Situation vor Ort sichtlich beruhigte. Indessen hatte das belgische Kabinett ungefragt beschlossen, das Problem auf seine eigene Art zu lösen.

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