Am Anfang war Kannibalismus

Wenn es zum Überleben notwendig ist, saugen manche Bakterien ihre Artgenossen aus

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Bakterien waren die ersten Erdbewohnern lange bevor der Mensch in Erscheinung trat. Trotzdem sie klein sind, müssen sie um ihr Überleben kämpfen, um die notwendige Nährstoffe zu gewinnen. Was tun, wenn die Umgebung unwirtlich wird? Zum Beispiel Sporen bilden. Diese Fähigkeit ist allen Bacillus- und Clostridienarten gemeinsam und macht Anthrax zur Biowaffe, weil die Sporen in feuchtem Milieu zu neuem Leben erwachen.

Folglich ist die Sporenbildung für die Bakterien eine Notsituation. Auf der Suche wie dieser Prozess getriggert wird, hat die Arbeitsgruppe von Richard Losick vom Department of Molecular and Cellular Biology an der Harvard University ein bemerkenswertes Phänomen entdeckt (Science Express) Das Regulatorprotein Spo0A bildet zwei Operone, also funktionelle Einheiten von Strukturgenen und Kontrollelementen. Das eine wird von den Forschern als sporulation killing factor (skf) bezeichnet. Das zweite Operon als sporulation delaying protein (sdp).

Bazillen, die sich anschicken, Sporen zu werden, sorgen mit dem sporulation delaying protein dafür, dass ihre Nachbarn nicht auf dieselbe Idee kommen. Danach wird der sporulation killing factor aktiviert. Er zersetzt die überrumpelten Artgenossen und liefert das Futter, um die energieaufwendige Sporenbildung fortzusetzen.

Lebende Bakterien (grün) haben zahlreiche Verwandte unschädlich gemacht (rot), um sie aufzufressen. (Bild: Science)

Die als Express-Information der Science-Redaktion dem gedruckten Heft vorgezogenen Ergebnisse sind aus mehreren Gründen bemerkenswert.

Zum einen rechtfertigen sie die Umorientierung der amerikanischen Mikrobiologie in eine Wissenschaft, die sich nunmehr der Bekämpfung des Bioterrors verschrieben hat. Ohne diesen Stimulus wäre der Mechanismus der Sporenbildung bestenfalls zufällig ein Forschungsprojekt geworden. Auf der Suche nach neuen Konzepten, um den Anthraxsporen beizukommen, fällt das Interesse auf den harmlosen Stamm Bacillus subtilis.

Man darf vermuten, dass sich Bacillus anthracis ähnlich verhält. Da die Forscher für ihre Beweiskette künstlich hergestellte Mutanten des Bacillus subtilis benutzen, weisen sie den Weg für gleichsinnige Forschungen am Anthrax.

Zum anderen wurde noch nie zuvor Kannibalismus bei Bakterien nachgewiesen. Mit den Ergebnissen tut sich völlig überraschend eine neue Tür auf. Da geht es einmal darum, ob der Kannibalismus ebenso bei anderen Bakterien vorkommt. Und natürlich drängt die Frage: kann dieser Effekt im Kampf gegen die Bakterien ausgenutzt werden?

Richard Losick verweist auf frühere Ergebnisse seines Teams, nach denen das Operon skf ein Motor für die Bildung von Antibiotika ist. Damit schließt sich der Kreis zu einer Stoffgruppe, die bisher als Peptidantibiotika bezeichnet wird.

In einer Minireview von 1999 beschreiben Hancock und Chapple die antimikrobiellen Peptide als eine in die Hunderte gehende Gruppe, von denen viele ganz natürlich von den Ribosomen gebildet werden. Die von Richard Losick gefundene Verbindung zwischen skf und dem antibiotischen Peptid Subtilosin verspricht neue Ordnungskriterien, nach denen die bisher gefundenen Wirkstoffe klassifiziert und nunmehr systematisch untersucht werden können. Der Weg von der Idee zu einem für den Menschen nutzbaren Therapeutikum beträgt zwar 10 und mehr Jahre. Dennoch ist es wie ein Silberstreifen am Horizont im Kampf gegen die Superbugs. Deren Resistenz gegen alle herkömmlichen Antibiotika könnte möglicherweise dank Kannibalismus geknackt werden.

Der Beitrag in Science ist zugleich ein Bekenntnis zur freien Wissenschaft. Noch vor wenigen Monaten hatten sich die Herausgeber führender amerikanischer wissenschaftlicher Zeitschriften dafür ausgesprochen, Biodefense-relevante Artikel nicht zu publizieren. Möglicherweise ist das aktuelle Editorial die Rechtfertigung für die Umkehr. David J.Galsa und Henry Riggs vom Keck Graduate Institute of Applied Life Sciences schreiben u.a.:

Sollten sich die Vereinigten Staaten zurückziehen und vom globalen Dorf (global community) abschneiden, das sie selbst zum Leben erweckt haben, wird unsere zukünftige wissenschaftliche Entwicklung zum Mittelmaß verkommen. Die einzige Unsicherheit ist die Geschwindigkeit des Verfalls.