Allahs 99 Superhelden
Eine neue Comic-Serie verbreitet sich mit großem Erfolg in arabischen und islamischen Ländern
Die mächtigen Kräfte der Charaktere der Comicserie beruhen auf den 99 Namen Gottes und sollen den jungen und auch älteren Lesern die Werte und den Ethos des Islam näher bringen. Nicht alle Kleriker sind davon begeistert, doch aufhalten können sie die Superhelden nicht mehr, dazu sind diese bereits heute schon viel zu stark.
Warum sollen unsere Kinder immer nur X-Men, Super- oder Spiderman lesen? Sind wir denn nicht in der Lage, eigene Superhelden zu schaffen, die viel stärker mit unserer Kultur, mit unserem Denken und unserer Weltsicht verknüpft sind?
Dies war die Frage, die sich der 1971 in Kuwait geborene Naif Al-Mutawa stellte – und mit einem überzeugten "Doch!" auch gleich selbst beantwortete. Womit auch schon die Geburtsstunde der "99" markiert ist. Denn Gott hat im Islam 99 Eigenschaften, die sich in seinen 99 Namen darstellen. Darunter sind Namen, wie man sie auch im Christentum kennt: Angefangen vom "Einzigen" und "Mächtigen" bis hin zum "Allwissenden" und "Barmherzigen". Andere Namen erinnern mehr an fernöstliche Gottheiten wie der "Lebensspendende" und der "Erhaltende" – aber auch der "Vergelter" und der "Tötende".
Auch wenn nicht alle diese Attribute personifiziert werden sollen, denn das kommt nur Gott alleine zu, so wurden ab 2006 doch bereits ein gutes Dutzend Charaktere geschaffen, die inzwischen als Identifikationsfiguren für junge Muslime beiderlei Geschlechts ihre monatlichen Kämpfe gegen das Böse führen und Verantwortung übernehmen.
Und so bekommen die Muslime, die inzwischen immerhin schon rund ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen, eine Reihe junger Menschen präsentiert, die aus unterschiedlichen Ethnien kommend gemeinsame Sache machen, wobei ihre direkte Zugehörigkeit zum Islam nicht in jedem Fall nachvollziehbar ist:
Jabbar (der Mächtige) ist ein Muskelpaket aus Saudi-Arabien, das es mit jedem "Hulk" aufnehmen kann, während schwarzhaarige Schönheit Noora (das Licht) aus den Arabischen Emiraten stammt und die Fähigkeit besitzt, "das Licht der Wahrheit" zu sehen – wie ein lebender Lügendetektor. Die tödliche Mumita stammt aus Portugal, der schmächtige Bari (der Heiler) aus Südafrika, Hadya (die Wegfinderin) ist eine attraktive pakistanisch-britische Mischung, und Soora (die Organisatorin) Afro-Amerikanerin.
Kritisch anzumerken wäre vielleicht, dass sich die Mädchen alle sehr ähneln und weitgehend dem Stereotyp des orientalischen Schönheitsideals entsprechen, während die jungen Männer eine viel breitere Varianz zeigen: Hier der aus dem Sudan stammende, dunkelhäutige und zierliche Sami (der Horcher), der später in Frankreich aufwächst, daneben der grünäugige und technisch hochbegabte Jami (den Zusammensetzer) aus Ungarn, und schließlich der blonde Raqib (der Beobachter) aus Kanada, der auch in jeder europäischen Stadt beheimatet sein könnte und eher an den Stil der belgischen Comiczeichner erinnert. Eine absolute Seltenheit unter Super-Helden ist wohl der aus den USA stammende und nach einem Autounfall stark behinderte Darr (der Schädigende), der von seinem Rollstuhl aus jedoch die Fähigkeit besitzt, alle Qual und Verzweifelung in seinen Widersachern an die Oberfläche zu holen.
Islamische Comic-Helden? Wie läßt sich das überhaupt mit dem Bilderverbot dieser Religion vereinen? Und dann auch noch in Verbindung mit den 99 Namen Allahs? Wie reagieren Fundamentalisten und Extremisten darauf?
Bislang gab es in der arabischen Welt nur in Ägypten eine eigenständige Superhelden-Serie. Ayman Kandeel entwickelte ab 2004 entsprechende Figuren für das Verlagshaus AK Comics, die mit ihrem orientalischen Hintergrund aber ebenso wie ihre westlichen Kollegen gegen das Übel der Welt kämpfen: Der 14.000 Jahre alte Zein, aka der letzte Pharaoh, Rakan, ein langhaariger Kämpfer aus dem alten Mesopotamien, Jalila die brillante levantinische Wissenschaftlerin und Aya, eine Nordafrikanische Schönheit, die auf ihrem schweren Motorrad für Ordnung in der Region sorgt.
Doch ähnlich wie bei den "99" musste auch AK Comics auf fremdes Know-how zurückgreifen. Die Zeichnungen fertigt ein Studio in Brasilien an, während die Dialoge von einem Autor in Kalifornien geschrieben werden. Im vergangenen Jahr verkaufte sich die monatlich erscheinende Serie rund 7.000 Mal in der arabischen und 5.000 Mal in der englischen Version – dazu kamen nochmals 10.000 Stück in Schwarzweiß zu einem Viertel des Preises der Farbausgaben.
Bislang wurde kaum Kritik laut
Das Projekt der Teshkeel Media Group ist allerdings wesentlich ambitionierter – und hat auch eine sublime Funktion, in der sich die Werte des Westens und des Mittleren Ostens miteinander vereinen, die sich vermutlich aus dem Hintergrund des Initiators erklären läßt: Dr. Al-Mutawa besitzt unter anderem drei Abschlüsse von der Tuffs University in Massachusetts – in klinischer Psychologie, englischer Literatur und Geschichte. Er schrieb mehrere Jahre er für verschiedene arabische und englische Tageszeitungen, und arbeitete als Psychologe mit ehemaligen Gefangenen des Kuwait-Krieges sowie mit politischen Folteropfern in New York. Für seine Kinder verfasst er außerdem das Buch "To Bounce or Not to Bounce", in welchem er für gegenseitiges Verständnis, Toleranz und Pluralismus wirbt, und für das er auch einen Preis der UNESCO bekommen hat.
Al-Mutawa weiß natürlich, dass es nicht so einfach ist, islamische Comics zu zeichnen. Besonders nach dem mehrfachen und heftigen Streit um die Karikaturen des Propheten reagieren viele Muslime sehr empfindlich. Um so wichtiger war es ihm herauszustellen, dass weder der Prophet selbst, noch islamisches Verhalten wie das Gebet oder das Fasten in der Serie eine Rolle spielen. Trotzdem war schon von Beginn an klar, dass wohl nicht alle islamischen Länder von den "99" begeistert sein werden. Insbesondere vom strengen Wahhabismus in Saudi-Arabien, der sich als Hüter letzter Weisheiten dünkt, erwartete man anfänglich einige Probleme. Aber selbst dort scheint die Serie erfolgreicher zu sein, als die herrschende und machterhaltende Denkweise erwarten lässt. Wahrscheinlich ist der Generationsunterschied bei den Adressaten der entscheidende Schlüssel für diesen Erfolg.
Al-Mutawa setzte jedenfalls auf grafische und inhaltliche Qualität und hat sich deshalb mit dem Ko-Autor Fabian Nicieza zusammen getan, der sich seit über 20 Jahren einen Namen in der US-Comic Branche gemacht hat (X-Men, X-Force, New Warriors, u.a.). Weitere Teammitglieder sind der Zeichner Dan Panosian (Spider-Man, Hulk, Green Lantern, Batman , u.a.), die britischen Grafiker John McCrea (Spider-Man, Darth Vader, Bart Simpson u.a.) und James Hodgkins (Batman, Daredevil, Superboy u.a.), sowie die in Teheran geborene armenische Coloristin Monica Kubina, die inzwischen in den USA lebt und dort in der Bürgerrechts- und Friedensbewegung aktiv ist.
Gemeinsam wurde auch der historisch-magische Hintergrund der Geschichte entwickelt:
Im Januar 1258 erobern die Mongolen Bagdad, der letzte abbasidische Kalif al-Mutasim und mindestens 800.000 Einwohner der Stadt werden grausam ermordet, unschätzbare Reichtümer verbrennen oder werden in den Tigris geworfen, darunter auch der gesamte Inhalt der damals weltweit größte Bücherei mit über einer Million katalogisierter Werke. Inmitten der Wirren gelingt es einer kleinen Gruppe Bibliothekare die 99 "Edelsteine des Lichts" aus der Stadt zu schmuggeln, in welche durch alchemistische Prozesse die Essenz des generationenlang gesammelten Wissens eingebracht werden sollte. Als die Truppen der Angreifer die Bücher und Schriftrollen in den Fluß werfen, löst sich die Tinte und schwärzt das Wasser – und die Retter bekommen doch noch eine Chance, die Texte in den Lichtsteinen zu speichern.
Jahrhunderte später, nach vielen weiteren Abenteuern der Bibliothekare und ihrer Nachfahren, wird das Thema auf eine UN-Konferenz über Erneuerbare Energie wieder aufgegriffen – denn es gilt, die überall verstreuten Edelsteine zu finden und zu vereinen. Dr. Ramzi Razem – so etwas wie das alter Ego von Al-Mutawa – fordert von den Delegierten die Mittel, um diese Suche durchzuführen, während er insgeheim eben jene Gruppe zusammenschmiedet, deren einzelne Fähigkeiten von den jeweiligen Steinen so ungemein verstärkt werden. Und deren Endziel ist nicht weniger ambitioniert als die Serie selbst: Es geht um den Frieden auf Erden.
Vor wenigen Tagen vermeldete al-Mutawa nun einen besonderen Erfolg: Nachdem die neuen Comic-Helden schon auf dem US-Markt lanciert wurden, wird es die "99" ab dem kommenden Jahr auch als regelmäßige Lokalausgabe in Indonesien geben – dem mit Abstand größten islamischen Land auf der Welt. Bereits jetzt sind dort laut dem Lizenznehmer Femina Group schon über 25,000 Ausgaben für jeweils 2 US-$ verkauft worden, und mehrere Tageszeitungen überlegen sich ernsthaft, die islamische Identifikationsfiguren als Strips zu veröffentlichen.
Die Schlußfolgerung ist einfach: Superhelden lassen sich nicht aufhalten – auch nicht von islamischen Fundamentalisten.