Afghanistan: Flucht von tausenden Hazara
In der Provinz Ghazni verbreiten militärische Erfolge der Taliban, die mit Übermacht gegen gegen afghanische Elitetruppen vorgehen, Furcht und Schrecken
Auf dem Höhepunkt waren es 150.000 Nato- und US-Soldaten in Afghanistan; nun sind es 15.000 ausländische Soldaten, die als Mission haben, das Land zu stabilisieren. 17 Jahre nach Einmarsch der verbündeten Truppen und nach Ausgaben von 900 Milliarden Dollar - das ist die Summe, die AP nennt - bleibt die große Frage unbeantwortet: Was will der US-geführte Militäreinsatz mit den Taliban erreichen?
Die Taliban sind nicht verschwunden und das Fazit, das der Special Inspector General for Afghanistan (SIGAR), John Sopko, im AP-Bericht zum Stand der Dinge zieht, ist deprimierend: "Afghanistan bleibt eins der ärmsten, korruptesten und gewalttätigsten Länder der Welt." Als weitere Trostlosigkeit nennt er den schlechten Stand der Ausbildung - auch wenn es da laut Tolonews auch gute Nachrichten gibt. In Kandahar gab es eine leichte Erhöhung der Schulabschlüsse von Mädchen. Allerdings sind es noch immer 60 Prozent, die die Schule vor dem Abschluss verlassen.
Ganz schlecht sind die Nachrichten aus der Perspektive derjenigen, die das Land stabilisieren wollen, wenn es um die Angriffe der Taliban geht. Aus der westlichen Provinz Farah, an der Grenze zu Iran, wurde vergangene Woche ein Sturmangriff der Taliban auf eine Basis der Polizei gemeldet, der mehrere Stunden dauerte und bei den Sicherheitskräften für hohe Verluste sorgte. 40 Polizisten sollen getötet worden sein.
Die pakistanische Zeitung Dawn reiht den Angriff in eine Serie "brutaler und beinahe täglicher Attacken auf Streitkräfte und Polizeieinheiten, Regierungsposten und andere Einrichtungen im ganzen Land" ein, die dazu führten, dass die Taliban fast die Hälfte Afghanistans eingenommen haben. Laut inoffiziellen Schätzungen, so die Zeitung, sollen täglich etwa 45 afghanische Sicherheitskräfte durch Angriffe umkommen oder verletzt werden.
Das seien keine offiziellen Zahlen. Die würden nicht mehr bekannt gegeben. Auch hätten sich die Taliban noch nicht zu dem erwähnten Angriff auf die Polizeistation in Farah bekannt. Was allerdings nicht stimmt, auf der offiziellen Twitterseite des Taliban-Sprechers wird der Angriff gefeiert. Aber freiloch gilt: Nachrichten über das genaue Geschehen in Afghanistan sind schwer zu bekommen.
Ein Team der New York Times, das sich kürzlich die Umstände und die Auswirkungen eines Taliban-Angriffs in Sang-e-Masha, im Distrikt Jaghori der Provinz Ghazni, genauer anschaute, machte erschütternde Beobachtungen, die man damit zusammenfassen konnte, dass das, was sie sahen, noch viel schlimmer war, als sie ahnten.
Die Taliban hatten in dem Distrikt, der abgeschieden ist und als friedlich galt, das Kommando einer afghanische Elitetruppe, ausgebildet von der US-Armee - Mitglieder der besten Kampftruppe "Afghan Army’s finest fighters" - ausgelöscht. Ungefähr 1.000 Taliban sollen am Angriff Anfang November beteiligt gewesen sein.
Der Bericht endet mit Panik und Flucht, ausgelöst durch Gerüchte, dass die Taliban nur eine Stunde entfernt seien. Auch die Reporter flohen. "Fast der ganze Verkehr ging nur in eine Richtung, Autos und sogar Müllabfuhrwagen, vollgepackt mit Familien, suchten die Flucht vor der jüngsten Katastrophe in Afghanistan."
Die Nachrichtenagentur Reuters meldete am Mittwoch vergangener Woche, dass tausende Hazara (auch: Hasara) aus ihrer Heimat in Ghazni vor den Taliban geflohen sind. Ghazni gehört zu den Hauptsiedlungsgebieten der überwiegend schiitischen Hasara. Die Taliban sind eine Bedrohung für die Hazara, so RFE/RL, das vergangene Woche ebenfalls von der Flucht tausender Hazaras und einer verzweifelten Lage in Jaghori und Malistan berichtete.
Am selben Tag, dem 15. November, veröffentlichten auch die Taliban auf ihrer Webseite "Islamisches Emirat Afghanistan/Die Stimme des Dschihad" ein Statement, mit dem sie "unmissverständlich" bedeuten wollen, dass sie nicht gegen ethnische Gruppen vorgehen, sondern ihre Operationen, z.B. in Jaghuri, "ausschließlich gegen feindliche militärische Formationen ausgerichtet sind". Lokale Zivilisten seien Landsleute, an deren Wohlergehen jedem Gotteskrieger des islamischen Emirats gelegen sei.
Die flüchtetenden Hazara haben da wohl andere Erfahrungswerte.
Es gibt, das soll um des größeren Bildes willen ebenfalls berichtet werden, auch andere Perspektiven, die von einem friedlichen Zusammenleben von Hasara und Taliban erzählen und die "Spaltung" zwischen Paschtunen (einer Ethnie, der die Taliban gemeinhin angehören) und Hazaras als politisches Instrument sehen, das von der Regierung in Kabul und den USA angewendet werde, "um die afghanische Gesellschaft zu polarisieren und dies auszunutzen".
Eine entscheidende Frage wird sein, wie sich die afghanischen Sicherheitskräfte auf die bedrohliche Situation einrichten. Die Taktik der Taliban belohnt das Aufgeben. Und auch im ganz großen Bild strebt das Islamische Emirat, eine Bezeichnung, auf der die Taliban bestehen, den Abzug der USA und ihrer Verbündeten an. Das ist ihr Ziel der Friedensverhandlungen.