Abschied von der Zivilisation
Sofia Coppolas "The Beguiled": Vom Leben am Rand des Abgrunds und dem Begehren zwischen Mann und Frau
"The Beguiled", zu deutsch "Die Verführten" ist das Remake eines Films von 1971, der von Regie-Macho Don Siegel stammt, der nicht zuletzt als Regisseur von "Dirty Harry" berühmt wurde. Dessen Hauptdarsteller Clint Eastwood spielte seinerzeit auch die männliche Hauptrolle.
Sofia Coppola hat die Vorlage, die ihrerseits auf einen Roman zurückging, nun neu verfilmt. Dabei "entschlackt" sie den Stoff, streicht Figuren und Handlungselemente und verschiebt an entscheidenden Punkten die Perspektive. So entstand ein Kostümfilm, der den Geist der Gegenwart atmet: Ein Film über das Leben am Rande des Abgrunds, getragen von Schauspielerinnen mehrerer Generationen: Nicole Kidman, Kirsten Dunst, Elle Fanning und Colin Farrell. Vor vier Wochen gewann der Film überaus verdient den Regiepreis in Cannes - jetzt ist "Die Verführten" im Kino zu sehen.
Nothing is more beautiful, than what disappears before our eyes.
Naomi Kawase
"The years creep slowly by Lorena". Gleich zu Beginn wird ein Song gesummt. Er erklingt später noch zweimal, dann versteht man auch den Text. Es ist ein Lied des Horrors und der Sehnsucht: Es ist da die Rede vom Winter, der den Sommer ablöst, von den vielen Monaten, die der Krieg schon dauert, von verlorenen Jahren, von der Erinnerung, die alles übermannt. Das Lied gibt den Ton an in diesem Film.
Eine Männerphantasie, die zu einer Frauenphantasie wird
In der ersten Szene geht ein junges Mädchen summend durch einen sonnendurchfluteten Wald. Sie schreitet mehr, zugleich selbstbewusst und zögernd, zielstrebig und versonnen. Sie sammelt Pilze, etwas später erfahren sie, dass die Gemeinschaft dieses halben Dutzend Menschen, deren Teil sie ist, eine Notgemeinschaft ist. Man leidet Hunger, muss nehmen, was die Natur bietet. Die allerdings wuchert üppig und bietet reichlich. Und im Wald da kann man zwischen Sträuchern und Bäumen so allerhand finden, Unerwartetes, Seltsames: Und so beginnt dieses erwachsene Märchen aus dem Old South.
Eine Männerphantasie, die zu einer Frauenphantasie wird: Ein Soldat der Nordstaaten im US-amerikanischen Bürgerkrieg wird in Virginia, einem Teil des Südens, im Wald schwer verwundet von einem jungen Mädchen aufgefunden. Sie bringt ihn in die nahe gelegene Mädchenschule, in der sie lebt. Dieser Ort ist wie eine Insel für sich, einsam gelegen, abseits von Zeit und Geschichte, und so erzählt dieser Film auch von einer Robinsonade.
John, so heißt der Soldat, darf sich hier bis zu seiner Genesung aufhalten. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn von Anfang an steht im Raum, den Feind, wie es Vorschrift ist, den konföderierten Truppen zu übergeben. Zudem ist dies reine Mädchenschule, und das Wissen darum, dass Frauen im Krieg viele Gefahren drohen, ist auch immer mit präsent.
Versuchungen des Ausnahmezustands
Die andere Seite sind die Versuchungen dieses seltsamen Ausnahmezustands. Neben der Schulleiterin Ms. Farnsworth (Nicole Kidman) gibt es noch die Lehrerin Edwina (Kirsten Dunst) und fünf junge Mädchen, zum Teil noch vor der Pubertät, zum Teil mitten drin oder knapp darüber hinaus wie die kokette Alicia. Elle Fanning spielt die erwachsenste von ihnen. Ein Frauentraum ist das alles auch deshalb, weil die Frauen sich erkennbar freuen, dass da plötzlich ein Mann ist.
Manche spüren ein schon vergessenes Verlangen, mögen "sexuell ausgehungert" sein, wie einer schrieb, andere entdecken Sexualität und Verlangen überhaupt erst. Sie alle sind irgendwie übriggeblieben und haben sich freiwillig oder erzwungenermaßen vor dem Krieg in dieses kleine verwunschene Paradies zurückgezogen, in dem die Zeit stehengeblieben scheint. Nun verändern sie ihr Verhalten. "Seems like the soldier being here is having an effect." Sie werden von seiner Präsenz verführt, von dem, was sie in ihn hineinprojizieren - so wie umgekehrt der Mann natürlich auch verführt wird von den vielen Möglichkeiten, die sich da bieten.
So könnte es sich hier auch um ein Experiment, einen Laborversuch handeln: Die prästabilisierte Harmonie perfekt ausgeglichener, harmonischer Verhältnisse wird durch eine neu hinzukommende Substanz aufgemischt. Die passiv herumhängenden Mädchen werden durch den Neuankömmling aktiviert
Abschied von der Zivilisation (12 Bilder)
Manipulation im Paradies
Coppola zeigt die Schattenseiten des Weiblichen, den Konkurrenzkampf um die Gunst des Mannes. "We can show him some real southern hospitality". Umgekehrt kommt dieser Hahn im Korb auch wirklich nicht gut weg. Denn Colin Farells John ist ein Manipulator, einer der die Situation, in der er sich befindet, gut ausnutzt und die Mädchen und Frauen geschickt gegeneinander ausspielt.
Es geht bei alldem aber eindeutig um subtilere Dinge als darum, wer mit wem irgendwann in ein Bett steigt. Das passiert zwar auch. Aber es ist schon deswegen nicht die Hauptsache, weil wir uns im 19. Jahrhundert und in einer puritanischen Gesellschaft befinden. Sanfte Repression und zur Gewohnheit gewordene Rituale bestimmen den Alltag. So wird beispielsweise regelmäßig gebetet. Es wird aufwändig gegessen, und für das Essen kleidet man sich um. Die Menschen interessieren sich für einander, beobachten sich genau, denn sie haben ja nur sich.
Vom Nebel verweht
Es ist ein System der kleinen, fast unscheinbaren Zeichen, das Coppola hier auf der Leinwand entfaltet. Das ist ihre besondere Filmsprache: Dass sie in der Oberfläche das Mehrdimensionale und Tiefe entdeckt. Auch den Humor. Nie verliert der Film den Sinn für das Kuriose des Geschehens. Coppola ist eine Humanistin, die jeder Figur etwas abgewinnt, ihr ihre Momente gönnt. Das Verstehen ist die Aufgabe des Künstlers. Nicht das Verurteilen. Coppola ist eine Regisseurin, die viel versteht - was aber nicht heißt, dass sie alles verzeiht.
Sie ist eine Filmemacherin des Ästhetischen. Jedes Detail ist sprechend: Man hört schöne Musik, Lieder aus dem Civil War, sieht pastellene, wunderschön gestaltete Bilder, mit Weichzeichner gefilmte Morgennebellandschaften und immer wieder Sonnenuntergänge.
Dieser Ort, die zur Schule umfunktionierte, für eine Handvoll Leute viel zu große Südstaatenvilla mit ihrem prächtigen, etwas heruntergekommenen alten Garten mit Rosen und riesigen Bäumen, ist einer jener typischen Sofia-Coppola-Orte - sehr verwandt dem Hotel in "Lost in Translation", dem Wunderkammer-Versailles mit seinen vielen Fluren in "Marie Antoinette", dem pastellenen Suburbia in "The Virgin Suicides" und dem leerstehenden Paris-Hilton-Haus in "The Bling Ring" mit seinen vollgestopften, überquellenden Zimmern.
Nachts sind die Räume und die hellen Kleider der Mädchen nur vom Kerzenschimmer erleuchtet. Die Gefahren und Bruchstellen bleiben spürbar unter der idyllischen Oberfläche, urplötzlich durchzieht immer wieder ein kühler Hauch die Schwüle: Southern Gothic. Gelegentlich ist von fern Geschützdonner zu hören, sind Rauchschwaden zu sehen - der Krieg bleibt nahe und doch wirkt hier alles wie aus der Zeit und dem Krieg gefallen.
"Was habt ihr gelernt durch unseren Gast?" fragt Kidmans Figur einmal die Mädchen. Elle Fannings Figur antwortet: "That the enemy is not what we expected him to be." Nicht was wir erwartet haben - aber er bleibt der Feind. Nur wird er verstanden, auch emotional. Dieses erwachsene Märchen aus dem Old South ist auch eine Untergangsgeschichte.
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