Alle gegen Brockhaus

Seite 2: Qualitätsvergleich

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Trotz erwiesener guter Absichten der meisten Teilnehmer kommt man bei einer Beurteilung von Wikipedia um einen direkten Vergleich nicht herum. Will man die Qualität der Wikipedia-Artikel ernsthaft mit der anderer Enzyklopädien vergleichen, muss man verschiedene Fragen stellen:

  1. Wie ausführlich sind zufällig ausgewählte Artikel aus einer Enzyklopädie im Vergleich mit solchen aus einer anderen? In diesem Fall sollte der Vergleich in beide Richtungen durchgeführt werden, da womöglich die Enzyklopädien unterschiedliche Themen in unterschiedlicher Ausführlichkeit behandeln.
  2. Wie umfassend und akkurat sind die Artikel, die von den Wikipedianern selbst als "exzellent" (engl.: "Brilliant Prose") eingestuft werden?
  3. Wie sieht es bei hochkontroversen oder politisch brisanten Themen aus - welche Enzyklopädie liefert die besseren Inhalte?
  4. Fehlen Artikel über bestimmte Themen völlig?

Als Referenz-Enzyklopädie wird im folgenden die Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2003 (deutsche Version) verwendet. Zunächst führen wir eine zufällige Auswahl von 10 Artikeln aus der englischen Wikipedia durch und vergleichen diese mit entsprechenden Pendants in der Encarta. Danach folgt eine entsprechende Selektion von fünf Encarta-Artikeln.

Zufallsauswahl: Zehnmal Wikipedia

Treffenderweise ist der erste Wikipedia-Zufallstreffer ein Artikel über die Encyclopedia Galactica. Wir lernen in zwei Absätzen, dass es sich hierbei um eine fiktive Enzyklopädie galaktischer Zivilisationen handelt, eine Idee, die unter anderem in Isaac Asimovs "Foundation"-Serie verwendet wird. Der Artikel ist sprachlich korrekt und wird durch einen Link auf ein gleichnamiges Web-Projekt vervollständigt, das sich offenbar an Science-Fiction-Veröffentlichungen anlehnt. Eine Beschreibung des Links wäre hilfreich. Ein Gegenstück in Microsofts Encarta existiert erwartungsgemäß nicht, auch der Encarta-Artikel über Asimov erwähnt das Konzept mit keinem Wort.

Der zweite Wikipedia-Zufallsartikel ist California State University San Bernadino. Auch dieser Artikel ist knapp, nennt das Gründungsjahr, die Zahl der Studenten im Jahr 2003, das Fächerangebot und einige Details über das Sportprogramm. Auch in diesem Fall gibt es einen Link, diesmal auf die offizielle Website. Kein Äquivalent in Microsofts Encarta. Immerhin gibt es zwei Absätze über eine andere "State University" in Kalifornien, die San Francisco State University. Dieser Artikel enthält weniger Detailinformationen, verrät uns aber etwas über die erwerbbaren Abschlüsse (Bakkalaureus, Magister, Magister Artium).

Die Differenz-Funktion zeigt die Unterschiede zwischen zwei Revisionen eines Artikels. Veränderte Zeichen sind rot hervorgehoben. Aus der Artikelhistorie lässt sich so ein exaktes Bild der Entwicklung rekonstruieren.

Das Wikipedia-Gegenstück hierzu, San Francisco State University, ist dagegen derzeit mit zwei Sätzen und einem Weblink noch recht erbärmlich. Wie kam es dazu? Ein Blick in die Artikelhistorie verrät, dass an Stelle des Artikels ursprünglich am 22. November 2002 ein Nonsens-Text angelegt wurde. Anstatt den Text zu löschen, schrieb ein anderer Mitarbeiter schnell wenigstens zwei Sätze hinein und machte den Text so zu einem sogenannten "Stub" (Stumpf), den andere um Details erweitern sollen.

Unser dritter Zufallstreffer ist ein Text über Henry Ford II., den Enkel von Henry Ford. Mit 3682 Zeichen ist er unser bisher umfangreichster Text. Der Text beschreibt wie Ford die Firma seines früh verstorbenen Vaters Edsel Ford zunächst nicht übernehmen konnte, weil er im II. Weltkrieg bei der Marine war - so musste Großvater Ford noch einmal ran. Erst 1945 durfte der Enkel ans Ruder der Firma, die kurzzeitig ins Straucheln geraten war. Wir erfahren von Fords aggressivem Management und von seinen Personalentscheidungen.

Der Artikel ist sprachlich korrekt, könnte aber durch ein paar Zwischenüberschriften aufgelockert werden. Zumindest ein Suchmaschinen-Test belegt, dass es sich um Originalmaterial handelt, und der Text enthält zahlreiche Querverweise. Ein stichprobenartiger Google-Check bestätigt auch die im Artikel gemachten Faktenangeben, der Text selbst enthält keine Quellenangaben. Geschrieben wurde er von einem einzigen Wikipedianer, "Hephaestos", von dem wir nicht viel erfahren, außer, dass für ihn Wikipedia und Zigaretten zum Frühstücksritual gehören und dass er Spaß am Korrekturlesen hat - aber immerhin nennt er eine Email-Adresse, unter der man ihn kontaktieren kann.

Das Encarta-Äquivalent besteht aus zwei Sätzen. Statt Geburtsdaten gibt es nur Jahreszahlen. Der zweite Satz lautet: "Von 1945 bis 1960 war er Präsident, dann Verwaltungsratsvorsitzender der Ford Motor Company." Wir erfahren nichts darüber, was "dann" heißt, d.h. wie lange und in welchen Positionen Ford nach seiner Firmenpräsidentschaft dort tätig war. Quelleninformationen, Bilder, Links, Autoreninformationen - null.

Als nächstes geht es nach Ashfield, Massachusetts, einer amerikanischen Kleinstadt. Der Artikel gehört zu den erwähnten aus den US-Volkszählungsdaten generierten Texten. Neben geographischen und demographischen Daten enthält der Artikel keine weiteren Informationen und wurde auch nicht weiter editiert - kein Wunder, die Stadt hat 1800 Einwohner. Eine Encarta-Suche erübrigt sich fast - ein Gegenstück existiert nicht, was verzeihlich ist.

Der Wikipedia-Text über Chris Marker, einen französischen Dokumentarfilmer, ist drei Sätze kurz und explizit als "Stub" gekennzeichnet. Er enthält biographische Daten und einen Verweis auf den Film "La Jetée", über den es ebenfalls einen Artikel gibt. Hier hat Encarta die Nase vorn: Mit rund 1400 Zeichen ist der Text deutlich ausführlicher und referenziert Markers bedeutendste Werke. Er erwähnt Markers "radikale politische Ansichten", nennt diese aber nicht, und bezeichnet Markers Film "A.K." als "faszinierend" - die Meinung des Autors? Für Wikipedia wäre das "POV", das Gegenteil von NPOV, und damit inakzeptabel. Der Artikel enthält drei Literaturangaben.

Über das Heine-Borel-Theorem erfahren wir in Wikipedia, dass es ein Satz der mathematischen Analyse ist, der besagt, dass eine Untermenge der realen Zahlen R kompakt ist, wenn sie abgeschlossen und beschränkt ist. Wir lernen auch, dass der Satz auf metrische Räume anwendbar ist, aber einen mathematischen Beweis finden wir nicht. Ein Blick auf die Diskussionsseite zeigt, dass der Mathematiker Axel Boldt einen vorhandenen Beweis entfernt hat, weil er teilweise fehlerhaft war. Ein Encarta-Artikel über den Satz existiert nicht.

Es folgt mit dem Text über das Buch I, Claudius von Robert Graves ein weiterer Abstecher in die Welt der Fantasie. Wir erfahren nur, dass es vom Leben des römischen Kaisers Claudius handelt, dafür gibt es geschichtliche Informationen über die Verfilmung des Buches - einen ersten Versuch, der wegen eines Unfalls fehlgeschlagen ist, und schließlich eine erfolgreiche Produktion der BBC. Der Text enthält eine Titelgrafik des Buches, die jedoch von schlechter technischer Qualität ist. Einen Encarta-Artikel über das Buch gibt es nicht, auch der Encarta-Artikel über Robert Graves enthält keine Einzelheiten darüber.

Der Zufall führt uns nun zum Text über Hybridfahrzeuge, die mit Verbrennungsmotoren und Batterien funktionieren. Der Artikel spricht von "great advantages", was etwas überschwenglich klingt, und zählt diese angeblichen Vorteile auf. Der Text verweist schließlich darauf, dass das erste Hybridfahrzeug 1928 von Ferdinand Porsche entwickelt wurde, dass aber die ersten in Masse produzierten Modelle erst in diesem Jahrhundert von Firmen wie Toyota und Honda entwickelt wurden. Encarta hat keinen eigenen Artikel über Hybridfahrzeuge. Der Artikel "Elektroantrieb" enthält dafür zwei Absätze über Hybridmotoren, jedoch keine Informationen über ihren Einsatz. Der Text ist immerhin mehr als doppelt so lang als sein Wikipedia-Äquivalent, besser strukturiert und illustriert.

Über das Programm VariCAD für die Erstellung von mechanischen Modellen im Computer erfahren wir in vier Sätzen nur recht wenig, aber ein Link auf die Programm-Homepage ist vorhanden. Artikel über Computerprogramme findet man in Encarta kaum, selbst über das Profi-Tool AutoCAD gibt es keinen Text, über VariCAD natürlich auch nicht. Wikipedia enthält dagegen über praktisch jedes Programm im Masseneinsatz und über zahlreiche Open-Source-Anwendungen eigene Artikel.

Auch der Text über Xanadu, die opulente Sommer-Hauptstadt des Mongolen Kublai Khan, ist nur sehr knapp. Er zitiert den Besuch Xanadus durch Marco Polo und ein Gedicht von Samuel Taylor Coleridge, das Xanadu zur beliebten Metapher für Dekadenz werden ließ. Ein Hinweis auf Citizen Kane wäre nett gewesen. Einen kleinen Tippfehler habe ich korrigiert. Immerhin gibt es einen Link auf den knappen Artikel über "Project Xanadu", Ted Nelsons 1960 gestartetes Hypertext-Projekt. Nach der Encyclopaedia Galactica endet unser Zufallsvergleich also mit einem Hinweis auf die Idee eines massiven, bidirektionalen, offen editierbaren globalen Informationsnetzes. Viele der Xanadu-Ideen wie Backlinks und Versioning finden sich in Wikis wieder.

Zufallsauswahl: Fünfmal Microsoft

Microsofts Encarta hat keine Zufallsfunktion, also musste ich die wissenschaftliche Methode des "10 Sekunden mit geschlossenen Augen wie verrückt am Scrollbalken drehen" einsetzen. Der erste so gefundene Text ist der Artikel über Robert Mugabe, Premierminister und Staatspräsident von Zimbabwe. Sowohl der Encarta-Artikel als auch der Wikipedia-Text sind ausführlich: etwa 10500 Zeichen bei Wikipedia, etwa 7500 bei Encarta. Doch angesichts Mugabes Politik der Enteignungen stellt sich die Frage nach der Wahrung der Neutralität: Welcher Artikel ist einseitiger? Angesichts der Länge des Textes können wir hier außerdem erstmals gut prüfen, ob kollaborativ verfasste Wikipedia-Texte auch lesbar sind.

Der Wikipedia-Text behandelt ausführlich die politische Verfolgung von Mugabes früheren Koalitionspartnern durch die als "berüchtigt" bezeichnete Fünfte Brigade; der Encarta-Text ignoriert diesen Abschnitt weitgehend und spricht nur davon, dass eine "Einparteienherrschaft" errichtet wurde. Wikipedia schreibt von Gesundheitsreformen und Bildungsprogrammen für die schwarze Bevölkerung, Encarta berichtet kaum über Mugabes eigentliche Politik und mehr über seine langfristige Machtkonsolidierung und Änderungen des politischen Systems. Der Wikipedia-Text behandelt Mugabes Verfolgung von Homosexuellen und seine Intervention im kongolesischen Bürgerkrieg, der Encarta-Text berichtet nicht darüber. Beide Texte beschreiben die Kontroverse um die letzte Präsidentschaftswahl im März 2002 und sind damit hinreichend aktuell.

Der Wikipedia-Abschnitt über Mugabes "Landreformen" diskutiert die Argumente der Befürworter und Gegner ausführlich und erklärt, dass unter anderem die Zersplitterung vorheriger Großfarmen und sinnlose Zerstörungen von Maschinen, die vorher Weißen gehörten, zu Produktivitätsverlusten führten. Der Encarta-Text enthält dafür mehr Zahlen über die Enteignungen. Wikipedia fasst kurz zusammen, dass Zimbabwe vorher eine Kolonialmacht namens "Rhodesien" war, benannt nach dem Finanzmagnaten Cecil Rhodes, dessen Firma das Land im 19. Jahrhundert übernommen hatte. Der Encarta-Artikel erwähnt dies nicht, man findet entsprechende Informationen allerdings vergraben im Artikel über Zimbabwe.

Insgesamt wirkt der Encarta-Artikel strukturlos und trocken, eine reine Auflistung von Zahlen und Fakten, die langen Absätze sind noch nicht einmal aufgelockert durch Überschriften. Ein einziges sprödes Schwarzweiß-Bild illustriert den Text. Weblinks gibt es nicht, dafür aber einen Verweis auf eine Encarta-Eigenheit, das "Historama", in dem man sich die Geschichte Zimbabwes als Zeitlinie anschauen kann. Der Wikipedia-Artikel enthält mehrere Überschriften; ein paar kleinere stilistische Fehler und ein mörderlanger Absatz fallen störend auf. Fünf Weblinks auf Artikel über Mugabes Politik ergänzen den Text.

Ein Blick auf die Diskussionsseite und in die Edit-Geschichte zeigt, dass es bereits lange Kontroversen um die NPOV-Darstellung von Mugabes Politik gab, die derzeitige Version stellt einen seit etwa einem Monat stabilen Kompromiss dar. Angesichts der positiven Entwicklung des Artikels zeichnet sich hier langfristig ein deutlich besserer Text als im Microsoft-Kompendium ab.

Das Eingangsgebäude des Irischen Parlaments, fotografiert vom Wikipedianer James Duffy, der wie viele Autoren gelegentlich auf Fotojagd für das Projekt geht. Dieses Bild steht ausnahmsweise nicht unter der GNU FDL, sondern in der Public Domain -- wäre es nicht so, müsste in der Konsequenz dieser gesamte Artikel unter der FDL lizenziert werden und wäre so frei kopier- und veränderbar ("Copyleft").

Als nächstes folgt ein Eintrag über die Stadt Heidelberg. Hier ziehen wir zum Vergleich sowohl den Text in der englischen als auch den in der deutschen Wikipedia heran. Alle drei Enzyklopädien widmen der Universitätsstadt nicht viele Worte. Bei Encarta sind es 2700 Zeichen, bei der englischen Wikipedia 1600, bei der deutschen 1300.

Der Encarta-Text erzählt kurz von Industriezweigen, Gebäuden (insbesondere dem Heidelberger Schloss) und Geschichte und erwähnt das Heidelberger Weinfass sowie den papstkritischen Autor Hieronymus von Prag. Er enthält einen Verweis auf den Encarta-Atlas, zwei Bilder und zwei Quellentexte über Heidelberg; einen Bericht von Victor Hugo und ein Gedicht von Friedrich Hölderlin. Insgesamt also ein runder, wenn auch etwas knapper Artikel.

Der englische Text ist noch kürzer und erwähnt kurz die geographische Lage der Stadt und beschreibt ihr Ambiente ("eine Mischung aus Tradition und Moderne" - etwas banal). Die Geschichte wird in Bullet-Points abgehandelt. Dafür gibt es mehr Querverweise auf bedeutende Akademiker, die sich in Heidelberg aufhielten: Georg Hegel, Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel. Der deutsche Text ist stichwortartig, verweist auf die verschiedenen Stadtteile und enthält lieblos zusammengeworfene Weblinks. Dafür findet sich darin ein Foto, das in der englischen Version (noch) nicht enthalten ist.

Der Scrollbalken führt uns nun zum deutschen Regisseur Rudolf Thome, über den Encarta in drei Absätzen zu berichten weiß. Seine Arbeiten werden - wieder kein NPOV bei Encarta - als "Meisterwerke des Neuen deutschen Films" bezeichnet. Weder die deutsche noch die englische Wikipedia erwähnen ihn.

Der nächste Text ist ein Absatz über Medienerziehung, die Encarta als "den Versuch, Kindern und Heranwachsenden Kompetenz .." - man kann sich den Rest denken - definiert. Zielführende Internetnutzung, Unterscheidung von Information und Werbung, Medien und Gewalt werden kurz erwähnt. Der Text ist banal und enthält keine Details, die man sich nicht bereits aus dem Titel denken kann. Ein Äquivalent unter dem gleichen Titel existiert weder in der englischen noch der deutschen Wikipedia, der erschreckend unterentwickelte Text Mass media erwähnt das Problem der Mediengewalt nicht. Der deutsche Text Fernsehen geht kurz auf Medienwirkung, Mediengewalt und Medienpädagogik ein und verweist auf einen noch nicht existenten Artikel gleichen Namens. Im englischen Television findet sich darauf kein Hinweis, und auch die Zensurdebatte in den USA wird dort nicht erwähnt - lediglich ein unscheinbarer Hinweis auf den V-Chip verrät mehr. Hier müssen beide Enzyklopädien noch Inhalte und Struktur schaffen.

Wie sieht es bei politischen Figuren aus, die im Westen weitgehend unbekannt sind? Encarta liefert per Zufall eine verhältnismäßig ausführliche Kurzbiographie des kambodschanischen Prinzen Samdech Norodom Ranariddh. Wikipedia ist der Mann weitgehend unbekannt, lediglich der aus dem CIA World Factbook importierte Artikel Politics of Cambodia verweist auf einen wiederum nichtexistenten Text. Tatsächlich gibt es auf Wikipedia offenbar keinen Kambodscha-Experten - die meisten relevanten Texte sind knapp und wenig editiert.