"All We Imagine As Light": Eine Ode an die Menschlichkeit
Bombay bei Nacht: Cannes-Preisträgerin Payal Kapadia über das Leben in einer Metropole, das kleine Glück im großen Moloch. Einer der schönsten Filme des Jahres.
Man kennt das: Eine kleine Geschichte aus dem Alltag, über Menschen einer Großstadt, die durch prachtvolle Kinobilder und kluge Filmregie zu einer sinnlichen Hommage an die Metropole-an-sich anwächst, an die Hoffnungen und Ängste, an das kleine Glück im großen Moloch, für das sie steht.
Solche "Symphonien der Großstadt" gibt es zahlreiche im Kino: über Paris, Berlin, Wien, New York, Tokio oder Hongkong.
Jetzt ist ein Film über die westindische Metropole, der "Maximum City", hinzugekommen, die hier mal Bombay, mal Mumbai genannt wird, nach ihren beiden, politisch keineswegs neutralen Namen: "All We Imagine as Light", Payal Kapadias magische Ode an das nächtliche Bombay, wurde im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes gefeiert und gewann mit dem "Grand Prix" einen der Hauptpreise.
Jetzt kommt dieser Film ins deutsche Kino, dessen größter Teil abends und nachts spielt, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Stadt im Neonlicht ein zweites Mal erwacht.
Es ist einer der schönsten Filme des Jahres.
Oder vielleicht nur ein Märchen?
Neues indisches Kino: Abschied vom Naturalismus-Kitsch
Denn man muss es der Regisseurin der engagierten aus dem Dokumentarfilm stammenden Payal Kapadia gar nicht vorhalten, dass die Freiheit ihres Spielfilmdebüts ihre Grenzen hat, es schränkt die Qualität dieses ungewöhnlichen Films nicht ein.
Endlich einmal wird die neorealistsche Naivität und der Naturalismus-Kitsch im Gefolge eines Satyajit Ray (1921-1992) verlassen. Ray hat das indische Arthouse-Kino seit so langer Zeit wie eine Art Kino-Großmufti in babylonischer Gefangenschaft gefesselt gehalten, um festzustellen, dass in Indien harte Zensur herrscht, dass sich über die ohne Frage existierenden demokratischen Strukturen der düstere Schatten des so chauvinistischen, wie gewaltbereiten Hindu-Nationalismus legt.
Und ja: Es gibt viele Beispiele für die repressiven Strukturen der gegenwärtigen indischen Kulturpolitik. Ebenso wie für die politisch prekäre Lage des Subkontinents, der zwischen hohen Ansprüchen und trister Realität laviert.
Der Film wird durch prachtvolle Kinobilder und kluge Filmregie zu einer sinnlichen Hommage an die Metropole an sich, an die Hoffnungen und Ängste ihrer Bewohner.
Deutsche Großstadtfilme der 1920er- und 1930er-Jahre
Alles beginnt als eine meditative und beobachtende, ruhige Erkundung der Zufälle und Feinheiten des urbanen Lebens in den Straßen und Bahnhöfen von Bombay (Mumbai), als ein poetisches Flanieren, das in seiner Subjektivität und seiner nachdenklichen Hingabe an den Augenblick auch an französische und deutsche Großstadtfilme der 1920er- und 1930er-Jahre erinnert. Die Musik verstärkt diesen Eindruck des Impressionistischen noch zusätzlich.
Es ist eine mitunter in ihren Alltagsregeln und Ritualen fremde, doch immer verständliche, für uns vertraute Welt. Der Schauplatz dafür: eine Megacity in Indien.
Zu einer ersten von vielen Kamerafahrten durch die neonerleuchtete Nacht hören wir verschiedene Stimmen, wie Tagebuchaufzeichnungen oder Interviewstatements, die die Herkunft der Regisseurin aus dem Dokumentarfilm verraten.
"Ich mag es immer noch nicht, es mein Zuhause nennen"
Ein Mann: "Ich bin seit 23 Jahren hier. Aber ich mag es immer noch nicht, es mein Zuhause nennen. Ich habe immer Angst, wieder gehen zu müssen."
Ein zweiter Mann: "Eines Tages habe ich mich mit meinem Vater gestritten. Da habe ich meine Sachen gepackt und bin nach Bombay. Mein Bruder hat auf der Werft gearbeitet. Seine Unterkunft hat so schlimm gerochen, dass ich nachts nicht schlafen konnte."
Eine Frau: "Ich war schwanger, habe es aber niemandem erzählt, weil ich Arbeit als Hausmädchen gefunden hatte. Die Kinder meiner Arbeitgeberin waren richtige Teufelsbraten. Aber sie hat mir viel zu essen gegeben. In dem Jahr habe ich gut gegessen."
Eine weitere Frau: "Aus jeder Familie des Dorfes ist mindestens einer in Mumbai. In Mumbai gibt's Arbeit und Geld. Da will keiner wieder zurück."
Noch eine Frau: "Ich hatte gerade eine Trennung hinter mir, die Stadt hat mir darüber hinweggeholfen."
Allmählich werden die Geräusche der Großstadt lauter. Man wird hineingezogen. Die Musik, die wir hören, ist brasilianisch.
Genau hinschauen, was das Leben bestimmt
In diesem Stil fängt die Regisseurin Payal Kapadia den Alltag von drei Frauen ein, die alle als Krankenschwestern auf der gleichen Station eines großen Krankenhauses arbeiten. Sie lernt man zunächst als Gefangene ihrer Lebensumstände und der sozialen Codes kennen, die ihr tägliches Leben bestimmen.
Die Regisseurin hält sich dabei bewusst mit Wertungen und offenen Parteinahmen zurück. Ihr Kino will keinen Diskurs illustrieren, keine "Punkte abhaken", sondern vor allem genau hinschauen.
Dabei entfaltet Kapadia ihre Charaktere nicht in Worten, sondern inszenatorisch selbstbewusst in Form von Schichten, Fragmenten und Splittern, und nicht zuletzt in den Blicken, die sie aufeinander und auf die Welt werfen. Auf der Leinwand liest man auch Text- und Sprachnachrichten, im Off wirkt eine der drei als Erzählerin.
Übrigens: "Bombay"/ "Mumbai" – die einen sagen so, die anderen sagen so in diesem Film. In Indien es das eine politische Frage, die auch den Klassenstandpunkt (bürgerlich/proletarisch) enthüllt und etwas darüber verrät, ob man eher universalistisch oder hindhu-nationalistisch und identitär gesonnen ist.
Die Handlung wird dadurch vorangetrieben, dass Anu (Divya Prabha), die jüngste und modernste der Drei, in einen jungen Mann verliebt ist, der als Moslem wie als Angehöriger einer anderen Kaste für sie aber sozial tabu ist, weshalb sie die Beziehung geheim hält. Ihre Eltern auf dem Land haben für sie längst eine andere Ehe arrangiert.
Die älteste ist Parvaty (Chhaya Kadam), die nach 22 Jahren von Immobilienhaien aus ihrer Wohnung vertrieben wird. Zwischen den beiden in Alter wie im Verhältnis zur Tradition steht die Erzählerin Prabha (Kani Kusruti), deren Untermieterin die junge Anu ist. Prabha wurde arrangiert verheiratet, hat aber zu ihrem Gatten seit Jahren keinen Kontakt, weil der in Europa lebt, in Deutschland.
Ohne forcierte Handlung, ohne plötzliche Wendungen und aufgesetzte Dramatik erzählt die Regisseurin in beiläufigen, flüchtigen Bildern von Einsamkeit und Kommunikation unter sehr verschiedenen Menschen.
Es geht dabei vor allem um die alltägliche Sehnsucht der Menschen, aber auch um "handfestere" Sujets wie Migration, soziale und kulturelle Unterschiede, um den Gegensatz zwischen Liebe und arrangierten Ehen, aber auch um Immobilienspekulation und Gentrifizierung.
Bilder für das Ungreifbare
Hierin steht "All We Imagine As Light" dem Hongkong-Regisseur Wong Kar-wai sehr nahe: Auch Kapadia geht es darum, Bilder für das Ungreifbare zu finden. Und für weibliche Solidarität: Es ist eine Solidarität, die hier nie auf Kosten der Männer ausgelebt wird, die genauso verloren und einsam und würdevoll sind wie die Frauen. Der Film kommt ohne Antagonisten aus, ohne "Bösewichter".
Stattdessen erfahren die drei Frauen am Ende am Ozean, unter den Neonfarben einer nächtlich illuminierten Strandbar, so etwas wie eine Epiphanie. Alles ist Ufer, ewig ruft das Meer.
Plötzlich ist die Zukunft offen und alles möglich in diesem bewegenden, schönen Film. Es gibt nur noch das Licht und die Menschen, die von ihm berührt werden. Es ist die Utopie des Kinos.
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