ARD-Faktenfinder zur Übersterblichkeit: Wie eine wissenschaftliche Diskussion verwirbelt wird

Debattenkultur zur Übersterblichkeit im Corona-Jahr 2022: Wie man unsachlich eine Richtung vorgibt und wie das besser geht. Der politisch wichtigste Akteur schweigt.

Die Verbindung mit den Querdenkern wird vom ARD-Faktenfinder gleich zu Anfang eines Artikels über eine Studie zur Übersterblichkeit hergestellt. Zwar geht aus der Darstellung hervor, dass es zur Sache eine laufende Diskussion geht. Aber sie wird mit dem Einstieg in eine Richtung geschoben.

Das nennt man Framing. Das ist im Fall des ARD-Faktenfinders, der auf der Seite der Tagesschau erscheint, relevant angesichts der Reichweite, die man hat, der Seriösität, die man im Nachrichtengeschäft für sich reklamiert. Die Tageschau verfügt über eine Autorität, wenn es darum geht, wie Nachrichten in der Öffentlichkeit eingeordnet werden.

Platzanweisung

Was in einem Bericht dort von Anfang an als politisch gefährlich dargestellt und im zweiten Absatz mit der Experten-Sicht "aus mehreren Gründen falsch" bewertet wird, betreibt mit kräftigen Signalen, zumal für Schnellleser, Lotsendienst und vollführt eine Platzanweisung, bevor noch die sachliche Auseinandersetzung mit Fakten beginnt.

Einzelne Passagen und Grafiken der Studie werden in diversen Verschwörungskanälen auf Telegram geteilt und dienen als vermeintliche Belege für die Gefahr der Corona-Impfstoffe. Doch diese Schlussfolgerung aus den Studienergebnissen ist aus Sicht von Experten aus mehreren Gründen falsch.

ARD-Faktenfinder

Es geht um eine Studie von Matthias Reitzner und Christof Kuhbandner. Ist die gefährliche Wirkung wichtiger, dass man ihr den ersten Platz einräumt, oder die wissenschaftliche Debatte? Man muss politisch korrekt, pädagogisch von Anfang an auf die Leser aufpassen, dass sie die Sache auch in den richtigen Kanal bekommen?

Immerhin, ja, die Sache ist brisant, denn es stehen heikle Felder in der Diskussion: Übersterblichkeit, Corona und die Corona-Impfung. Und noch dazu eine Studie von Kuhbandner.

"Eine wissenschaftliche Debatte"

Man kann das aber auch anders präsentieren und trotzdem gleich auf die schwierigen Themen zugehen, wie es die Berliner Zeitung schon in der Überschrift demonstrierte, die gleich klarmacht, dass nicht der "Wirbel" (Überschrift des Faktenfinders) die Hauptsache ist, sondern die sachliche Auseinandersetzung: "Führten Corona-Impfungen zur Übersterblichkeit? Eine wissenschaftliche Debatte".

Und im Untertitel: "Eine Studie hat für 2021 und 2022 auffällige Daten zur Übersterblichkeit ergeben. Forscher streiten sich, ob dies etwas mit den Impfungen zu tun haben könnte."

Übersterblichkeit ist eine rechnerische Abschätzung, die nach Modellansätzen berechnet wird, wie an dieser Stelle der Statistiker Günther Eder erklärte. Er kommt mit seinem Ansatz zum Phänomen einer Übersterblichkeit im Jahr 2022, die er als rätselhaft bezeichnete.

Eine auffällige Übersterblichkeit im Jahr 2022 ist auch das Ergebnis der Studie von Christof Kuhbandner und Matthias Reitzner, die peer-reviewed wurde.

Im Faktenfinder heißt es, dass zwei Statistiker der Universität München, Giacomo De Nicola und Göran Kauermann, zwar finden, dass die Studie "sorgfältig durchdacht und erläutert" sei.

Aber die Entwicklung der Sterbefälle anhand des Modells der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), ein Standardmodell aus der Versicherungsmathematik - die Grundlage für die Abschätzung der Übersterblichkeit in der Kuhbandner-Studie -, "halten die beiden für falsch gewählt".

In der Berliner Zeitung werden Giacomo De Nicola und Göran Kauermann so wiedergegeben:

"Der methodische Teil der Arbeit einschließlich der Ergebnisse ist sorgfältig durchdacht und erläutert", schreiben die Statistiker Göran Kauermann und Giacomo De Nicola von der Universität München, die wir um eine Begutachtung der Studie gebeten haben, an der sie selbst nicht beteiligt sind. "Die Autoren berücksichtigen und diskutieren wirklich jede Wahl, jeden Aspekt, jede Entscheidung, mit der sie konfrontiert wurden, und erläutern ihre Entscheidungen transparent."

Berliner Zeitung

Doch haben die beiden preisgekrönten Statistiker aus München auch Einwände zur Methode. Sie würden "unter anderem die Frage stellen", so die Zeitung, "ob der dort verwendete 'Sterblichkeitstrend' vielleicht zu stark sei, vor allem, was das Jahr 2022 betrifft".

Rede und Gegenrede

Der Artikel listet noch mehr kritische Punkte der beiden Forscher auf. Im Unterschied zum Faktenfinder liefert er aber zu jedem Einwand der Begutachter auch die Reaktion der Studienverfasser darauf.

Ein Ausschnitt. Die Kritik:

Darüber hinaus seien wiederum nach den Berechnungen der (Studien-) Autoren die 60- bis 79-Jährigen für etwa 92 Prozent der Übersterblichkeit in der Gruppe der 15- bis 79-Jährigen verantwortlich, sodass die Zusammenfassung der 15- bis 79-Jährigen eine voreingenommene Sichtweise ergebe. "Mit anderen Worten: Es gibt keine Grundlage dafür, dass ein Anstieg der Sterblichkeit in den jüngeren Altersgruppen zu dem von den Autoren festgestellten Anstieg der gesamten Übersterblichkeit geführt hat."

Berliner Zeitung

Und die Reaktion:

Dem entgegnen die Autoren, dass sie gar nicht bezweifelten, dass die höheren Altersguppen den größten prozentualen Anteil an den aufgetreten Todesfällen haben. Ihnen gehe es in ihren Aussagen aber darum, "um wie viel Prozent mehr Personen als erwartet pro Altersgruppe verstorben sind – also auf die Übersterblichkeit pro Altersgruppe".

Wenn in den Arbeiten der Münchner Kollegen die jüngeren Altersgruppen feiner aufgelöst wären, würden sie möglicherweise "einen vergleichbar starken Anstieg zum Jahresende für die Altersgruppen unter 50 finden", schreiben die Autoren. Und sie bieten an, eine Diskussion zu führen, bei der man möglicherweise "in fast allen Punkten zu einer gemeinsamen Sichtweise kommen könnte".

Berliner Zeitung

Was den Zusammenhang mit der Corona-Impfung betrifft, so sind Kauermann und De Nicola sehr vorsichtig: "Hier gibt es viele potenzielle (und plausible) Erklärungen, so dass aus den vorgelegten Daten aus unserer Sicht keine Schlussfolgerungen in Bezug auf Impfungen gezogen werden kann". Man wolle "reinen Spekulationen" nicht nachgehen.

Es gebe aus statistischer Sicht wenig Hoffnung, "dass man hier empirisch nachweisbar argumentieren kann".

Die Erklärung der Studienautoren Matthias Reitzner und Christof Kuhbandner relativiert ebenfalls: Man wünsche ebenfalls eine methodisch solide, wissenschaftliche Debatte darüber, "welche Ursachen hinter der beobachteten Übersterblichkeit bis in die jungen Altersgruppen hinein stehen".

Covid-Impfungen sollten als "eine mögliche Ursache unter vielen" weiter betrachtet werden.

Sie fragen sich, warum solche Hypothesen "von vielen von vornherein als nicht diskussionsrelevant angesehen werden".

Berliner Zeitung

Was fehlt

Es wäre vor allem Aufgabe staatlicher Behörden hier zu Klärung beizutragen. Doch schweigt man dort zu diesem wichtigen Thema, das derart für "Wirbel sorgt", wie der Faktenfinder konstatiert.

Eine Mail mit Fragen zur Übersterblichkeit, die Telepolis Anfang Juni an das Bundesgesundheitsministerium (BMG) geschickt hat, blieb bis heute unbeantwortet.