zurück zum Artikel

Ahrtal: Verhöhnung der Opfer

Nach der Flut: Die Schäden im Ahrtal im August 2021. Bild: Max Gerlach / CC BY-SA 2.0

Energie und Klima – kompakt, Teil 2: Die fossil angetriebene Schuldenkrise, leere Versprechungen vom Bundesfinanzminister und Landespolitiker ohne Schamgefühl.

Wir haben gestern im ersten Teil [1] unseres allwöchentlichen Rückblicks auf die Auswirkungen der deutschen Einkaufstour auf dem Weltmarkt für Flüssiggas hingewiesen. Wer auf einem knappen Markt für zusätzliche, zu dem recht unerwartete und große Nachfrage sorgt, treibt die Preise in die Höhe. Zu leiden haben darunter nicht nur hiesige Verbraucher, sondern auch die weniger finanzkräftigen Länder, deren Gas-Rechnungen ebenfalls aufgebläht und einen im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftsleistung oft extremen Umfang annehmen.

Dass das die ohnehin schon heiß laufende Schuldenkrise [2] vieler Entwicklungsländer noch verschärfen muss, liegt eigentlich auf der Hand. Ebenso, dass diese Länder dadurch noch weniger Mittel zur Verfügung haben, sich an den Klimawandel anzupassen, Schutz gegen den steigenden Meeresspiegel zu schaffen, die Ausbreitung der Wüsten zu bekämpfen, die Landwirtschaft auf andere Früchte umzustellen und manches mehr, das eigentlich dringend nötig wäre.

Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte noch im April vor der sich zuspitzenden Schuldenkrise vieler Länder gewarnt [3]. Eine Gruppe von Aktivisten, die am Montag Teile seines Ministeriums besetzten, warfen ihm allerdings vor, lediglich leere Versprechungen [4] gegeben und sich auf der gerade abgeschlossenen Herbsttagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds nicht für die Streichung der Schulden starkgemacht zu haben. Auf einem Transparent [5], das die Demonstranten an der Fassade des Berliner Finanzministeriums befestigten, war zu lesen: "Debt is murdering people in the Global South – Cancel the debt". ("Schulden morden Menschen im globalen Süden – Schulden streichen.)

Zu erwarten ist allerdings, dass der Internationale Währungsfonds, der von den westlichen Staaten dominiert wird [6] auch diese Krise wieder auf die Rücken der ärmeren Bevölkerungsteile abwälzen und die überschuldeten Staaten dazu zwingen wird, Sozial- und Bildungsausgaben zu kürzen, um die Schuldendienste weiterzubezahlen. Ganz so, wie es in der großen Schuldenkrise der 1980er Jahre [7], der Asienkrise 1997ff [8] oder auch der Eurokrise ab 2010 in Südeuropa der Fall war.

In allen Fällen geschah das übrigens, trotz des zum Teil unermesslichen Leids, das durch die Kürzungen verursacht wurde, und obwohl Ökonomen immer wieder darauf hingewiesen hatten, dass eine Verringerung der öffentlichen Ausgaben und Investitionen die Krisen erheblich verschärfen und die Länder für Jahre zurückwerfen würden.

Aber Expertenrat ist bei Politkern selten gefragt, insbesondere dann nicht, wenn es kosten würde. Ein erschütterndes Beispiel dafür hatten die Behörden Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Flutsommer 2021 geliefert, die sich völlig unvorbereitet und überfordert zeigten. 134 Menschen waren allein im Ahrtal gestorben, unter anderem, weil die zuständige Kreisbehörde nicht einmal in der Lage gewesen war, die Menschen rechtzeitig zu warnen. Die Staatsanwaltschaft in Koblenz ermittelt seitdem gegen den zuständigen Landrat.

Niemand konnte sich das vorstellen

Wie bereits berichtet [9] ist nun mit dem rheinland-pfälzischen Innenminister Roger Lewentz (SPD) endlich einer der politisch Verantwortlichen zurückgetreten. Haarsträubend sind allerdings die Äußerungen, mit denen er und auch seine Chefin, die Ministerpräsidentin Malu Dreyer, sein Versagen noch vergangene Woche zu rechtfertigen versuchten. "Niemand, wirklich niemand, hat sich eine solch verheerende Flutkatastrophe in Deutschland vorstellen können", so Lewentz [10].

Das ist für einen inzwischen ehemaligen Innenminister, der unter anderem für den Katastrophenschutz verantwortlich ist und sich deshalb unter anderem mit Klimaszenarien auskennen sollte, eine ziemlich ungeheuerliche Aussage, aber seine Parteifreundin und bisherige Chefin Malu Dreyer [11] sieht es offensichtlich ganz ähnlich:

Es ist glaube ich unbestritten, dass wir es mit einer Natur- und Flutkatastrophe eines Ausmaßes zu tun hatten, die wir so noch nie erlebt hatten, und sich auch kein Mensch vorstellen konnte, dass das in Deutschland passieren kann.

Tatsächlich ist es ganz einfache Physik: Je wärmer eine Luftmasse ist, desto mehr Wasserdampf kann sie aufnehmen und so mehr kann später aus ihr ausregnen. Das Verhältnis ist nicht linear, das heißt, die Aufnahmefähigkeit und damit die potenziellen Niederschläge nehmen sehr rasch mit einer höheren Temperatur zu.

Dass es in Deutschland bereits deutlich wärmer geworden ist, ist ebenfalls klar, und dass die Niederschläge nicht gleichmäßig verteilt auftreten, sondern sich die Extremereignisse häufen, wird ebenfalls immer wieder von Wissenschaftlern betont. Das muss nicht jeder Stammtisch-Philosoph wissen, aber von Ministern kann man derlei Kenntnis schon erwarten.

Nachlesen, was das für Deutschland heißen wird, konnte man zum Beispiel 2014 schon hier [12] oder zwei Jahre später hier [13]: "(...) für Deutschland kann in einem künftigen, wärmeren Klima ein beachtlicher Anstieg der durch Überschwemmungen verursachten Schäden erwartet werden", hatte es unmissverständlich in der ersten Arbeit geheißen, die zwei Jahre später auf breiterer Grundlage bestätigt und in den Warnungen verschärft wurde.

Für Katastrophenschutz zuständige Minister und Regierungschefinnen müssen sicherlich nicht unbedingt die wissenschaftlichen Veröffentlichungen verfolgen. Aber sie sollten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, die das tun und sie beraten. Und sie sollten entsprechende Warnungen ernst nehmen und sich nicht einfach blöd stellen. Denn das ist schlicht eine Verhöhnung der Opfer.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7312167

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Deutsche-Gaspolitik-verschaerft-Schuldenkrise-7311593.html
[2] https://www.theguardian.com/business/2022/oct/13/time-may-be-running-out-chronicle-of-a-debt-crisis-foretold
[3] https://www.fdp.de/finanzminister-lindner-warnt-vor-globaler-schuldenkrise
[4] https://www.t-online.de/region/berlin/id_100067058/berlin-klimaaktivisten-besetzen-finanzministerium-wohl-auch-lindners-buero.html
[5] https://twitter.com/DebtforClimate/status/1581943276542005248?s=20&t=e-Cb39oxYpaCNCRfeKFRrw
[6] https://www.imf.org/en/About/executive-board/members-quotas
[7] https://republic.com.ng/augustseptember-2018/africas-lost-decade/
[8] https://archiv.akweb.de/ak_s/ak417/26.htm
[9] https://www.heise.de/tp/features/Innenminister-von-Rheinland-Pfalz-Warum-der-Ruecktritt-von-Roger-Lewentz-notwendig-war-7307502.html
[10] https://www.youtube.com/watch?v=2f0oU9mfFdI
[11] https://www.youtube.com/watch?v=t9kU55tiWtI
[12] https://pdfs.semanticscholar.org/1b8d/60665311de86dc0afecd7339b5b04b83d21d.pdf
[13] https://nhess.copernicus.org/articles/16/1617/2016/