Afghanistan: Mehr Luftangriffe und mehr Soldaten für den Versöhnungsprozess
Al-Qaida und IS-Milizen sollen vernichtet, die Taliban dagegen an den Verhandlungstisch gezwungen werden: Die Regierung Trump legt ihren "R4S"-Strategieplan vor. Auf die Nato-Länder kommen Forderungen zu
Aus dem Himmel über Afghanistan soll eine wichtige Botschaft kommen. "Aus meiner Erfahrung bei Kämpfen in einem Bergland weiß ich, dass es unangenehm ist, wenn man den Feind über sich hat", erklärte der US-Verteidigungsminister Mattis den Ausschussmitgliedern des Senats und des Kongresses: "Luftangriffe der Nato zeigen dem Feind genau an, dass er niemals die Oberhoheit über den Boden hat und das Terrain dominiert. Das ist ein taktischer Effekt und wird militärisch dazu führen, dass es mehr Möglichkeiten gibt, den Kampf an den Feind heranzutragen."
Fünf Stunden lang haben Pentagon Chef Mattis und der US-Generalstabschef General Dunford den für Verteidigung zuständigen Ausschüssen am Dienstag die neue Afghanistan-Strategie der Regierung erklärt. Die Absicht, bedeutend mehr Luftangriffe zu fliegen, die sich in der Aufhebung bisheriger Einschränkungen zeigt, ist ein Hauptelement der Afghanistan-Strategie, die in einem Kürzel zusammengefasst wird: "R4S" (regionalize, realign, reinforce, reconcile and sustain).
Mehr Operationen am Boden mit mehr US- und Nato-Beratern
Das andere ist die Aufstockung der amerikanischen Spezialtruppen als "Berater", deren Auftrag zwar zurückhaltend formuliert wird, doch ließ Mattis seine Zuhörer nicht im Zweifel darüber, dass die etwa 3.000 Soldaten, die den afghanischen Einheiten künftig beistehen sollen, sich am Kampf beteiligen werden:
Make no mistake, this is combat duty.
Jim Mattis
Die afghanischen Truppen sollen die Führung der Kämpfe behalten, betonte der US-Verteidigungsminister, die amerikanischen Soldaten begleiten sie im Feld, aber - und das sei eine wesentliche Neuerung: Sie sind nun dazu befugt, Luftwaffenunterstützung der USA oder der Koalition anzufordern, um die Operationen am Boden zu verstärken.
Zuvor galt eine Regelung aus der Zeit der Präsidentschaft Obamas, die grob zusammengerafft darauf hinauslief, dass Luftangriffe auf Fälle der Selbstverteidigung beschränkt waren oder wenn die Taliban nahe genug waren, so dass sie eine direkte Bedrohung darstellten.
Mehr Luftangriffe
Ob diese Maßgaben im Kampfgeschehen immer so eingehalten wurden, ist zweifelhaft. Zahlen, die bei der Publikation Defense One aufgeführt werden, machen aber Unterschiede deutlich: Demnach sollen in den Jahren 2014 bis 2015 im Durchschnitt monatlich 95 Luftangriffe in Afghanistan durchgeführt worden sein. Im August dieses Jahres waren es 500 Bomben, die die US-Air Force zur Unterstützung der Operation Resolute Support auf afghanischen Boden schickte.
Zwischendrin, so das Militärfachblatt, habe Obama auf Anraten des Generals John Nicholson bereits den Kurs verändert und auch offensive Luftangriffe auf die Taliban erlaubt. Mit dem Wegfall der Bedingung, dass die Taliban in der Nähe sein müssen und eine Bedrohung darstellen ("proximity" requirement) unter Präsident Trump könnten die Zahlen der Luftangriffe sprunghaft steigen, prophezeit das Magazin.
Von dergleichen Einschränkungen ausgespart waren ohnehin die beiden anderen Feinde in Afghanistan, al-Qaida und der IS. Hier gilt ein wesentlicher Unterschied in der strategischen Zielstellung der USA in Afghanistan. Für die IS- und al-Qaida-Dschihadisten im Land wird das gleiche Ziel ausgerufen wie anderswo auch: Sie sollen vernichtet werden, heißt die Ansage.
Für den Kampf gegen die Taliban lautet dagegen das oberste Ziel: Sie sollen mit militärischer Überzeugungskraft an den Verhandlungstisch gebracht werden. Dazu gehört, wie Mattis und Dunford erklärten, eine neue Botschaft, die lautet: Die USA ziehen sich nicht zurück, wie dies Obama angekündigt hatte, sondern sie bleiben, ohne einen Termin für einen möglichen Abzug zu nennen. Der Ansatz wird "condition-based" genannt, also an Bedingungen geknüpft, und nicht an einen zeitlichen Rahmen ("time-based").
Der neue Ansatz: Kämpfen und gleichzeitig verhandeln
In der Theorie stellt sich Mattis vor, dass die fundamentale Leitlinie darin besteht, gleichzeitig zu kämpfen und zu verhandeln ("we will fight and talk at the same time"). Was die Taliban angehe, sei dies nicht ein Krieg, der damit gewonnen wird, dass der Feind bezwungen werde. Das Ende des Krieges fasst der Pentagonchef so:
Die Quintessenz besteht darin, dass wir al-Qaida verfolgen. Und wir verfolgen ISIS. Und wenn die Taliban sich von ihnen lossagen und damit aufhören, Menschen zu töten und sich dem politischen Prozess anschließen und wir Versöhnung als Weg erkennen, der beschritten wird, dann werden wir den Krieg beenden.
Jim Mattis
Es ist also längst nicht mehr wie zu Zeiten Bushs die Rede davon, dass in Afghanistan eine neue Nation aufgebaut werden soll, demokratischer, mit mehr Beteiligung der Frauen, ausgerichtet auf westliche Modelle. Die Ziele werden niedriger gehängt.
Dem deprimierenden Fazit, dass nach 16 Jahren Präsenz der US-Truppen, ein "Patt" das Ergebnis ist, wie es die Generäle Dunford und Nicholson gleichermaßen formulierten ("The war is at a stalemate"), soll wenigsten eine Prise Zuversicht entgegengehalten werden: Dass die USA sich nicht wieder völlig in einen Krieg verwickeln, der im Grunde aussichtlos ist.
Man will mit militärischen Druck einen Versöhnungs-Prozess anschieben, so lautet jetzt das Verkaufsargument für eine Aufstockungs-Strategie, die aus Sicht der Regierung Trump nicht mit der vergeblichen Surge-Strategie unter Obama verwechselt werden soll.
Nato: "Einige Tausend zusätzliche Kräfte"
Auf Nato-Mitgliedsländer kommt einiges zu. Mattis machte deutlich, dass es Zusagen von Nato-Ländern gebe, "einige Tausend zusätzliche Kräfte nach Afghanistan zu schicken, sobald sie über die neue Strategie informiert werden". Auch das hört sich in der Theorie wohl leichter an, als es in Wirklichkeit der Fall sein wird.
Mittlerweile kontrollieren die Taliban oder kämpfen um die Vormacht in 45 Prozent der Distrikte Afghanistans, stellt ein aktueller Lagebericht des Long War Journals fest. Die Einschätzungen der Taliban und des US-Generalinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis.
Der SIGAR-Bericht über "gelernte Lektionen aus 15 Jahren Afghanistan" akzentuiert das große Problem der nationalen afghanischen Verteidigungs-und Sicherheitskräfte (Afghan National Defense and Security Forces, ANDSF). Sie seien in den letzten Jahren enormen Verlusten und Verschleiß ausgesetzt gewesen.
In den Jahren 2013 bis 2016 habe die Nationalarmee Afghan National Army (ANA) jährlich bis zu einem Drittel der Streitkraft verloren, was dazu führte, dass die Armee immer mehr Soldaten "mit wenig oder gar keiner Ausbildung" hatte. Als wichtige Folge daraus wird geschildert, dass sich die Armee immer mehr aus ländlichen Gebieten zurückzog, um verlustreichen Kämpfen mit den Taliban auszuweichen und sich auf urbane Zonen zu konzentrieren.
Die Strategie der USA hängt nun davon ab, wie dieser Trend umzukehren ist. Dafür greift man auf die Spezialtruppen, die am besten ausgebildet sind zurück. Sie sollen deutlich aufgestockt werden (beinahe bis zur doppelten Stärke), ebenso Milizen wie die Afghanische Territorialarmee (ATA), die die Nationalarmee verstärken soll.
"S" wie "sustain": Der wunde Punkt
Die Schwierigkeiten, die diese Aufstockung mit sich bringt, werden detailliert und anschaulich von Thomas Ruttig (auf Deutsch) oder Franz J. Marty (auf Englisch vom Afghanistan Analysts Network erklärt.
Trotz einer Gesamtstärke von 336,000 "Mann" (übrigens sind nach US-Angaben nur 1,3 Prozent Frauen) - 180,000 in der Nationalarmee (ANA) und 156,000 in der Nationalpolizei (ANP) - erfüllen, von Ausnahmen abgesehen, die regulären afghanischen Streitkräfte ihren Auftrag nicht. Deshalb suchen die afghanische Führung und ihre ausländischen Verbündeten immer wieder Zusatz- bzw Ersatzlösungen. Seit 2002 haben die USA allein 73,5 Mrd Dollar für die regulären afghanischen Streitkräfte ausgegeben.
Thomas Ruttig
Der wunde Punkt bei alledem liegt in einem Bestandteil der Strategie, der trotz seines neuen Namens ein altes bekanntes Problem im Kampf mit ortsansässigen Gegenkräften ist: das Halten von eroberten Gebieten. Die besser ausgebildeten afghanischen Spezialtruppen sind gut für Offensivoperationen einzusetzen.
Zum Halten der Positionen gegen einen Feind, der sich sehr viel Zeit nimmt, viel Ausdauer verlangt und gut vernetzt ist, also auch mit Unterstützung von der Bevölkerung operiert, sind sie weniger gut geeignet. Dazu kommen Probleme mit der Korruption.