AfD beherrscht Opferrolle: "Die Verbotsdebatte hat eher einen negativen Effekt"
AfD-Umfragewerte um 20 Prozent haben Demokraten aufgeschreckt. Doch was ist hilfreich gegen den Rechtsruck – und was ist kontraproduktiv? Ein Gespräch mit Wilhelm Heitmeyer.
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer ist Professor für Sozialisation am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.
Herr Heitmeyer, die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat unlängst die Debatte um ein Verbot der AfD befeuert. Wenn sich der Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit bestätige, "dann muss diese Partei verboten werden". Was halten Sie davon?
Wilhelm Heitmeyer: Es ist sehr zu bezweifeln, dass angesichts der zurecht hohen Hürden des Parteienverbots ein solcher Nachweis gelingen würde, zumal der "Autoritäre Nationalradikalismus" wie ich die AfD klassifiziere, nicht wie der klassische Rechtsextremismus mit Gewaltoptionen und Gewalttaten agiert. Deshalb ist diese Überlegung keineswegs weiterführend zur Sicherung der pluralistischen Gesellschaft und der liberalen Demokratie. Es ist eher ein selbst ausgestelltes Armutszeugnis.
Die AfD hatte zuletzt Zustimmungswerte von über 20 Prozent. Welchen Effekt hat die Verbotsdebatte?
Wilhelm Heitmeyer: Sie hat eher einen negativen Effekt, weil die AfD ohnehin virtuos mit der Opfer- und Märtyrerrolle spielt. Diese Debatte schreckt weder die Sympathisanten noch die Wählerinnen und Wähler ab. Dies kann man auch schon daran erkennen, dass selbst die Einstufung der AfD durch den Verfassungsschutz als "rechtsextremistisch" oder "in Teilen rechtsextremistisch" überhaupt nicht mehr abschreckt.
Dies war zu Zeiten der NPD noch anders, weil damals die bürgerlichen Wählerinnen und Wähler sich nicht gemein machen wollten mit NS-Befürwortern etc. Die AfD und ihr intellektuelles Milieu haben weitreichende Qualitätsveränderungen durchlaufen, deren Effekte bis in die "rohe Bürgerlichkeit" hineinreichen.
In wieweit sind entsprechende Forderungen aus etablierten Parteien ein Indiz für das politische Unvermögen, auf die Ängste der Bürger einzugehen?
Wilhelm Heitmeyer: Es ist ein eindeutiges Indiz dafür. Wir müssen die ganze Entwicklung in bereits längerfristige Prozesse einordnen und auch nicht nur in die seit kurzem aufgewühlte Debatte um das Heizungsgesetz. Bereits in den 90er-Jahren hat sich ein autoritärer Kapitalismus mit riesigen Kontrollgewinnen über Standorte und Standards entwickelt, während die nationalstaatliche Politik entsprechend weitreichende Kontrollverluste verzeichnen musste und weder Willen noch Kraft hatte, die wachsende soziale Ungleichheit zu bekämpfen.
Schon damals entstanden soziale Desintegrationsprozesse und das was ich "Demokratieentleerung" genannt habe. Der Apparat funktioniert, das Vertrauen erodiert. Meine These in 2001 war, dass der Gewinner eine rabiate Rechtsentwicklung sein würde.
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Seit 2000 haben wir "entsicherte Jahrzehnte" mit einer Abfolge von Krisen, die zunächst sektoral waren, dann mit Corona erstmals systemisch und jetzt multiple.
Der Kern von Krisen besteht darin, dass die politischen Instrumente nicht mehr schnell und automatisch funktionieren – und darin, dass die Zustände vor den Krisen nicht wiederherstellbar sind. Genau dieser Zusammenhang erzeugt Kontrollverluste bei größeren Teilen in der Bevölkerung, zumal in Ostdeutschland. Gezielt an dieser Stelle setzt die AfD an mit der Parole: Wir stellen die Kontrolle wieder her. "Wir holen uns unser Land zurück". Damit erzielt sie Resonanz und füllt die Repräsentationslücken auf, die die etablierten Parteien gelassen haben. Denn wer nicht wahrgenommen wird, der ist ein Nichts.
Die AfD setzt dagegen: "Wir machen Euch wieder sichtbar". Und es ist der AfD gelungen Teile der Nichtwähler aus der individuellen "wutgetränkten Apathie" herauszuholen und mit kollektiven Machtfantasien zu versorgen: "Wir werden sie jagen", so Gauland in Richtung Regierung.
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In der Geschichte der Bundesrepublik gab es immer wieder Parteien links der Union und FDP, die in Krisenzeiten mit eigenen Konzepten auf den Unmut in der Bevölkerung eingegangen sind. Wieso schafft das die SPD nicht mehr?
Wilhelm Heitmeyer: Sie hat es aus meiner Sicht nicht geschafft, die Konsequenzen aus sich auflösenden Milieus, die eine spezifische Bindewirkung hatten, solche Schlüsse zu ziehen, die auch damit umgeht, dass die euphorische Aufstiegsphilosophie der alten Bundesrepublik nie für Alle galt. Und sie hat auch übersehen, rechtzeitig zu erkennen, dass auch schon vor einiger Zeit diese Aufstiegshoffnungen völlig beendet war und es immer mehr um Statuskämpfe geht.
Ergänzend und erschwerend kommt hinzu, dass immer mehr Kulturkämpfe das gesellschaftliche Leben durchziehen mit rabiaten Identitätspolitiken, die von der Union unter "Deutsche Leitkultur" liefen und bei der AfD jetzt unter "Deutschland zuerst" mit dem Angebot des "Deutsch-Seins" als Identitätsanker.
Und die Linkspartei?
Wilhelm Heitmeyer: Aus meiner Sicht ist dies ähnlich gelagert, auch im Hinblick auf "Kultur- statt Klassenkampf" als immer stärkeres großstädtisches Milieu, was sich auf die nach der Wende noch relative Dominanz in Ostdeutschland verheerend ausgewirkt hat, weil man aus meiner Sicht die dort dominierende sozialgeografische ländlich-kleinstädtische Siedlungsstruktur vernachlässigt hat, also jene Gebiete, die jetzt eindeutig von der AfD dominiert werden.
Welchen Effekt hätte eine sozialkonservative Partei um Sahra Wagenknecht?
Wilhelm Heitmeyer: Da ich keine klaren Konturen dieses vermeintlichen Konzeptentwurfes kenne, bleiben nur vage Vermutungen, dass eine Verbindung von sozialkonservativen mit kapitalismusoffenen, wirtschaftsliberalen Positionen durchaus ein eigenes Stimmenfeld beackern kann.
Ob Wahlstimmen zulasten der AfD gehen, muss wahrlich offen bleiben, denn je weiter die Normalisierung der AfD voranschreitet und klar wird, dass eine Stimme für die AfD keine verlorene Stimme mehr ist, sondern dem Einflusszuwachs dient, umso deutlicher dürfte eine Wählerbindung werden.
In den Medien herrscht eine gewisse Hilflosigkeit beim Umgang mit der AfD. Oft wird sie als "rechtspopulistisch" bezeichnet. Sie lehnen das ab. Warum?
Wilhelm Heitmeyer: Die gedankenlose Verwendung in vielen Medien und der etablierten Politik dient vorrangig der Verharmlosung, ja Verniedlichung der AfD. Es ist eine Nebel-Formel ohne Konturen, ohne Kriterien, in die jeder was anderes hineindeutet. Und beim Publikum kommt die Botschaft an: "Rechtspopulistisch", das hört sich nicht dramatisch an.
Also: ein komplettes Versagen, um die Gefährlichkeit nur ansatzweise zu kennzeichnen. Ich verwende einen anderen Begriff, der klare Kennzeichnungen enthält, aber auch nicht "flutschig" wie "Rechtspopulismus" daher kommt, sondern sperrig.
Was zeichnet einen "Autoritären Nationalradikalismus" aus, den Sie bei der AfD ausmachen?
Wilhelm Heitmeyer: Der Begriff hat drei Bestandteile. Das Autoritäre fokussiert das angezielte Gesellschaftsmodell mit traditionellen Lebensformen, rigider Führung, starken Hierarchien, ethnischer Homogenität und das Agieren mit Freund-Feindbildern.
Das Nationalistische betont die Überlegenheit der deutschen Kultur, fordert eine neue "deutsche" Geschichtsschreibung, erhebt den Anspruch "Deutschland zuerst" und präferiert vor allem "Deutsch-Sein" als Identitätsanker, womit gleichzeitig eine Ausgrenzungspolitik gegen die verbunden wird, die nicht dazu gehören sollen.
Das Radikale besteht in rabiater Kommunikation und Mobilisierung, die durchzogen ist von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wobei Mäßigung als Schwäche verstanden wird.
Dies ist die Erfolgsspur der AfD, um Normalisierungsgewinne zu erzielen und in gesellschaftliche und politische Institutionen einzudringen, um sie zu destabilisieren.
In wieweit ist die AfD mit ihrem neuen Europakurs Teil eines EU-weiten Rechtsrucks – und welche Konsequenzen hat das für die Europäische Union?
Wilhelm Heitmeyer: Die AfD hat sich auf ihrem Magdeburger Parteitag erkennbar radikalisiert mit ihrer Forderung der Neugründung der EU als Union der Vaterländer, also mit nationalistischem Weg. Das passt zum Gesamtkonzept des "Autoritären Nationalradikalismus", allein wenn man die Wortwahl des Spitzenkandidaten hört.
Seit langem gibt es Versuche der Rechtsverschiebung im Europäischen Parlament, an denen auch der Vorsitzende der EVP, der CSU-Politiker Weber massiv mitwirkt. Diese Entwicklung ist sicher noch nicht abgeschlossen. Die harten Konsequenzen werden erst nach der Präsidentschaftswahl 2027 in Frankreich zu erwarten sein, wenn Marine Le Pen gewinnen sollte.
Aufregung gab es um den Tweet von Friedrich Merz zur Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene. Die "Brandmauer" ist weg, oder?
Wilhelm Heitmeyer: Alles das, was Herr Merz dazu gesagt hat, dient der schleichenden Normalisierung von prominenter Stelle.
Hat es eine solche "Brandmauer" nicht eh nur auf Bundesebene gegeben, gibt es an der Basis nicht schon lange eine Annäherung und Zusammenarbeit zwischen der Union und der AfD?
Wilhelm Heitmeyer: Selbst wenn es keine im engeren Sinne formalisierte Zusammenarbeit gegeben hat, so gibt es die Überlappungen im Denken und dies wird in der Gefährlichkeit unterschätzt. In Sachsen-Anhalt hatten zwei CDU-Landtagsabgeordnete vor einiger Zeit davon geredet, dass man das "Nationale" wieder mit dem "Sozialen" verbinden müsse.
Herr Merz redet von Flüchtenden aus der Ukraine als "Sozialtouristen". Jüngst hat der ehemalige CSU-Verkehrsminister Ramsauer ein Zitat verwendet: "Wenn man die Fenster zu weit aufmacht, kommt auch viel Ungeziefer mit rein", und dies mit der Flüchtlingspolitik verbunden, was vom Magazin Mittelstand Digital des nordrhein-westfälischen Bundes der Selbständigen veröffentlicht wurde.
Wo sehen Sie die AfD und wie die bundesdeutsche Parteienlandschaft in, sagen wir, zehn Jahren, auch angesichts der multiplen Krisen?
Wilhelm Heitmeyer: Krisen und Kontrollverluste sind sicher Treiber des Autoritären. Dies lässt sich weltweit beobachten. Dies dürfte auch an der deutschen Parteienlandschaft nicht vorbei gehen. Angesichts der "entsicherten Jahrzehnte" lassen sich kaum Prognosen abgeben.
Meine These im Buch Autoritäre Versuchungen von 2018 war:
Wenn sich der Autoritäre Nationalradikalismus nicht selbst (von innen) zerlegt und zugleich keine gravierenden wirtschaftspolitischen Reformen stattfinden, dann liegt die Annahme nahe, dass sich der Höhenflug autoritärer Politikangebote fortsetzen wird.
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