Ab in die Mitte?
Die gesellschaftliche Rolle der Innenstadt - und unser aufgeladenes Verhältnis zu ihr
Es war einmal ein Bauer, dem lief seine herrliche Stute davon. Sofort kamen die Nachbarn: "Du bist sicher sehr traurig", sagten sie. Doch der Bauer antwortete nur: "Vielleicht". Eine Woche später kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wieder kamen die Nachbarn: "Du bist jetzt sicher sehr glücklich." Und wieder antwortete der Bauer nur: "Vielleicht". Beim Versuch, auf einem der Wildpferde zu reiten, brach sich der Sohn des Bauern ein Bein. "So ein Pech", sagten die Nachbarn. "Vielleicht", antwortete der Bauer. Drei Tage später kamen Offiziere, um Soldaten zu rekrutieren. Sie nahmen alle jungen Männer mit - nur den Sohn des Bauern nicht, weil er für den Kriegsdienst untauglich war.
Wer sich mit der Zukunft der Stadt beschäftigt, kann aus dieser Geschichte lernen, dass es nicht nur "eine" Sichtweise und nicht nur "eine" Zukunft gibt. Denn nicht alles, was möglich ist, ist auch realistisch. Und nicht alles was machbar ist, ist auch wünschenswert. Wobei natürlich "die Zukunft der Stadt" ohnedies ein recht hochgegriffenes Thema darstellt. Da sollte man wohl besser eine Eingrenzung vornehmen. Und nolens volens ist man bei der Innenstadt. Denn sie - und nur sie - hat die appellative Kraft, um die Frage nach dem Morgen so zu stellen, dass sie nicht nur von akademischem Interesse ist.
Dabei ist es noch gar nicht besonders lange her, dass die Innenstadt bloß als City wahrgenommen wurde, die man regelmäßig zum Shoppen, mitunter für eine Museumsvisite aufsuchte oder um die notwendigen Bankgeschäfte und Behördengänge zu absolvieren, ansonsten aber mied - nicht zuletzt, weil um 18.00 Uhr eh die Bürgersteige hochgeklappt wurden. In einem schleichenden, jahrzehntelangen Prozess wurden unsere Zentren ausgezehrt, indem sie viele vitale Funktionen verloren: Das Wohnen flüchtete zu einem flächenhaften Ein- und Zweifamilienhausbau nach draußen "ins Grüne"; und auch Produktion und Verkauf verorteten sich verstärkt in der Peripherie, wie all die Einkaufs-, Outlet- und Logistik-Center im Umland unübersehbar demonstrieren.
Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass die Kerne der Städte ihre gestalt- und funktionsbestimmende Rolle augenscheinlich behalten haben. Just das illustriert der normale lebensweltliche Blick: Selbst wenn wir in Frankfurt oder Dortmund, in München oder in Leipzig leben, reden wir davon, dass wir "in die Stadt gehen", und meinen damit ganz selbstverständlich die Innenstadt. Sie bietet uns eben das, was wir sonst nirgendwo so recht finden können: Sie stellt den emotionalen Ankerpunkt unserer Stadterfahrung dar. Sie ist mehrdimensional und vielschichtig. Sie steht für Einmaligkeit, Charakter und Authentizität, im Gegensatz zu künstlich geschaffenen, seriell hergestellten Situationen ohne Kontext- und Geschichtsbezug. Sie ist lebendig, offen und vielfältig in ihrer Gestaltung und Nutzung, gleichwohl ausgestattet mit spezifischen Eigenschaften - und einer symbolischen Kraft. Hier finden wir - in der einen Stadt mehr, in der anderen weniger - die originellsten Geschäfte, das umfassendste Warensortiment und die spannendste Einkaufsatmosphäre, zugleich aber auch die größten und interessantesten Museen und Ausstellungshäuser.
Thesen von der Auflösung der Stadt haben sich nicht bewahrheitet
So nimmt es nicht wunder, wenn die multifunktionale Innenstadt heute implizit zum Leitbild einer zukunftsfähigen Stadtentwicklungspolitik avanciert ist. Sie erweist sich als das Pfund, mit dem die kommunale Politik wuchern will, ob in Hamburg, Heidelberg oder Hof. Nun erfreut sich das weitgehend konfliktfreie Zusammenspiel von Dienstleistung, Handel, Kultur, Wohnen, Verkehr und Freizeit allerorts einer hohen Wertschätzung. Lange Zeit aber gab es da keinerlei Gewissheiten. Zu diffus war das Bild, das von Auflösungserscheinungen der Industriegesellschaft skizziert wurde, zu unsicher der Prospekt, wie mit den massiven Bevölkerungsverlusten umzugehen sei. Setzt man auf die richtige Karte, wenn man am Bestehenden festhält und in überkommene (Bau)Strukturen investiert?
Längst nicht mehr schien ja die Ballung von Bewohnern und Betriebsstätten notwendig - der eine zieht dem Job hinterher, der andere vor die Stadt. Medien versorgen flächendeckend jeden jederzeit; urbane Qualitäten wie Kommunikation, Dichte, Anonymität und Liberalität sind nicht mehr zwingend an städtische Wohn- und Arbeitsformen gebunden. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren stellt man sich bang die Frage: Macht sich die Stadt als das wichtigste Erfolgsmodell der Zivilisation nicht selbst überflüssig? Doch dafür spricht heute kaum eine theoretische Analyse, kein empirischer Befund und schon gar keine emphatische Meinung.
Im Gegenteil: Mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, dass es die Innenstädte sind, die die wirtschaftlichen Motoren ganzer Landstriche darstellen. Die Zentralen der großen Unternehmen und vor allem Dienstleistungsunternehmen siedeln sich regelmäßig in der City an. Hier sind auch die Universitäten und viele Forschungsinstitute, die wesentliche Teile des kreativen Milieus einer Region bilden. Hier entstehen Innovationen, neue Forschungserkenntnisse und neue Produkte, die für neue Arbeitsplätze unverzichtbar sind. Weshalb, pathetisch gesprochen, den Zentren der Städte und Gemeinden eine entscheidende Rolle für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zukommt. Zumal hier der wichtigste Rohstoff für die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts wächst: Wissen.
Freilich geben vitale Innenstädte auch einen immer wichtigeren Wohnstandortfaktor für hochqualifizierte, jüngere Arbeitskräfte als Träger wissensbasierter Entwicklungsdynamik ab. Sie verlangen nicht nur nach guten Wohnungen und erstklassiger Infrastruktur und Kultur. Sie wollen ein lebendiges Umfeld mit eigenem, möglichst unverwechselbarem Charakter. Das bieten nur solche Städte und Gemeinden, die ihre Einzigartigkeit pflegen und entwickeln.
Handel und Vielfalt
Innenstädte sind traditionell Orte von Handel und Wandel. Heute bildet der zentrale Geschäftsbereich mit Einkaufsstraßen und Bürostandorten den Kern der Innenstadt. Eine Vielfalt an Geschäften trägt zur Lebendigkeit dieser Zentren bei, doch der Strukturwandel des Einzelhandels schlägt sich in der gesamten Innenstadt nieder. Die Krise der Kauf- und Warenhäuser macht schlaglichtartig den Zusammenhang zwischen Innenstadt, Einzelhandel und Stadtentwicklung deutlich. Gleichzeitig bedrohen Trends wie Filialisierung und Banalisierung des Einzelhandels die Attraktivität der Stadtzentren. Veränderte ökonomische Rahmenbedingungen und ein nach Einschätzung Vieler zu großes Flächenangebot im städtischen Umland unterminieren den innerstädtischen Einzelhandel - und gefährden damit (nicht nur) dessen ökonomische Grundlage.
Die Innenstadt stellt aber auch den wohl wichtigsten Ort sozialer und ethnischer Integration dar. In der zunehmend bunten Stadtgesellschaft haben sich in den vergangenen Jahrzehnten neue Lebensstile und Milieus herausgebildet. In der Innenstadt liegen diese Milieus oft in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. Neben dem vollsanierten Gründerzeitquartier - als Wohnort gutverdienender Akademikerhaushalte ohne Kinder - liegt ein unsaniertes Altbau- oder Nachkriegsquartier, in dem Familien (auch ausländischer Herkunft) mit eher niedrigem Einkommensniveau und junge Menschen in der Ausbildung leben.
Die Entwicklung der Vielfalt stellt eine Bereicherung dar, wobei freilich gerade in den Innenstädten eine zunehmende soziale Polarisierung zu verzeichnen ist, der man politisch etwas entgegen stellen muss. Mietpreisgünstige Altbauviertel mit geringerem Ausstattungs- und Sanierungsstandard sind typische Wohn- und Anlaufquartiere für Personen ohne deutschen Pass. Zumal lokale Ökonomien von Migranten, z.B. in den Bereichen Gastronomie und Versorgung des täglichen Bedarfs, eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung haben und einen essentiellen Beitrag für die Vielfalt in den Innenstädten darstellen.
Doch auch als Ort der Kultur und des Erlebens ist die Innenstadt - trotz Internet und vielfältiger medialer Angebote - gesellschaftlich unverzichtbar. Mögen Museen, kommerzielle Freizeiteinrichtungen oder Großveranstaltungen wie Musik- und Sportereignisse auch als die großen Besuchermagneten daher kommen, so bleibt die Innenstadt doch der wichtigste Standort für zentrale kommunale Einrichtungen für die Bürger. Der allerdings aktuell durchaus bedroht ist. Will man eine ausgewogene Entwicklung sicherstellen, dann muss man kommerzielle und nicht kommerzielle Nutzungsinteressen immer wieder neu aushandeln, in Einklang bringen und verbinden. Warum nicht die öffentliche Bibliothek ins innerstädtische Einkaufszentrum integrieren, wenn dadurch Mietkosten reduziert und Besucherzahlen erhöht werden können? Warum nicht in Zeiten zurückgehender Schülerzahlen Schulen im Stadtzentrum konzentrieren? Und eingedenk der Bedeutung des "öffentlichen Raums": Wo Anziehungspunkte fehlen, muss auch unter Einbeziehung der Privaten je nach Ausgangssituation Orte neu geschaffen oder aufgewertet werden.
Dass in der Innenstadt sich deutsche und europäische (Stadt-)Geschichte verortet, gilt allenthalben als Gewissheit. Und die große Anzahl der oft gut erhaltenen historischen Stadtkerne zeigt, dass nicht nur in Groß- und Mittelstädten, sondern insbesondere auch in Kleinstädten dieses Kulturgut gepflegt wird. Damit tragen die Kommunen in Zeiten der Schnelllebigkeit dem Bedürfnis nach Kontinuität und Vertrautheit Rechnung. In gut gefügten Stadtbilder scheint des Menschen Suche nach Geborgenheit ein Ziel zu finden.
Das historische Stadtzentrum ist ein Lehrstück: Selbst das spektakuläreste Bauwerk wird ja erst dann reizvoll, wenn es in einem harmonischen Rahmen steht. Wenn alle Häuser ungewöhnlich sind, dann ist keins mehr besonders. Es ist aber auch unersetzbar, weil zwar alles nachgeahmt werden kann, nicht jedoch seine Geschichtlichkeit und seine Materialisierung, die das besitzt, was die Denkmalpflege den "Alterswert" nennt. Anders ausgedrückt: Die historische Innenstadt ist eng mit dem Leben der Menschen verknüpft und authentisch. Und eben diese Verknüpfung mit dem Leben vermag keine noch so perfekte Nachahmung zu reproduzieren. Weswegen die historische Stadt so weit wie möglich erhalten werden muss.
Trotzdem - oder gerade deshalb - wird die Innenstadt zunehmend auch als Teil der Erlebnisgesellschaft genutzt. Sie mutiert zum touristischen Anziehungspunkt, mithin zum Wirtschaftsfaktor. Besonders den kulturhistorisch wertvollen Innenstädten droht deshalb die Gefahr, zunehmend im touristischen Sinne schön sein zu müssen.
Die neue Wertschätzung der Innenstadt gibt nicht nur Anlass für ungetrübte Freude
Zum einen verfügen längst nicht alle Städte über derart attraktive, sinnlich anmutende und funktional konsistente Stadtkerne, dass diese unmittelbar als Triebkräfte für die urbane Erneuerung wirken könnten. Vielmehr brauchen sie intensivste Zuwendung: In ihrer historischen Substanz oft ausgehöhlt, von überdimensionierten Straßen zerschnitten, die Farbe von den Fassaden blätternd, von Brachen und Baulücken durchsetzt, mangels Kaufkraft nur mehr mit einem unausgewogenen Einzelhandelsangebot ausgestattet, von Arbeitsplätzen oftmals kaum mehr eine Spur. Auf zig Probleme und die vielfältigsten Funktions- und Niveauverluste muss kommunalpolitisch reagiert werden, ohne dass hierfür im nennenswerten Maße zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung stünden.
Und zum anderen gibt es - so unübersehbar wie bedenklich - den Trend, dass manche Städte ihre Aktivitäten allein in die Innenstadt oder in jene citynahen Bereiche lenken, die sich imagekompatibel vermarkten lassen, während an Interventionen in Problemstadtteilen nur wenig Interesse besteht. Gewiss: Städtebau braucht Identifikation und Symbole, er darf aber nicht zur reinen Symbolpolitik werden, darf sich nicht in "Embellissement" erschöpfen.
Weil freilich die Innenstadt auch nicht moralinsaurer zu therapieren ist, sei zum Schluß eine kleine (metaphorische) Spekulation gestattet: Unsere Stadt gehorcht eigenen Gesetzen, die zwar auf Modernisierung ausgerichtet, aber einer bedingungslosen Globalisierung gegenüber resistent sind. Für den oberflächlichen Betrachter hat sie deshalb etwas leichenhaft Schimmerndes im Baudelaireschen Sinne an sich: Existentiell exotisch, comme une femme lubrique.