Abwrackprämie für Wissenschaftsverlage
Open Access - ein wissenschaftspolitischer Krimi mit open end
Spannung entsteht, wie Hitchcock lehrt, durch die bange Erwartung des herannahenden Unheils. Im Zeitalter nanosekundenschneller Informationsflüsse hat die deutsche Regierung bald drei Jahre gebraucht, um ein Gesetz vorzulegen, das sich mit Open Access, d.h. der jedermann zugänglichen Publikation öffentlich finanzierter Forschung im Internet befasst. Das Publikum blickt nun gebannt auf den Bundesrat: Wird er den Entwurf kurz vor Ende der Legislaturperiode, zwei Tage vor der Wahl, am Freitag, den 20. September, noch aufhalten oder nicht?
Die Oppositionsparteien und die Allianz der deutschen Forschungs- und Förderorganisationen haben das Gesetz scharf kritisiert, und ein breites Aktionsbündnis kritischer Wissenschaftler und Institutionen fordert seine Ablehnung, damit die Diskussion über eine wirklich zeitgemäße, den weltweiten Umwälzungen der Wissensverbreitung angemessene Regelung von neuem beginnen kann. Ihnen entgegen stehen das akademische Verlagswesen und eine konservative Professorenschaft, deren Auslegung von "Wissenschaftsfreiheit" Profite, Standesprivilegien und individuelle Autorenrechte über die Allmende des Wissens und das öffentliche Interesse stellt.
Falsche Lorbeeren
Der finale Wurf des Gesetzes "zur Regelung des Zweitveröffentlichungsrechts im Wissenschaftsbereich" ähnelt dem Zierbaum, den der Gärtnergehilfe in Brechts bekannter Parabel solange zurechtstutzt, bis der Gärtner enttäuscht fragt: "Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?" Alle besitzstandswahrenden Ansprüche sind in ihm berücksichtigt, aber so gut wie keiner der fortschrittlichen Änderungsanträge.
Ein Forschungsartikel, sofern er zuerst in einem Wissenschaftsjournal erschienen ist, soll erst zwölf Monate später im Netz offen verfügbar sein, es sei denn, der Autor wählt den sog. "goldenen Weg" und entrichtet dem Verlag eine "Bearbeitungsgebühr" für die sofortige Onlineveröffentlichung. Bei renommierten Zeitschriften kann diese Gebühr an die 4000 Euro betragen. Die Freigabe im Internet auf dem sog. "grünen Weg" soll erst nach dieser Karenzzeit gestattet sein, nur unentgeltlich und nur in der Manuskriptversion. Das Recht auf Zweitveröffentlichung soll allein für Zeitschriftenaufsätze gelten, nicht für die in einigen Disziplinen ebenso wichtigen Konferenzbeiträge; es soll ausschließlich der drittmittelfinanzierten oder außeruniversitären Forschung zuteil werden, nicht aber dem, was Hochschulen an Schriften und Lehrbüchern produzieren.
Man sieht, dem Wohl der Wissenschaftsverlage - vor allem mit Blick auf die deutsche Sozial- und Geisteswissenschaft, in der Drittmittelforschung keine so große Rolle spielt - wurde mit phantasiereichen Einschränkungen Rechnung getragen. Zu einer Art Artenschutzabkommen für Verlagsgewinne wird das Paragraphenwerk jedoch erst durch das, was es verschweigt. Es handelt sich um die juristisch umstrittene aber in der Öffentlichkeit wohl unstrittige Forderung, dass man Wissenschaftler verpflichten müsse, ihre Werke kostenlos auf öffentlichen Datenbanken zu publizieren, wenn sie von der öffentlichen Hand in Auftrag gegeben und finanziert wurden. Aber dann hätte der Garten ja keinen Zaun mehr, und der verhunzte Lorbeer wäre kein Lorbeer, sondern ein Rhododendron.
Wendepunkt
Die traurige Rückständigkeit des deutschen Gesetzgebers erinnert an den Schneider Blodgett, der Mitte des 19. Jahrhunderts prophezeite, "die Nähmaschine wird sich nie durchsetzen". Gut zehn Jahre wehren sich Wissenschaftler aus aller Welt gegen Knebelverträge und Preise für Fachzeitschriften, die der Vorsitzende des Deutschen Bibliothekenverbandes Frank Simon-Ritz als "zum Teil sittenwidrig" bezeichnet. 14.000 Wissenschaftler boykottieren daher seit vergangenem Herbst den Verlagsgiganten Elsevier und seine "exorbitanten Preise".
Einer neuen internationalen Studie zufolge war 2011 der "Wendepunkt" für Open Access, nachdem zum ersten Mal über die Hälfte aller Wissenschaftsbeiträge eines Jahres in irgendeiner Form im Internet zugänglich gemacht wurden. "Die Open-Access-Bewegung hat eine kritische Masse erreicht und wird nur noch weiterwachsen. In zwei Jahren wird die Hälfte offen zugänglich sein", sagt Éric Archambault, einer der Autoren. Gleichzeitig steigt die Anzahl von Open-Access-Zeitschriften rasant, das internationale Verzeichnis DOAJ.org erfasst ihrer nahezu 10.000 und damit dreitausend mehr als noch vor drei Jahren.
Anfang August hat die Universität von Kalifornien (UC) beschlossen, alle ihre Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen - und zwar kostenlos und gleichzeitig zu ihrem Erscheinen in Zeitschriften. Die UC ist die größte staatliche Forschungsuniversität der Welt, ihre Jahreseinnahmen von umgerechnet 15 Milliarden Euro sind vergleichbar denen aller britischen Universitäten zusammengenommen, ihre 8.000 Professoren produzieren knapp drei Prozent des weltweiten Artikelausstoßes. Über 175 amerikanische Hochschulen haben bereits ähnliche Open-Acces-Policies. UC-Professor Chris Kelty erklärt: "Unsere Verhandlungsposition gegenüber den Verlagen hat nun eine kollektive Stärke, die ein einzelner Wissenschaftler, eine Bibliothek oder ein Fachbereich allein nicht hätte."
70 internationale Wissenschaftsorganisationen haben sich im Mai dieses Jahres in Berlin auf einen Aktionsplan geeinigt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ist eine von ihnen, sie unterstützt die Bewusstseinsbildung, den Aufbau einschlägiger Infrastruktur und Pilotprojekte in vielfältiger Weise. DFG-Programmdirektor Johannes Fournier zufolge nutzen bereits 25 der 100 deutschen Forschungsuniversitäten einen Publikationsfonds zum Einstieg in Open Access. "Es ist das neue Innovationspotential durch frei verfügbare Informationen und Daten, das diese Entwicklung vorantreibt", erklärt er das starke politische Interesse zur Zeit.
Cui Bono
Ein Wissenschaftler kann für seine Arbeit auf die jeweils besten und aktuellsten Beiträge der Kollegen seines Faches nicht verzichten. Diese starre Nachfrage nutzen globale Verlagshäuser, um sich die aus Steuermitteln finanzierte Forschungsliteratur teuer noch einmal abkaufen zu lassen. Eine Handvoll Konzerne, darunter Springer Science, Thomson Reuters und Elsevier, beherrschen 50 Prozent des Marktes und erzielen Jahresgewinne zwischen 30 und 40 Prozent, eine Marge, die selbst Deutsche-Bank-Analysten für exzessiv halten.
Ihre massive - und wirksame - Einflussnahme auf die nationalen Gesetzgeber kann Open Access nicht aufhalten. Daher setzen die Verlage zunehmend auf das goldene Geschäftsmodell, in der Erwartung dass die Öffentlichkeit es ihnen finanzieren wird. Die Investitionen und Aufkäufe in der Branche sind in vollem Gang. Was in Washington und London bereits gelungen ist, soll jetzt in Berlin und Brüssel nachexerziert werden. Die Europäische Union will für ihre Forschungsförderung in den nächsten sechs Jahren Open-Access zwar zur Pflicht machen, allerdings auch mit einer sechs- bis zwölfmonatigen Embargofrist.
"Ich sehe die gefährliche Entwicklung", erklärt Rainer Kuhlen vom Aktionsbündnis Urheberrecht, "dass, wie es sich in England abzeichnet, die öffentliche Hand die Leistungen, aber auch die Gewinne der Verlage finanziert, und das zu Lasten der Forschungs- und Bibliotheksbudgets." Die Verlage wollen also eine "Abwrackprämie" für ihren überteuerten Service. Wenn das Zweitverwertungsrecht im Bundesrat durchfallen würde, sähen die deutschen Aussichten, das zu verhindern und eine freie Wissenskultur zum Nutzen aller zu entwickeln, gleich etwas rosiger aus.
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