"Amerikaner sind Pragmatiker im Dienste ihres eigenen Idealismus"

Ein Gespräch mit Professor Dr. Marcia Pally über Geschichte und Gegenwart der US-amerikanischen Rechten, die Wurzeln der amerikanischen Weltsicht und warum sich die USA immer wieder neu erfinden

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Professor Dr. Marcia Pally lehrt an der New York University Multilinguale und Multikulturelle Studien und ist ein Permanent Fellow am New York Institute of the Humanities. Ihre jüngsten Bücher sind: „Liebeserklärungen aus Kreuzberg und Manhattan“ (2009), „Die hintergründige Religion: Der Einfluss des Evangelikalismus auf Gewissensfreiheit, Pluralismus und die US-amerikanische Politik“ (2008), und „Warnung vor dem Freunde: Tradition und Zukunft amerikanischer Außenpolitik“ (2008). 2007 war Pally Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Neben ihrer akademischen Arbeit schreibt Pally seit 20 Jahren für die The New York Times, The Village Voice, The Nation, Internationale Politik, die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, die Tageszeitung, die Berliner Zeitung, den Tagesspiegel und die Frankfurter Rundschau.

Nach ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen galten die Republikanische Partei und die amerikanische Rechte als politisch marginalisiert. Nun, nur wenige Monate nach den Wahlen, gaben die Proteste gegen die Gesundheitsreform konservativen und rechtsradikalen Gruppen die Gelegenheit für ein spektakuläres Comeback. Wie hat die Politik der Demokraten zu diesem Wiederaufleben der Rechten beigetragen, welche Fehler beging die Obama-Administration?

Marcia Pally: Eine Antwort darauf muss kurzfristige und langfristige Entwicklungen berücksichtigen. Kurzfristig beging die Obama-Administration den Fehler übermäßiger politischer Generosität. Obama ist aufgrund seiner politischen Weltsicht, seiner Biografie, aber auch seiner christlichen Ethik – er ist ein ziemlich ernsthaft praktizierender Christ – überzeugt, dass der produktivste Weg zur Zukunft letztendlich durch Brückenschläge zu den Anderen, sogar zu politischen Feinden beschritten wird, um so Gemeinsamkeiten zu finden. Das einzige Problem damit ist aber gegenwärtig, dass die Republikaner dieses Spiel nicht spielen wollen. Obama streckt seine Hand über den politischen Graben und die Republikaner hacken diese ab, wenn ich solch eine kräftige Metapher gebrauchen darf. Die Republikaner waren entrüstest angesichts ihrer Wahlniederlage bei der Präsidentschaftswahlen und sind nun daran interessiert, das zu tun, was politische Gruppen eigentlich immer tun: Sie versuchen, die Macht erneut zu erobern. Sie sind nicht daran interessiert, konstruktiv zusammenzuarbeiten und einen Konsens zu finden bei wichtigen Politikfeldern. Einerseits ist machen politische Parteien dies immer bis zu einem gewissen Grad, anderseits konsolidierte sich die Republikanische Partei um ihren rechten Flügel, insbesondere aus taktischen Gründen, und ist nun besonders entschlossen, die Macht auch mit rabiaten Methoden zurückzuerobern.

Ist diese Obsession mit der Konsensbildung nicht merkwürdig? In einer Demokratie müsste doch offensichtlich sein, dass es verschiedene Gruppen und Klassen gibt, die auch unterschiedliche Interessen verfolgen.

Marcia Pally: Die Suche nach Konsens bedeutet nicht, dass ist keine Unterschiede gibt. Diese ebnet nicht die bestehenden Unterschiede ein. Man bildet einen Konsens bei einer bestimmten Politik, doch findet dies zwischen Menschen statt, die durchaus unterschiedliche Ansichten haben. Obamas Stärke liegt ja gerade in seiner intellektuellen Kapazität, Menschen mit sehr unterschiedlichen Auffassungen – selbst in seiner eigenen Partei – zusammenzubringen, ihnen zuzuhören und ihre Stärken auszuloten. Das ist natürlich ein sehr andersartiges Spiel als das, was von den Republikanern betreiben wird, die einfach nur die Macht zurückerobern wollen. Bei dem einen geht es um politische Gesetzgebung, bei dem anderen um das Wiedererlangen von Macht.

Das ist ja gerade der springende Punkt, dass Konsens bei einer bestimmten Politik gebildet werden müsste. Das ist ja im Fall der Gesundheitsreform kaum möglich, da die von diesem Vorhaben tangierten Akteure ja gegensätzliche Interessen verfolgen – allein aufgrund ihrer ökonomischen Stellung in der Gesellschaft. Die Gesundheitsindustrie - wie die Krankenversicherer oder die Pharmakonzerne - und deren Kunden haben ja sich ausschließende Interessen. Die Einnahmen und Gewinne der Gesundheitsindustrie werden durch die Aufwendungen der Versicherten oder Kranken erzielt. Ist es da nicht arg blauäugig, wenn Obama in diesem scharfen Interessenkonflikt einen „Konsens“ zu erreichen versucht? Oder haben Publizisten wie Glenn Greenwald doch recht, wenn sie behaupten, dass Obama mit dieser Konsensstrategie bemüht war, die Gesundheitsreform absichtlich von den Republikanern und rechten Demokraten verwässern zu lassen, um es dann besser vor seiner progressiven Basis rechtfertigen zu können?

Marcia Pally: Ich vermute, der springende Punkt ist eher der, dass Sie glauben, die Versicherungs- und Pharmaindustrie verfolge gegensätzliche Interessen zu denen der gewöhnlichen Amerikaner, was einen Konsens unpraktikabel erscheinen ließe. Aber dann wäre es nicht schwer, ein Gesetz zum Aufbau einer staatlichen Krakenversicherung zu verabschieden, da es viel mehr gewöhnliche Amerikaner als Interessenvertreter der Gesundheitsindustrie gibt. Das Problem liegt aber darin, dass viele gewöhnliche Amerikaner selber dem Antietatismus, den freien Märkten und den Möglichkeiten individueller Wahl hohe Priorität einräumen. Die Gesundheitsindustrie profitiert davon.

Was die Idee angeht, der zufolge Obama seine Reform im Rahmen einer Strategie scheitern ließ, mittels derer er seine Gegner diskreditieren und einen zweiten Versicherungsplan präsentieren könnte, so halte ich dies für sehr unwahrscheinlich. Erstens schädigt die Debatte ihn, da sie viele Amerikaner daran erinnert, dass sie innerlich, in ihren „Eingeweiden“, Werte schätzen, die am besten durch die Republikaner ausgedrückt werden. Zweitens, da die Debatte so schwer und aufreibend ist, wird er – wie Clinton und andere Präsidenten vor ihm – keine zweite Chance zur Durchsetzung einer Gesundheitsreform erhalten.

Die Aufforderung „Mach es selber“ und ein tiefes Misstrauen gegenüber der Regierung gehört zum amerikanischen Selbstverständnis

Das Verhalten von Republikanern und Demokraten in der Opposition scheint grundlegend verschieden. Die Demokraten bemühen sich ja immer um eine konstruktive Opposition, sie tendieren dann eher zum Zentrum des politischen Spektrums. Die Republikaner hingegen reagieren in der Opposition mit einer Radikalisierung.

Marcia Pally: Lassen Sie mich es etwas anders formulieren. Eines der wichtigsten Merkmale der republikanischen Partei bestand in der letzten 30 Jahren in einer eisernen Parteidisziplin. Die Demokraten hingegen waren in den letzten 35 Jahren einfach desorganisiert. Der letzte Demokrat, der Machtpolitik genauso wie die Republikaner auffasste, war Lyndon Baines Johnson. Die Demokraten unterliegen einer doppelten Benachteiligung. Neben der gerade dargelegten schwächeren Organisation und Parteidisziplin, sowie der Fokussierung Obamas auf Konsensbildung kommt noch ein weiterer, langfristiger Aspekt hinzu. Die Demokraten haben es immer schwerer, die Wählerstimmen der Amerikaner zu gewinnen.

Das innerste antreibende Konzept Amerikas ist rechts-zentristisch: Es ist individualistisch, liberal – im politischen wie wirtschaftlichen Sinn -, regierungs- und staatskritisch, antiautoritär und populistisch. Die republikanische Partei hat es sehr viel einfacher, ihre ökonomische Politik in Einklang mit dieser grundlegenden amerikanischen Weltsicht zu bringen, weil die Republikaner auch einen offenen, unregulierten Markt und einen schlanken Staat – mit Ausnahme des Militärs - wollen. Diese amerikanische Weltsicht – die von der Grenzerfahrung sowie einem rauen Individualismus geprägt ist und auf Selbstständigkeit baut - entwickelt sich seit dem 18. Jahrhundert. Die Aufforderung „Mach es selber“ und ein tiefes Misstrauen gegenüber der Regierung gehören ebenfalls zu diesem Konzept.

Die Regierung ist in den Vereinigten Staaten – im Gegensatz zu Europa – immer ein Verdächtiger. Das Gute, die Werte Amerikas liegen immer in den Menschen, in der amerikanischen Nation, und niemals in der Regierung. Deswegen haben die Demokraten einen besonderen Nachteil. Zusätzlich zu den drei taktischen Nachteilen, die wir diskutiert haben, haben sie Schwierigkeiten, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass gesteigerte Regierungsaktivität positiv ist – und dies auf einer sehr grundlegenden Ebene.

Dies gelang manchmal den Demokraten, und das beste Beispiel hierfür ist natürlich Franklin Delano Roosevelt, dem die Depression und der Krieg halfen. Aber er war auch fähig, den amerikanischen Individualismus in einer weise neu zu formulieren, die der Demokratischen Partei nütze. Roosevelt sagte: „Ja, wir sind individuelle Menschen, und jeder und jede hat das Recht, vorwärts zu streben und seine Chancen wahrzunehmen. Wir, die Regierung, werden aber die kleinen Leute vor den Reichen, vor Kartells, Monopolen und dominanten Konzernen beschützen.“ Also gelang es ihm, die Regierung als eine helfende Instanz für die individualistischen, risikobereiten, energetischen und liberalen Amerikaner darzustellen, die zugleich den einfachen Bürger vor den mächtigen Reichen beschützt. Mittels dieser Philosophie hielten die Demokraten die Präsidentschaft und den Kongress von 1932 bis 1968 – mit der Ausnahme der Eisenhower-Jahre, während derer sie aber trotzdem noch die Mehrheit im Kongress hatten.

Was führte das Ende dieser Periode demokratischer Dominanz herbei, war es die ökonomische Krise der frühen Siebziger Jahre, die Ära der so genannten Stagfaltion?

Marcia Pally: Das fing schon gut zehn Jahre zuvor mit dem demokratischen Verlust dessen an, was ich die „Amerikanische Imagination“ nennen möchte. Es begann in den Sechzigern, als sie den Vietnam-Krieg zu verlieren begannen. Die Demokraten unterstützten auch eine Bürgerrechts-Gesetzgebung, die der Nation weit voraus war und viele Weiße ängstigte. Lyndon Baines Johnson initiierte das ökonomische Programm der Great Society, das viele Amerikaner als ein Regierungsgeschenk an die „faulen, einfallslosen Armen“ auffassten. Dies hat zutiefst die amerikanischen Auffassungen von Eigenständigkeit und Eigeninitiative beleidigt. Ich sage nicht, dass das Programm der Great Society dies tatsächlich tat, doch das dachten viele Amerikaner.

Zudem waren viele Amerikaner empört und verwundert, dass ihr Land dabei war, einen Krieg in einem kleinen, unterentwickelten Land zu verlieren. Sie waren entsetzt über die Bürgerrechtsgesetzgebung für Schwarze und Frauen. Dann begann in den Siebzigern die Schwulenbewegung. Wir hatten die Gegenkultur der Hippies. Und ein großer Teil Amerikas assoziierte die Demokraten mit diesem „Durcheinander“. Die Republikaner konnten dann kommen und erklären: „Ja, die Demokraten sind unamerikanisch und unsere Partei repräsentiert die grundlegenden amerikanischen Werte.“ Sie waren damit in der Lage, das Land zu gewinnen.

Es herrscht heute große Angst in einem Teil der Bevölkerung Amerikas

Kann man sagen, dass die Republikaner diese Ängste vor neuen Entwicklungen benutzt und instrumentalisiert haben?

Marcia Pally: Na ja, das klingt ja so, als ob die Republikaner von außen kämen, von einem anderen Planeten und dann diese Ängste benutzt hätten. Sie benutzten diese Ängste nicht, sie sind ja selber Teil der Vereinigten Staaten. Das ist Teil ihrer eigenen Kultur und Mentalität, sie glauben daran. Die Republikaner kommen ja nicht vom Mars.

Die Republikaner waren also Teil einer breiten gesellschaftlichen Gegenreaktion gegen diese neuen Entwicklungen.

Marcia Pally: Ja, ich würde das schon als eine Gegenreaktion bezeichnen. Ich bin überzeugt, sie glaubten ehrlich, dass die politische Richtung sehr schlecht für das Land war, die die Vereinigten Staaten in den sechziger Jahren einschlugen.

Würden Sie das als eine reaktionäre Bewegung bezeichnen?

Marcia Pally: Was die Republikaner taten, war sehr Mainstream-kompatibel. Was die Republikaner in den sechziger und siebziger Jahren machten, war keineswegs neu. Sie artikulierten die politischen Positionen, die in den meisten Perioden der amerikanischen Geschichte als uramerikanisch galten: Also das Misstrauen gegenüber der Regierung und die Litanei des Glaubens an die individuellen Chancen und Möglichkeiten usw. Sie erfanden das in den sechziger Jahren nicht neu, sondern reartikulierten dem amerikanischen Mainstream innewohnende Positionen.

Und das ist wiederum etwas, was auch heute sich ähnlich vollzieht: In Bezug auf die Gesundheitsreform, auf das Waffenrecht, auf die Anti-Obama-Bewegung oder die Tea-Partys, die sich gegen übermäßige Besteuerung richten. Hier werden die selben Ängste und Überzeugungen wach. Kulturen ändern sich nicht so schnell und Amerika ist mit seinen Fundamenten immer noch dort, wo es immer war. Es herrscht heute große Angst in einem Teil der Bevölkerung Amerikas – ironischerweise sogar vor dem, was in dem Wahlslogan Obamas auftauchte: Wandel.

Was sind das für Leute und Gruppen, die all diese Proteste gegen die Gesundheitsreform organisieren? Können Sie uns etwas über dieses politische Spektrum erzählen? Was für ideologische und politische Traditionen sind in dieser Bewegung virulent?

Marcia Pally: Es gibt drei Gruppen, die hier ihre Ängste ausdrücken. Zum einen sind da natürlich die Rassisten, die fassungslos sind, dass ein schwarzer Präsident werden konnte. Sie können das einfach in ihren Eingeweiden nicht tolerieren. Ich glaube, dass dies nicht allzu interessant ist. Viel interessanter – und in viel größerer Anzahl vertreten – ist dieser populistischer Ausbruch durch für gewöhnlich weiße und männliche, für gewöhnlich der Mittel- oder Arbeiterklasse angehörige Demonstranten, die korrekterweise fühlen, dass sie in einer zunehmend globalisierten Ökonomie – mit zunehmendem Anforderungen an technologisches Wissen und Bildung – zu den Verlieren gehören. Man könnte dies die in der Industrie und den niedrigeren Rängen des Dienstleistungssektors arbeitende Klasse nennen, die in den vergangenen 100 Jahren ein gutes Mittelklasseeinkommen erzielte. Und sie liegen da ganz richtig, wenn sie füllen, das sie nun zu den ökonomischen Verlierern gehören.

Diese Menschen wissen jetzt nicht, wohin sie ihre Wut wenden sollen. Wenn du sagst, das ist wegen der globalen Ökonomie und der steigendem Technologischen- und Bildungsanforderungen, dann ist das etwas, was man sich schwer eingestehen will. Niemand möchte seine persönliche Situation in einer Art und Weise analysieren, in der diese hoffnungslos wirkt. Es ist psychologisch viel antreibender, seinen Gegner als einen Präsidenten zu identifizieren, der schwarz ist oder auch noch mit Milliardenbeträgen die Banken und Konzerne in der Krise gerettet hat.

Dann gerät auch eine ganze Gemengelage populistischer Ängste in Wechselwirkung: Es ist die Angst vor einem übermächtigen Staat, die Wut über die Rettungsaktionen für die Banken, die Angst vor dem Verlust des Rechts auf das Führen von Waffen, die Befürchtung, seine individuellen Rechte und Möglichkeiten zu verlieren. Die reellen – und begründeten - ökonomischen Ängste eines Teils der Bevölkerung öffneten eine Büchse der Pandora sehr traditioneller, sehr alter und weit verbreiteter amerikanischer Ängste. Das sieht man beispielsweise einen dem dramatischen Anstieg des Absatzes von Feuerwaffen.

In einigen Staaten sollen ja sogar Lieferengpässe bei Munition aufgetreten sein, da die Produzenten der enormen Nachfrage kaum noch gerecht werden können.

Marcia Pally: Ja, die Munition ist teilweise ausverkauft. Es wurden auch neue Gesetze erlassen, die den Erwerb von Feuerwaffen oder das verdeckte Tragen von Waffen erleichtern. Ich möchte nur auf einen Artikel hinweisen, den ein Rechtsanwalt der NRA, der National Rifle Association verfasst hat. Dieser sagte ganz klar, dass das Recht zum Führen von Waffen nicht für die Ausübung der Jagd bestimmt sei. Das Recht zum Führen von Waffen, ich zitiere: „zielt auf die Aufrechterhaltung einer bewaffneten Anzahl von Bürgern, die uns gegen die Tyrannei unserer eigenen Regierung beschützen“ werde. Wer ist also der traditionelle Bösewicht in Amerika, wenn die Menschen ernsthafte ökonomische Probleme haben: „Big Government“, die zu groß geratene Regierung. Deswegen hatte die Versicherungsbranche während der Debatte um die Gesundheitsreform auch diesen Erfolg mit ihrer Argumentation, dass die staatliche Gesundheitsversorgung den einzelnen Individuen ihre private Krankenversicherung „wegnehmen“ werde.

Das amerikanische Heilsversprechen und die Außen- und Kriegspolitik

Ist diese Angst vor der Regierung, wie sie von der amerikanischen Rechten zum Ausdruck gebracht wird, nicht schizophren? Ich meine, diese Leute rasten aus, wenn eine staatliche Krankenversicherung zur Debatte steht, aber keiner von ihnen protestierte beispielsweise gegen den “Patriot Act” oder andere Gesetzesvorhaben, die die Machtbefugnisse des amerikanischen Sicherheitsapparates enorm ausweiteten und die Bürgerrechte unterminierten. Im Gegenteil: ein guter Teil der rechten amerikanischen Öffentlichkeit legt eine Servilität gegenüber den Sicherheitskräften an dem Tag, die nur noch vom deutschen Untertanengeist erreicht wird, der ja ebenfalls in einem jeden Uniformträger eine unanfechtbare Autorität erblickt.

Marcia Pally: Ich würde nicht „schizophren“ sagen, aber Ihre Frage deutet auf etwas, was als ein Paradoxon amerikanischer Kultur erscheint. Doch bei genauer Betrachtung wird dies vielleicht weniger paradox sein, als es den Anschein erweckt. Zuerst ist das Misstrauen gegenüber der Regierung nicht nur eine Haltung der amerikanischen Rechten, sondern eher tief eingebettet in die amerikanische Kultur. Nicht nur wurde das Land gegründet im Krieg gegen die Zentralregierung in London, die rauen Bedingungen von Immigration und Ansiedlung – wo wenige Institutionen und Autoritäten bestanden und das Überleben von Eigenständigkeit und freiwilligen Assoziationen abhing - begünstigten die amerikanische Anpackermentalität und das Gefühl, dass die Regierung als der Akteur fungiert, der entweder Rechte und Eigentum konfisziert oder einfach alles verpfuscht. Dieser Strang wirkt fort im Fundament der amerikanischen Anschauung, zum Beispiel in dem Disput über die Rechte der Bundesstaaten und der Zentralregierung (was auch das Motiv für den Bürgerkrieg und die Opposition gegen die Bürgerrechtsbewegung war: Das heißt, Washington hat kein Recht, den Staaten zu sagen, was zu tun ist).

Also, wieso gab es so wenig Proteste gegen die Ausweitung des „Big Government“ durch den Patriot Act, welcher tatsächlich der Bundesregierung eine große Machtfülle verlieh? Einen weiteren fundamentalen Strang der amerikanischen Anschauung, der mit dem Misstrauen gegenüber der Regierung verwoben ist, bildet der Glaube an die Freiheit, im politischen (Demokratie) und ökonomischen (Freie Märkte) Sinn.

Aber dieser Glaube an politische und ökonomische Freiheit – diese beiden sind in der amerikanischen Weltsicht tatsächlich verschmolzen – hat seine Wurzeln nicht nur in der Emigration, der Grenzerfahrung und dem britischen Liberalismus, sondern auch im amerikanischen Evangelikalismus (eine höchst individualistische Religion, die individuelle Freiheit und Eigenständigkeit preist). Hieraus entstand die Mythopoetik der eigenverantwortlichen, missionarischen Anpackermentalität, die manchmal als Amerikas „zivile Religion“ bezeichnet wird.

Dadurch fühlte Amerika die Verpflichtung – die Mission –, der ganzen Welt die Freiheit zu bringen, zum Vorteil der USA und der anderen Länder. Diese verwobenen ökonomischen und politischen Freiheiten sollten allen Parteien zugute kommen, den Lebensstandard steigern und Zuhause wie im Ausland Demokratie verbreiten – wenn nicht sofort, so zumindest letzten Endes. Das ist die amerikanische Heilsbotschaft. Und Amerika fühlte sich verpflichtet, diese „gute Nachricht“ der Welt zu bringen, so wie die Evangelikalen die Gefallenen zu Christus bringen. Sollte die "Befreiung" das Opfer des Krieges erfordern, so wird es nicht nur zur Bewahrung US-amerikanischer Wirtschaftsinteressen erbracht, sondern auch zur Wahrung vor Freiheit daheim und im Ausland. Anstatt die US-Außenpolitik als heuchlerisch zu betrachten – als das Überziehen ökonomischer Interessen mit einer Patina freiheitlicher Ideen, um so Habgier zu legitimieren –, ist gerade der Umstand faszinierend, dass Amerikas zivile Religion aufrichtig geglaubt und die Verpflichtung ernst genommen wird. Beachten Sie die letzten Worte des Mariens Steven Gill, bevor er am 21. Juli 2005 im Irak getötet wurde: „Wenn jemand fragen sollte, was passiert sei, sag ihm, dein Sohn starb nicht, weil er das tat, was er liebte, sondern weil er das tat, was er für richtig hielt.“

Diese Mission, ökonomische und politische Freiheit überall zu bringen oder aufrechtzuerhalten, ist das, was die Amerikaner glauben mit ihrer Außenpolitik zu bezwecken – ob die Ziele der amerikanischen Wohltätigkeit damit einverstanden sind, ist eine andere Sache. Man kann dies bei Steven Gill nachlesen. Oder bei dem Dichter Walt Whitman, der 1848 den amerikanischen Diebstahl Kaliforniens, das damals mexikanisch war, damit legitimierte, dass dieses „den Anstieg des menschlichen Glücks und der Freiheit“ mit sich brächte. Oder bei Edward “Colonel” House, einem der engsten Berater von Präsident Woodrow Wilson, der dem britischen Außenminister erklärte, dass das amerikanische Volk in den Ersten Weltkrieg nicht eintreten werde, um den transatlantischen Handel zu beschützen, sondern um Demokratie und einen dauerhaften Frieden zu erkämpfen. Diese Mission ist vielleicht das einzige politische Projekt, für das Amerikaner zu sterben bereit sind, und das ist das einzige Projekt, für welches Amerika eine schlanke Regierung nicht braucht. Die amerikanische Regierung soll klein genug sein, um die Möglichkeiten und Chancen nicht zu blockieren, aber groß genug, um Antiliberalismus überall zu beseitigen.

Der Patriot Act wurde nur Tage nach den Angriffen vom 11. September verabschiedet. Amerika fühlte, dass es im Krieg mit dem größten Albtraum seit dem Fall der Sowjetunion war: mit „Wahnsinnigen“, die antiliberal im politischen, ökonomischen und religiösen Sinne waren. Die Meisten dachten auch, der Patriot Act würde nicht ihre Rechte beschneiden, sondern die dieser „bösen Typen“; er würde die Regierung befähigen, die amerikanische Mission unter sehr schwierigen Umständen fortzusetzen. Interessanterweise haben diejenigen, die gegen den Patriot Act opponierten – wie die American Civil Liberties Union -, dies unter Bezugnahme auf die amerikanischen Werte getan: Sie fühlten, dass der Patriot Act unsere Freiheiten außer Kraft setzen würde.

Und zuletzt sind Amerikaner gar nicht so unterwürfig gegenüber dem Militär. Sie sehen es als einen Ausdruck der Menschen, nicht als eine abgeschlossene Übermacht. Die Amerikaner lieben das Militär, wenn es so aussieht, als ob es all die guten Dinge verkörperte, die sie mit sich selbst assoziieren. Sobald es nach etwas anderem aussieht, schrecken Amerikaner zurück. Das passierte im Krieg gegen das Rote Russland 1921; Wilson verlor die Unterstützung des amerikanischen Volkes und zog die US-Truppen zurück. Das passierte in Vietnam und im Irak. Das ist es, was Zweifel an unserem Engagement in Afghanistan aufkommen lässt: Falls wir dort Antiliberalismus bekämpfen (Al-Qaida, Taliban), dann ist das ein Argument für das Bleiben. Aber falls wir diesen Ort nicht befreien können, ihm weder eine Demokratie noch eine blühende Marktwirtschaft geben können, dann ist das ein Argument für das Verlassen dieses Landes.

Im Besseren wie im Schlechteren haben Amerikaner – ungleich den Chinesen – langfristig relativ wenig Geduld. Amerika debattiert, ob es sich aus Afghanistan zurückziehen soll; China baut dort Fabriken in der Hoffnung, zu bleiben und zu profitieren. Um es klarzustellen: Amerikanische Außenpolitik ist ökonomisch motiviert (Welchen Landes Außenpolitik ist dies nicht?). Aber das ökonomische Motiv selber wird angesehen als ein „Ausdehnen des Bereichs der Freiheit“, um es in Worte zu fassen die, Andrew Jackson zugeschrieben werden – als eine Ausdehnung des Landes, wo politische, ökonomische und religiöse Freiheiten gedeihen. Die Chinesen sind die wahren Pragmatiker. Amerikaner sind Pragmatiker im Dienste ihres eigenen Idealismus.

Im Gegensatz zu den USA hat das kontinentale Europa eine lange Tradition des Staatsvertrauens

Kommen wir noch einmal auf diese rechten Demonstrationen zu sprechen. Wurden die Proteste gegen die Gesundheitsreform durch Lobbygruppen und konservative Think Tanks finanziert oder handelt es sich hier größtenteils tatsächlich um eine rechte Graswurzelbewegung?

Marcia Pally: Beides trifft zu. Es sind durchaus legitime Ängste und Frustrationen eines Teils der Bevölkerung, die in diesen Protesten zum Ausdruck kommen, aber sie werden auch zusätzlich angefacht durch finanzkräftige Interessengruppen. Das Republican National Committee gab beispielsweise neun Millionen US-Dollar für Fernsehwerbung aus, die der amerikanischen Öffentlichkeit erzählte, Obamas Gesundheitsreform sei sozialistisch, unamerikanisch und ziele darauf ab, den Amerikanern ihr Recht wegzunehmen, den eigenen Arzt frei wählen zu können.

Das ist natürlich falsch. Obama schlägt nur eine parallele öffentliche Krankenversicherung für die nahezu 48 Millionen Amerikaner vor, die derzeit nicht krankenversichert sind. Dennoch war diese Werbekampagne der Republikaner sehr erfolgreich. Warum? Weil es am einfachsten ist, Menschen das zu sagen, was sie bereits wissen. Wenn Du einem Amerikaner sagst, dass die Regierung dabei ist, ihm seine Rechte zu nehmen – diese Perspektive ist so tief in der amerikanischen Weltsicht eingebettet, dass die Leute dazu tendieren, dir zu glauben, wenn du das erzählst. So, die Proteste sind also eine legitime Graswurzelbewegung und zugleich werden die Flammen angefacht durch das Republican National Committee aus politischen Gründen und durch Interessengruppen aus der Gesundheitsindustrie aufgrund ökonomischer Erwägungen.

Das konservative Wall Street Journal brachte in einem kürzlich veröffentlichten Artikel über die Gesundheitsdebatte in den USA folgende Einschätzung zum Ausdruck: „Es brauchte nur ein paar unbegründete Gerüchte und eine Handvoll wütender Rechter im amerikanischen Fernsehen, um den gesamten Reformvorschlag Obamas krachend einstürzen zu lassen.“ Selbst das konservative Wall Street Journal gibt somit zu, das Obamas Reform in ernsthafteste Schwierigkeiten aufgrund „unbegründeter Gerüchte“ kam!

Bildet dieser inkonsistente Skeptizismus gegenüber Regierung und Staat nicht den größten fundamentalen Unterschied zwischen der europäischen und der amerikanischen Rechten?

Marcia Pally: Ich stimme dem zu und möchte diesen Gedankengang noch etwas weiter treiben. Dies ist einer der fundamentalen Unterschiede zwischen dem kontinentalen Europa und Amerika als Ganzem, und nicht nur auf der Rechten. Das kontinentale Europa hat eine lange Tradition des Staatsvertrauens. In Deutschland ist das spätestens seit Bismarck der Fall. In Frankreich, das stärker zentralisiert ist, ist dies seit Jahrhunderten so. Damit meine ich, wenn etwas falsch läuft in der Gesellschaft, dann geht man davon aus, dass diese Probleme systemischen Charakter haben. Der Staat ist dann der Akteur, der dafür verantwortlich ist, diese Probleme zu lösen.

Die amerikanische Perspektive besteht darin, dass die Regierung nicht der für die Problemlösung verantwortliche Akteur ist. Dieses führt die Amerikaner in ein großes Paradoxon: Auf der einen Seite gibt es diese enorme Wirtschaftskrise, die durch Regierungsmaßnahmen bekämpft werden soll. Auf der anderen Seite ist ihnen nahezu alles verdächtig, was die Regierung tut.

Lassen Sie mich mal eine Statistik zur Untermauerung dieser Ausführungen einbringen. Vor wenigen Monaten, inmitten der derzeitigen Wirtschaftskrise, erklärten 55 Prozent der Amerikaner, dass das größere Problem „Big Government“ und nicht „Big Business“ sei. Das zeigt doch an, wie tief die Antipathie gegenüber Regierungshandeln in Amerika ist. Die Amerikaner wissen in einer gewissen Weise nichts mit ihrer Regierung anzufahren.

Die Evangelikalen und die amerikanische Rechte

Können Sie uns jetzt etwas über die Struktur und Zusammensetzung der amerikanischen Rechten erzählen? Besteht eine Gefahr der Radikalisierung der Republikanischen Partei?

Marcia Pally: Wie ich bereits erwähnte, konsolidierte sich die republikanische Partei um ihren rechten Flügel. Im vergangenen Frühjahr erschütterte der Parteiaustritt des republikanischen Senators von Pennsylvania, Arlen Specter, das politische Washington. Specter verließ die Republikaner, weil er die zunehmende Rechtsentwicklung in der Republikanischen Partei nicht mehr mittragen wollte.

Das Zentrum der Republikanischen Partei setzt sich aus Vertretern von Wirtschaftsinteressen zusammen. Ihre wichtigste Sorge gilt einem relativ unregulierten Markt und einer Haushalts- sowie Steuerpolitik, die Wirtschaftsinteressen begünstigt. Diese Leute sind nicht besonders interessiert am Waffenrecht oder den Kontroversen um die Schwulenehe. Und es sind genau diese Leute, die mir inzwischen sagen, dass dies nicht mehr die Partei sei, der sie sich angeschlossen haben.

Ein bisschen weiter rechts von diesem Kern befinden sich die populistischen Mittelklasse-Amerikaner aus der Arbeiterklasse und den niederen Schichten des Dienstleistungssektors. Die Motivation dieser Gruppe, die legitime Ängste über ihre ökonomische Lage ausdrückt, haben wir bereits diskutiert.

Hiernach kommt die Gruppe der Waffenliebhaber und Waffennarren. Und die Grenzen zwischen diesen Gruppierungen sind natürlich nicht starr, sondern fließend. Zu den Waffenenthusiasten zählte auch der Typ, der einen Wachmann im Washingtoner Holocaustmuseum erschoss. Oder die Person, die drei Polizeibeamte in Pittsburgh im vergangenen Frühjahr erschoss. Alle diese Personen hinterließen entweder Abschiedsbriefe, oder es konnte aus den Aussagen ihrer Freunde ermittelt werden, dass sie Rassisten sowie Antisemiten waren und panische Angst davor hatten, dass Obama ihnen ihre Waffen wegnehmen wird.

Dieses Spektrum befindet sich natürlich viel weiter rechts als die konservativen unzufriedenen amerikanischen Arbeiter. Es sind diese Leute, die derzeit massenweise Waffen und Munition einkaufen. Wayne LaPierre, der Vizepräsident der NRA, sagte hierzu: „Unsere Gründerväter verstanden es sehr wohl, dass es die Typen mit den Waffen sind, die die Regeln festsetzen.“ Es ist auch schrecklich, dass einer der am weitesten rechts stehenden Fernsehkommentatoren, Bill O'Reilly, sich den Abtreibungsarzt Dr. Tiller aussuchte, um gegen ihn eine Kampagne zu starten. Er verglich den als Babykiller verunglimpften Arzt mit den Nazis und hetzte gegen ihn in 29 Sendungen, bevor Tiller in seiner eigenen Kirche in Kansas im Frühjahr ermordet wurde.

Die letzte Gruppe wiederum ist ziemlich zentristisch, das sind die evangelikalen Christen. Die Republikanische Partei ist seit 40 Jahren geprägt durch eine Koalition klassischer wirtschaftsnaher Interessengruppen, der populistischen Mittelklasse und - zum ersten Mal in der Geschichte - auch der evangelikalen Christen. Und diese Evangelikalen sind in den beiden ersten Gruppen zu finden, im Business und bei den gewöhnlichen weißen Arbeitern. Ich spreche hier über weiße Evangelikale, weil schwarze Evangelikale streng demokratisch wählen. Diese Leute sind ziemlich zentristisch, sie sind besorgt über die Wirtschaftsentwicklung, sie fordern mehr Moral in Amerika, ein größere sexuelle Enthaltsamkeit. Aber sie sind nicht auf der extremen Rechten zu finden.

Erzählen Sie uns etwas mehr über diese Evangelikalen. Ist das ein relativ junges Phänomen, wie hier in Deutschland, oder ist diese christliche Strömung fester Bestandteil amerikanischer Kultur und Geschichte?

Marcia Pally: Die Evangelikalen sind eines der ältesten Phänomene in den Vereinigten Staaten, dessen Geschichte bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Vieles von dem, was wir die amerikanische Weltsicht nennen, hat seine Wurzeln – nicht alle, aber doch ziemlich viele – im amerikanischen Evangelikalismus. Der amerikanische Evangelikalismus ist selber im höchsten Maße individualistisch, antiautoritär, antipäpstlich und antiekklesiastisch – da er ja aus dem deutschen Pietismus, den Herrnhutern und den englischen dissenting churches entstand. Es liegt ganz bei dir, Jesus anzunehmen. Es liegt ganz bei dir, ein moralisches Leben zu führen. Und natürlich passte die Kombination aus Antiautoritarismus und individueller Verantwortung sehr gut zur Emigrations- und Grenzerfahrung. Die amerikanische evangelikalische Doktrin ist also tatsächlich eine der ursprünglichsten Wurzeln der amerikanischen Weltsicht. Die Evangelikalen bildeten in der amerikanischen Geschichte eine progressive Kraft – bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts -, manchmal waren sie geradezu radikal progressiv.

Wie beurteilen Sie generell die politische Atmosphäre in den Vereinigten Staaten? Findet bereits ein Rechtsruck der öffentlichen Meinung statt?

Marcia Pally: Es findet eine Polarisierung an den beiden Enden des politischen Spekturms statt, zugleich gibt es ein großes Ausmaß an Konfusion in der Mitte. Am einen Ende sind diejenigen, die sich an der Politik Franklin Delano Roosevelts orientieren. Sie denken, dass die Aufgabe der Regierung darin besteht, den kleinen Mann vor den korrupten Reichen zu beschützen. Diese Leute sind der Auffassung, dass Obama mehr tun sollte, um den Arbeitslosen zu helfen und dass er die Gesundheitsversorgung der Armen und nicht krankenversicherten Amerikaner verbessern müsste.

Am anderen, dem republikanischen Ende herrscht die Auffassung vor, dass das Gesundheitssystem ein Markt wie jeder andere sein sollte. Diese Leute sind aber nicht schlicht verrückt. Amerika hatte ja enormen ökonomischen Erfolg in den vergangenen 200 Jahren mit einer im höchsten Maß liberalisierten Wirtschaft. Das ist die traditionelle amerikanische Position. Der zuvor erwähnte, an Roosevelt orientierte Politikansatz wird von einer Minderheit geteilt.

In der Mitte herrscht eine enorme Verwirrung und Konfusion vor. Viele Menschen wählten Obama und sahen dann diese milliardenschweren Rettungsaktionen für die Banken sowie Investmenthäuser, und auch die steigende Arbeitslosigkeit. Die Menschen fühlen sich nun getäuscht und über den Tisch gezogen. Die Leute sind verwirrt. Wieso profitieren nur die Banken und Investmenthäuser, wieso können nicht auch sie profitieren und ihre Arbeitsplätze wiederkriegen?

Erlauben Sie mir, diese Verwirrung anhand einer Umfrage zu illustrieren. 75 Prozent aller Amerikaner sagten, dass die Kosten für im Gesundheitswesen weiter steigen werden, wenn keine staatliche Krankenversicherung geschaffen werden sollte. Doch zugleich meinten 77 Prozent, dass die Kosten aufgrund einer staatlichen Krankenversicherung steigen werden. 75 und 77 entsprechen natürlich nicht 100 Prozent. Es gibt also wirklich viele Menschen, die in diesem Fall beides sagen: Die Kosten werden steigen, wenn eine keine staatliche Krankenversicherung geschaffen wird, und sie werden steigen, weil eine staatliche Krankenversicherung geschaffen wurde.

Dies sind Indikationen für die enorme echte Konfusion innerhalb der amerikanischen Bevölkerung. Die Republikaner, die Gesundheitsversicherer – aber auch die Demokraten – können diese Situation nutzen. Es stellt sich nur die Frage, wer besonders überzeugend agieren wird. Und wie ich es schon zuvor sagte, ist es für die Demokraten besonders hart, die Amerikaner zu überzeugen, weil sie gegen die traditionelle amerikanische Weltsicht anrennen müssen.

Amerika erfindet sich alle 17 Minuten neu

Es kommt mir so vor, als ob die USA an einem Scheideweg stünden. An einem Scheideweg zwischen einen autoritären, verfallenden sowie von Wirtschaftsinteressen dominierten Staatswesen und einem progressiven und demokratischen Neuanfang. Die Gesundheitsreform scheint hier einem Lackmustest gleich zu kommen: Sind die Vereinigten Staaten immer noch in der Lage, sich zu reformieren, sich selbst zu ändern, um sich an die Ursachen und Konsequenzen der Wirtschaftskrise anzupassen? Oder ist der konservative Druck der dominanten ökonomischen Kräfte einfach zu stark? Kurz und bündig: Kann sich Amerika wieder „neu erfinden“?

Marcia Pally: Ich würde eher sagen, dass das Amerika immer am Scheideweg steht. Aber das ist ja überall so. Geschichte ist nicht statisch. Wir sind immer am Scheideweg multipler Alternativen, aber auch am Scheideweg der Paradoxa unserer eigenen Kulturen.

Sie können in der amerikanischen Geschichte auf die Ära der industriellen „Raubritter“ zurückblicken, vor 100 oder 120 Jahren. Der Einfluss der Konzerne war damals viel größer als heute und die Übergriffe auf die Arbeiterschaft waren viel weiter verbreitet als heutzutage. Und hat sich Amerika „neu erfunden“? Ja, das tat es in einer Ära wirtschaftlicher Reformen unter Teddy Roosevelt, die als die Progressive Ära bezeichnet wird. Das Ziel dieser Reformen bestand nicht etwa darin, den Sozialismus einzuführen. Die Absicht war, gerade die Funktionsweise der Märkte zu verbessern. Und das funktionierte. Der Reichtum wurde breiter in der Bevölkerung verteilt und die Arbeitsbedingungen verbesserten sich enorm.

Und heute, ist Amerika fähig, sich erneut selbst zu erfinden? Ich denke, Amerika erfindet sich alle 17 Minuten neu. Denken Sie nur an die enorme Tragweite der Wahl eines schwarzen Präsidenten. Würde Deutschland einen türkischen Präsidenten wählen? Oder Frankreich einen Präsidenten aus dem Maghreb? Wäre Großbritannien bereit, einen Präsidenten mit pakistanischen Wurzeln zu wählen?

Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel für die Fähigkeit Amerikas, sich neu zu erfinden. Ich fuhr vor wenigen Tagen in einem Fahrstuhl mit zwei jungen, asiatisch aussehenden Frauen. Die eine fragte die andere: „Bis Du eine Chinesin?“ Die andere aufwartete darauf im akzentfreien Englisch: „Nein, mein Vater wurde in China geboren und meine Mutter in Hongkong, aber ich bin keine Chinesin. Und du?“ Die erste antwortete daraufhin ebenfalls perfekt Englisch: „Nein. Mein Vater wurde in Taiwan geboren, meine Mutter in Beijing, aber ich bin ebenfalls keine Chinesin.“ In Anbetracht dessen, dass beispielsweise die Deutschen, die seit 400 Jahren in Schlesien wohnen, sich immer noch als Deutsche betrachten, ist es doch erstaunlich, dass diese jungen Chinesinnen sich nach einer halben Generation als Amerikanerinnen fühlen.

Amerika ist also ungeheuer regenerativ, es regeneriert sich nur nicht immer in der Art und Weise, wie es Europa gefallen würde.