Alles verzettelt!
Alte Technik neu im Einsatz: "Zotero" lässt das Prinzip "Karteikartensystem" abheben
„Zotero“ übersetzt das Prinzip des Zettelkastens ins Zeitalter des Web 2.0. Das ist nicht nur praktisch für den Hausgebrauch. Für die Scientific Community eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten, online zusammenzuarbeiten. Dabei werden endlich auch Internet-Seiten als Quellenmaterial zitierfähig.
Niemand weiß genau, wie viel Informationen es auf der Welt gibt. Für das Jahr 2002 schätzten Wissenschaftler der Universität Berkeley das Gesamtvolumen auf fünf Exabyte. Vier Jahre später waren es, nach einer neulich publizierten Berechnung des International Data Center IDC, bereits mehr als dreißig mal so viel: 161 Exabyte. Auf Papier ausgedruckt, ergäbe das eine Strecke von zwölf Stapeln Büchern, die von der Erde bis zur Sonne reichen Was tun, mit all den Informationen?
Sammeln, zerlegen, aufbewahren
Ein kleines Programm mit dem Namen Zotero will dem einzelnen helfen, sich einen persönlichen Zugang zu den 161 und mehr Exabyte zu schaffen. Dabei kommt eine Technik zum Einsatz, die schon der römische Philosoph Seneca vor zweitausend Jahren beschrieben hat: das private Notizbuch. Wie die Bienen von Blume zu Blume fliegen und den Nektar, den sie zusammengetragen haben, auf verschiedene Waben in ihrem Stock verteilen, so, erklärte Seneca, soll auch der Leser die Ideen, auf die er beim Lesen stößt, sammeln und, in passende Einzelteile zerlegt, aufbewahren.
Zotero übersetzt diese Idee ins Internet-Zeitalter. Mithilfe des Programms lassen sich auf dem PC nicht nur Notizen sammeln und ordnen, sondern auch Webseiten sowie Text-, Film- und Musikdateien. Die Ordnungsstruktur ist jener von „iTunes“ nachempfunden. Anstatt dass jeder Eintrag in einem einzelnen Ordner (oder Unter-unter-unter-Ordner) abgelegt wird, kann er bei Zotero mit einer Vielzahl von Schlagwörtern versehen werden – und später entsprechend leichter wiedergefunden werden. Das wichtigste aber ist: die vor kurzem als einigermaßen stabile Beta-Version erschienene Version 1.5 erlaubt es den Nutzern, auf die gesammelten persönlichen Daten auch online zuzugreifen. Noch in diesem Jahr sollen weitere Funktionen hinzukommen, die es ermöglichen, das persönliche Archiv mit ausgewählten anderen Nutzern oder mit der breiten Öffentlichkeit zu teilen.
Du bist nicht allein
Catriona MacCallum, die als Leitende Redakteurin bei dem Nonprofit-Verlag „The Public Library of Science (PLoS) tätig ist und sich viel mit dem Thema Wissenschafts-Kommunikation im Internet befasst, glaubt: „Zotero“ wird bisherige Social Bookmarking Dienste wie „Delicious“(de.icio.us) oder „Connotea“(www.connotea.com) ersetzen“. Ebenso wie diese, wird Zotero die Verschlagwortung von Webseiten durch eine anonyme Nutzergemeinde ermöglichen. Darüber hinaus jedoch ist der große Vorteil von „Zotero“, dass das Programm eine Vielzahl von Nutzungsmöglichkeiten zusammenfasst, für die man bislang unterschiedliche Anwendungen bemühen musste.
Dazu gehören Archivierungsprogramme (wie das den Mac-Nutzern vorbehaltene Devonthink; digitale Zettekästen wie Ideanotes oder Synapsen; Webseiten-Schnappschuss Archivierer wie Evernote; und reine Literaturverwaltungssysteme (wie EndNote). „Wenn der Internet-Zugriff auf Informationen, die man in ‚Zotero’ gespeichert hat, steht, könnte das Programm als Alternative zu bisherigen Systemen interessant werden“, meint Ludwig Merker der an der Universität Bayreuth BWL lehrt und in Deutschland der erste war, der einen (auf der Zotero-Webseite verzeichneten Einführungskurs) in das Zettelkastenprogramm angeboten hatte.
Der Wechsel wird einem leicht gemacht: Zotero ist kompatibel mit so gut wie allen anderen Programmen, die ähnliche Teilfunktionen erfüllen. Daneben hat Zotero den Vorzug, dass es auf dem open source Prinzip basiert (und deshalb beliebig ergänzbar ist) und, anders als übliche Literaturverwaltungsprogramme, gratis verfügbar ist.
Alles in einem
Zu verdanken ist dies dem Engagement der amerikanischen Andrew W. Mellon Stiftung, der Alfred P. Sloan Foundation und dem United States Institute of Museum and Library Services, die das Projekt gemeinsam finanzieren –als Geschenk an die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft. Dieser institutionelle Hintergrund ist wichtig. Denn er garantiert, dass Zotero ausreichend langen Atem haben wird, um sich als Rechercheinstrument zu etablieren und eine kritische Menge an Anwendern zu gewinnen, die von der gemeinsamen Nutzung profitieren.
Entwickelt wurde Zotero unter der Leitung von Dan Cohen am Center for History and New Media an der George Mason University. Dort hatte man bereits in den letzten Jahren mit einzelnen Komponenten, die jetzt in Zotero integriert sind, Erfahrungen gesammelt. Der (ebenfalls frei verfügbare Dienst) Scrapbook ermöglichte es, Bilder, Textpassagen und Links beim Browsen online abzuspeichern und mit anderen zu teilen. Omeka wurde als Plattform zur Online-Präsentation von historischen Sammlungen geschaffen; Scribe als persönlicher Zettelkasten.
„Als wir darüber nachdachten, die bereits existierenden Programme weiter zu entwickeln kamen wir auf die Idee, sie zu kombinieren“, berichtet Dan Cohen. Dabei waren ihm und seinen Kollegen zwei Dinge wichtig: Die Anwendung sollte online ebenso wie offline funktionieren und das persönliche Notizbuch mit der großen weiten Welt von Informationen verzahnen, die für den öffentlichen Gebrauch aufbereitet sind. Schließlich sollte alles von dort aus zu bedienen sein, wo sich die meisten eh aufhalten, wenn sie vor dem Computer sitzen: dem Webbrowser. Zotero arbeitet als Firefox-Plugin.
“Smartfox” sollte das neue Programm erst heißen. Aber ein Teenager aus New Jersey hatte sich die Domain bereits geschnappt und eine exakte Nachbildung von „Firefox“ darauf gestellt. Zwischendurch hieß das Programm „Firefox Scholar“. „Irgendwann brachte uns ein Kollege aus Osteuropa darauf, es einmal mit albanischen Namen zu versuchen“ erinnert sich Cohen. So kam es zu Zotero – was auf albanisch so etwas ähnliches heißt wie „sich etwas aneignen“.
Vorläufiger Höhepunkt einer jahrhunderte alten Kulturtechnik
Wenn man in die Geschichte zurückschaut, dann ist Zotero der vorläufige Schlusspunkt einer Entwicklung von Techniken, die mit Überlegungen zur „Kunst des Notizenmachens“ beginnt, wie man sie bei Seneca findet, aber auch, im zwanzigsten Jahrhundert, bei der Soziologin Beatrice Webb, die den Slogan „Eine Idee, eine Karte!“ als Maxime für effizientes Arbeiten mit Karteikarten populär machte. Der zweite Schritt ist die seit dem 16. Jahrhundert praktizierte Methode des ‚Verzettelung’ – zunächst zur Verwaltung persönlicher Notizen (oft in eigens dafür angefertigten Schränken); später, im 18. und 19. Jahrhundert, als methodisch ausgereifter Bibliothekskatalog. In den 20er und 30er Jahren schließlich erlebte der Zettelkasten mit der Einführung der 3 x 5 Inch großen Karteikarte den Höhepunkt seiner Karriere vor allem im Büro- und Geschäftsbereich.
Die dritte Station: ein Katalog, der nicht nur Bücher und andere Gegenstände der Offline-Welt auflistet, sondern ebenso Informationen im Internet – und der nicht von Einzelpersonen erstellt wird, sondern von einer Online-Nutzergemeinde. Dieses Ziel strebt Zotero an.
Am Ende soll Zotero in der Lage sein, ähnlich wie die Buchempfehlung bei Amazon verschiedene Archiv-Einträge automatisch mit einander zu verbinden. Außerdem ist die Einrichtung der „Zotero Commons“ geplant. Diese sollen ein Teil des gemeinnützigen „Internet Archive“ werden. Zotero-Nutzer werden hier digitale Inhalte in gesicherter Form ablegen, katalogisieren und frei zugänglich machen können.
Damit könnte sich auch die Praxis wissenschaftlichen Arbeitens ändern. Noch ist es in vielen wissenschaftlichen Disziplinen verpönt, in Veröffentlichungen auf Informationen im Internet zu verweisen. Zu ungewiss ist, ob diese Informationen nicht einfach irgendwann verschwinden. Die „Zotero Commons“ könnten dem abhelfen und mit dazu beitragen, dass die gesamte Internet-Kommunikation in der Forschung ein größeres Gewicht erhält. Davon abgesehen empfiehlt sich Zotero aber auch für den Hausgebrauch – zur Sammlung von Kochrezepten, Reisetipps oder Geschenkideen.