Amerikas politischer Aufschwung
Bis zu den Wahlen im kommenden Herbst werden die Vereinigten Staaten einen Wirtschaftsaufschwung erfahren - koste es, was es wolle
Das einflussreiche Wirtschaftsmagazin Forbes übte Mitte Februar harsche Kritik an dem Haushaltsentwurf, den US-Präsident Obama für das laufende Fiskaljahr vorstellte. Wenn man der Ansicht sei, dass steigende Regierungsausgaben, ein Rekorddefizit und rasch anschwellende Schuldenberge, die mit erhöhten "Steuern auf Arbeitgeber, Investoren und kleine Geschäftsleute" einhergingen, den "Schlüssel zum Wirtschaftswachstum" bildeten, dann sei "Obama der richtige Mann", schäumte das neoliberale Wirtschaftsblatt in einem Leitkommentar. Es seien derzeit schlicht die "Regierungsausgaben, die den Wirtschaftsaufschwung antreiben", so der Forbes-Kommentator.
Tatsächlich wird die Verschuldungsdynamik in den Vereinigten Staaten in diesem Jahr weiter aufrechterhalten. Die Obama-Administration setzt einen Fehlbetrag von 901 Milliarden US-Dollar für das im Oktober beginnende Fiskaljahr an, der aber aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Kongress – wo die Republikaner die Mehrheit halten - wohl noch um einiges höher ausfallen dürfte. Einen Teil der künftigen Einnahmen will Obama durch die Einführung einer Reichensteuer, durch das Auslaufen von Steuervergünstigungen für Spitzenverdiener aus der Bush-Ära und durch höhere Unternehmensabgaben erzielen. Sollten diese Maßnahmen - wie zu erwarten - vom Kongress blockiert und im Vorwahlkampf weitere kostspielige Deals abgeschlossen werden, könnte auch das künftige Haushaltsdefizit der USA zum vierten Mal in Folge über der Marke von einer Billion US-Dollar liegen.
Seit dem Amtsantritt Obamas, der mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise in 2008 zusammenfiel, haben die USA eine historisch beispiellose Verschuldung durchgemacht, die den entsprechenden öffentlichen Schuldenberg von 5,8 Billionen US-Dollar in 2008 auf prognostizierte 11,6 Billionen verdoppeln wird. Im kommenden Fiskaljahr werden die Staatsausgaben in den USA – trotz allem Gerede über Austerität – um 193 Milliarden US-Dollar ansteigen, lamentierte das Wall Street Journal (WSJ). Das WSJ prognostiziert für das kommende Haushaltsjahr sogar eine weitaus höhere Neuverschuldung:
Ein weiteres Defizit von 1,327 Billionen in 2012, also ein Anstieg gegenüber 2011, bedeutet vier Jahre infolge mit Defiziten über 1,29 Billionen. Das letzte Mal, als so etwas passiere? Niemals.
Die Obama-Administration habe die schlimmste Finanzpolitik in der "modernen amerikanischen Geschichte" betrieben, die mit einem durchschnittlichen jährlichen Haushaltsdefizit von 9,1 Prozent des BIP einherginge, so fasste das konservative Wirtschaftsblatt seine Abrechnung mit dem jüngsten Haushaltsentwurf zusammen.
Diese Einschätzung ist aber nur unter Ausblendung der schwersten Systemkrise möglich, in der sich das kapitalistische Weltsystem befindet. Dabei kann das Weiße Haus inzwischen zumindest den offiziellen Zahlen zufolge für sich reklamieren, dank der exzessiven Verschuldung einen Wirtschaftsaufschwung initiiert zu haben, der praktischerweise genau im Wahljahr einsetzt. Das entsprechende Kalkül hinter diesem "politischen Aufschwung" fasste die Welt zusammen: "Die Wirtschaft jetzt ankurbeln, Kürzungen morgen vornehmen: Das ist Obamas Kompass neun Monate vor der Wahl."
So sank die offizielle Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten im vergangenen Januar mit 8,3 Prozent auf den niedrigsten Stand seit drei Jahren, während es im Vorjahreszeitraum noch neun Prozent waren. Die Wirtschaftsbelebung äußerte sich in einer beschleunigten Wachstumsdynamik, die im vierten Quartal 2011 bei 2,8 Prozent lag. Im gesamten Jahr 2011 betrug das Wirtschaftswachstum hingegen nur 1,7 Prozent. Selbst die jahrelang darniederliegende US-Industrie gibt inzwischen leichte Lebenszeichen von sich, wie das Handelsblatt berichtete:
"Die Produktion in US-Fabriken ist auch im neuen Jahr weiter gestiegen. Im Dezember wuchs sie sogar so stark wie seit fünf Jahren nicht mehr. Im Januar legte die Betriebsleistung um 0,7 Prozent zu, wie die US-Notenbank Fed am Mittwoch mitteilte. Dabei korrigierte sie auch die Dezemberzahlen deutlich nach oben, auf ein Wachstum von 1,5 Prozent. Zuletzt legte die US-Industrie im Dezember 2006 so stark zu."
Tatsächlich bemüht sich die Obama-Administration seit Längerem, die aggressive deutsche Exportstrategie zu kopieren, indem sie Finanzhilfen für Exportunternehmen gewährt und in Erwägung zieht, Unternehmen steuerlich stärker zu belasten, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Er werde die "Arbeitsplätze und die Industrie zurück nach Amerika" bringen, erklärte etwa Obama bei einer Veranstaltung in einer ehemaligen Industrieregion in Michigan.
Konjunkturprogramme und weitere Verschuldung statt Rezession durch Sparen
Das Problem mit dieser exportorientierten Strategie besteht aber – genauso wie beim Exportweltmeister Deutschland – darin, dass sie nur auf Kosten anderer Volkswirtschaften funktionieren kann, indem die entsprechenden Exportüberschüsse zu Defiziten in den Zielländern dieser Exportoffensive führen. Amerikanische Exporterfolge könnten nur gegen die Konkurrenz auf dem Weltmarkt durchgesetzt werden. Ob die durch jahrelange Deindustrialisierung zerrüttete US-Wirtschaft zu einer ernsthaften Konkurrenz für die mit Lohndumping und Leistungshetze gedopte deutsche Exportindustrie avancieren kann, bleibt höchst fraglich.
Für den derzeitigen Aufschwung sorgen deshalb vor allem die entsprechenden kostspieligen Konjunkturmaßnahmen, die im Wahljahr nicht mal die Republikaner zu blockieren wagen. Trotz einiger Kürzungen kamen kam der Kongress darin überein, etwa die Verlängerung des Bezugs der in den USA für gewöhnlich auf 26 Monate begrenzten Arbeitslosengeldzahlungen auch in diesem Jahr fortzuführen. Künftig werden Arbeitslose in Bundesstaaten mit mehr als neunprozentiger Arbeitslosigkeit Stütze über einen Zeitraum von 73 Wochen erhalten – zuvor waren es 99 Wochen. Entscheidend im US-Vorwahlkampf ist aber das Wohlwollen der schrumpfenden US-Mittelklasse: Die Entlastung der amerikanischen Lohnabhängigen bei ihren Sozialabgaben - die um zwei Prozent sinken - wird ein Loch von rund 100 Milliarden SU-Dollar in die US-Sozialkassen reißen, doch ist sie ohne nennenswerten Widerstand der Republikaner durchgesetzt worden.
Zudem plant Obama, auch künftig auf Konjunkturmaßnahmen zu setzen. Im kommenden Budget ist ein Konjunkturprogramm im Umfang von 350 Milliarden US-Dollar geplant, das vor allem Aufwendungen für Infrastrukturprojekte vorsieht, um "kurzfristig neue Jobs zu schaffen", wie die FTD berichtet. Dies wäre somit das dritte Konjunkturprogramm seit Krisenausbruch 2008, das die US-Regierung auflegt.
Flankiert werden diese kostspieligen Konjunkturmaßnahmen durch die Fortführung der historisch einmaligen Geldschwemme der amerikanischen Notenbank Fed, die dadurch die Zinsen niedrig hält. Ende Januar ließ Fed-Chef Bernanke verkünden, dass die Notenbank den Leitzins bis Ende 2014 auf dem "außergewöhnlich niedrigen Niveau" von 0,0 bis 0,25 Prozent belassen wolle, da die US-Wirtschaft weiterhin "deutlichen Abwärtsrisiken" - wie etwa den Folgen der europäischen Schuldenkrise - ausgesetzt sei. Zudem ließ Bernanke durchblicken, zur Not auch mit exzessiver Gelddruckerei, dem sogenannten "Quantitative Easing", eine Stabilisierung des Finanzsystems zu gewährleisten. Bei diesen quantitativen Lockerungsübungen geht die Notenbank dazu über, vermittels des Aufkaufs von Wertpapieren oder Notenbanken neues Geld zu generieren.
Begründet wurden diese Maßnahmen von der Fed mit der Absenkung der Wachstumsprognose für 2012, die von 2,5 bis 2,9 Prozent auf nur noch 2,2 bis 2,7 Prozent reduziert wurde. Somit scheint die ungeheure Verschuldungsdynamik der US-Regierung, die wohl auch in diesem Jahr mehr als eine Billion US-Dollar Schulden aufnehmen wird, nur magere Ergebnisse zu zeitigen und den konservativen Kritikern recht zu geben. Binnen vier Jahren wurde die US-Staatsverschuldung verdoppelt: nur um einen Mageraufschwung zu generieren, der laut Notenbank-Prognosen bereist an Dynamik verliert – mal ganz abgesehen von der Fülle statistischer Tricks, die inzwischen angewendet werden, um die Wirtschaftsentwicklung und Arbeitslosigkeit schönzurechnen.
Ein Blick über den Atlantik kann aber durchaus verdeutlichen, dass die US-Politik - gemessen an den von der Systemkrise des Kapitalismus eng begrenzten Spielräumen – durchaus "erfolgreich" ist. Die Eurozone geht ja derzeit aufgrund der von Deutschland befohlenen Sparmaßnahmen in die Rezession über, während Griechenland vom Berlin mit immer neuen Sparauflagen in den Kollaps getrieben wird. Die Eurozone und die USA illustrieren sehr schön die beiden fundamentalen Optionen kapitalistischer Krisenpolitik, die entweder mittels Sparmaßnahmen sofort die Depression herbeiführen oder diese mittels Verschuldung hinauszögern kann. Selbstverständlich löst das amerikanische "Deficit Spending" die gegenwärtige Systemkrise - die letztendlich eine Krise der kapitalistischen Lohnarbeit ist - genauso wenig wie der deutsche Sparsadismus, doch verschafft diese Verschuldungsdynamik vielen Menschen in den USA zumindest noch eine Gnadenfrist, die den Einwohnern der südlichen Peripherie der Eurozone nicht vergönnt ist.
Der Aufschwung in den USA wird sicher bis kurz nach den Wahlen halten – koste es, was es wolle. Viele Konjunkturprogramme laufen Ende des Jahres aus. Schließlich setzte auch die große Rezession von 2008 offiziell erst kurz nach der Präsidentschaftswahl vom 4. November ein, wie der scheidende Präsident George W. Bush am 5. Dezember 2008 erstmals zugab. Zuvor hat Bush die Existenz einer Rezession in den USA schlichtweg geleugnet.