Ahrtal, Traumatal, Hoffnungstal

Seite 2: Warnkette, Zuständigkeiten

Feststellen mussten beide Untersuchungsausschüsse, dass das European Flood Awareness Systen (Efas) dem Europäischen Hochwasserwarnsystem Copernicus EMS schon am 10. Juli die ersten Warnmeldungen zu einem sich anbahnenden "Extremwetterereignis" – also einem Tage dauerndem Unwetter mit ungeheuren Regenmengen und möglicherweise katastrophalen Fluten über Belgien, NRW und Rheinland-Pfalz – an die ihm angeschlossenen Hochwasserschutzstellen geschickt hatte. Auch der Deutsche Wetterdienst und der private Wetterdienst Kachelmannwetter hatten frühzeitig vor der Extremwetterlage gewarnt.

Kachelmann: "Niemand hat seine Arbeit gemacht"

Die Wissenschaftlerin Helen Cloke, die beim Efas-Aufbau mitgewirkt und den Behörden Totalversagen vorgeworfen hatte, und der Meteorologe Jörg Kachelmann erläuterten in beiden Ausschüssen die Arbeitsweise von Efas.

Beide sagten, es sei sehr schwierig, genau vorherzusagen, wo eine Sturzflut auftreten werde. Dazu brauche es nicht nur Wetterinformationen, sondern auch Informationen über die Beschaffenheit des Geländes, auf das der Starkregen treffe. Sehr drastisch warf Kachelmann zudem den Behörden in Düsseldorf vor: "Niemand hat diesmal seine Arbeit gemacht."

In NRW gab es nur einen Ministeriumsmitarbeiter, der mit dem Efas-System arbeiten konnte, und der war in Urlaub.

In Mainz herrschte Chaos, Fehlinformationen und Sorge um das eigene Image.

In Deutschland ist Katastrophenschutz Kommunen- und Ländersache. Es wurde in Folge diskutiert, ob das bei überregionalen Katastrophen oder Krisen ausreicht. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), bislang nur im Kriegsfall zuständig, soll nun zu einem nationalen Kompetenzzentrum für Katastrophenhilfe ausgebaut werden, aber der Katastrophenschutz soll nach wie vor bei den Ländern bleiben.

In der Nacht kam das Wasser

Es gab keine Warnungen, keine Evakuierung im Ahrtal. Einheimische aus Bad Neuenahr berichteten gegenüber Telepolis, wie sie die Flutnacht erlebt hatten. Sie wurden nicht gewarnt. Weder von den Behörden noch über Fernsehen oder Radio.

Ein Grund dafür war, wie sich später herausstellte, ein technischer Fehler im Warnsystem Katwarn, der verhinderte, dass Katastrophenwarnungen bei der Warnapp Nina oder in den Katastrophenstäben ankamen. Die Nachfrage bei Anwohnern in Bad Neuenahr ergab, dass aber eh kaum jemand diese Warnapp installiert hatte. Außerdem war es abends, kurz vor dem Schlafengehen. Viele hatten ihr Handy ausgeschaltet. Die Flut überraschte die Menschen teilweise im Schlaf.

Die letzte Wasserstandsmeldung gab fünf Meter an und ließ selbst die Katastrophenschützer in dem Glauben, dass es etwa so relativ glimpflich werden würde wie beim Jahrhunderthochwasser 2016. Keiner kam auf den Gedanken, dass etwas nicht stimmen könnte. Man war überzeugt, dass man vorbereitet sei, schließlich hatte der Kreis Bad Neuenahr vorsorglich 20.000 Sandsäcke bestellt.

Innenminister Roger Lewentz war bis zum Abend anwesend, ebenso der Landrat, der sich gegen 19 Uhr verabschiedete, seiner Technischen Einsatzleitung (TEL) die Leitung überließ und gegen den nun staatsanwaltschaftliche Ermittlungen laufen. Die Technische Einsatzleitung des Kreises Bad Neuenahr war die ganze Nacht besetzt, allerdings in einem Kellerraum, der nicht für diesen Einsatz eingerichtet war.

Handy- und Telefonverbindungen setzen aus, man war in diesem Raum praktisch isoliert. Der Focus-Reporter Axel Spilcker schreibt, die Krisenstabsmitarbeiter seien von den Trümmern um sie herum überrascht gewesen, also sie am Morgen aus dem Keller traten.

Die meisten Toten waren ältere Leute, die aus ihren Kellern nicht mehr rauskamen. Sie wollten entweder den Strom abschalten, Fenster abdichten oder etwas Wichtiges bergen. Andere, wie die 22-jährige Johanna, hier der sehr hörenswerte Podcast vom Südwestrundfunk ertranken ihren Tiefgaragen.

Die Ahr hat sich ihr Bett zurückgeholt

Im Ahrtal hat die Flutwelle aufgrund der Enge des Tales besonders schlimm gewütet. Es ist ein Kerbtal mit über 20 Zuläufen und Bächen, tief eingeschnitten zwischen Ölschieferbergen, an denen das Wasser an der Oberfläche herunterläuft und bei Starkregen schnell zu Tal schießt, wo es eine sehr hohe Fließgeschwindigkeit aufnimmt. Immer schon galt die Ahr als rebellisch. Heute sagen Anwohner, sie habe sich ihr altes Bett zurückgeholt.

In Chroniken der letzten 300 Jahre wurden im Abstand von etwa 100 Jahren ähnliche Katastrophen verzeichnet, das erste Mal im 17. Jahrhundert, das zweite Mal 1804, das dritte Mal 1910 und jetzt 2021, erklärte der Lokalhistoriker und Wasserbauingenieur Matthias Bertram im Telepolis-Gespräch. Da, wo das Tal sehr eng ist, stieg die Wasserwand vierzehn Meter hoch.

Gelder fließen, aber nicht so schnell

Die rheinland-pfälzische Investitions- und Strukturbank (ISB) gibt an, dass mittlerweile die meisten Anträge auf Flutopferhilfe abgearbeitet seien.

Es dauert aber, denn oftmals sind Antragsunterlagen nicht vollständig eingereicht worden und müssten nachgeliefert werden. Einige Privatleute beklagen mangelnde Zahlungsbereitschaft der Versicherungen. Diese erklären, dass sie die Anträge prüfen müssten und oft etwa keine Kaufbelege eingereicht würden. Aber dies sind schlichtweg weggeschwemmt worden.

Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelt nun gegen den ehemaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, wegen mutmaßlicher Verletzung seiner Amtspflichten. "Fahrlässige Tötung durch Unterlassen" wird ihm und dem Leiter seines Krisenstabes vorgeworfen. Er habe seine eigenen Dinge und Angehörigen in Sicherheit gebracht, anstatt sich um den Katastrophenschutz zu kümmern.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.