Amris Handys und SIM-Karten
Im Untersuchungsausschuss des Bundestags finden die Ungereimtheiten zum Anschlag vom Breitscheidplatz kein Ende
Etwa 20 Stunden nach dem Anschlag, am Nachmittag des 20. Dezember 2016, soll festgestanden haben, dass es der Tunesier Anis Amri war, der mit dem LKW in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz gerast war. Doch fast vier Jahre später, am 17. September 2020, finden Mitglieder des Untersuchungsausschusses im Bundestag die nächsten Ungereimtheiten, die damit nicht zusammenpassen wollen.
Es geht um zwei Mobiltelefone, die Amri gehört haben sollen. Das eine, ein rotes Klapphandy der Marke Samsung älteren Datums, lag in der Fahrerkabine des LKW. Das andere, ein internetfähiges Smartphone der Marke HTC, steckte außerhalb in einem Loch der vorderen Fahrzeugkarosserie.
Der Fundort ist schon Rätsel genug. Dass das Gerät infolge des Unfalls dorthin gelangt sein könnte, schließen alle Ermittler aus. Es muss irgendjemand dorthin gelegt haben. Nur wer und mit welcher Absicht? Die Ermittler mutmaßen, das Telefon habe ursprünglich ebenfalls in der Fahrerkabine gelegen, sei, als der tote polnische Speditionsfahrer geborgen wurde, herausgefallen und dann von jemandem in besagtes Loch gesteckt worden. Eine Version mit nicht allzu großem Beweiswert.
Die Frage ist umso wichtiger, als besagtes HTC-Handy das zentrale Beweisstück für die Täterschaft Amris sein soll. Durch die Geodaten kann belegt werden, dass das Handy in den 20 Minuten vor der Tat mit dem LKW mitgefahren ist. Während der Fahrt soll der Fahrer noch mit einem Vertreter des Islamischen Staates (IS) gesprochen haben und von ihm psychisch unterstützt worden sein.
Fehlende oder zur Tatzeit nicht verwendete SIM-Karten
Jetzt haben die Ausschussmitglieder der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen entdeckt, dass in dem alten, roten Samsung-Klapphandy keine SIM-Karte steckte, es also telekommunikativ nutzlos war. Und dass, zweitens, in dem HTC-Handy zwar eine SIM-Karte steckte, die aber am Tattag gar nicht benutzt wurde. Die gefundene SIM-Karte wurde in dem HTC-Handy ausschließlich an einem Tag benutzt, am 15. Dezember 2016, vier Tage vor der Tat.
Was passierte mit den eigentlichen zwei SIM-Karten? Wie fand die angebliche Kommunikation mit dem sogenannten IS-Mentor auf der Anfahrt zum Breitscheidplatz statt?
Das rote Klapphandy benutzte Amri nach Meinung der Ermittler für seine privaten und familiären Kontakte sowie für seine Drogengeschäfte. Das internetfähige HTC-Smartphone sei sein "Terror-Handy" gewesen, so Kriminalhauptkommissar A. Sch. vom Bundeskriminalamt (BKA) bei seiner Befragung im Untersuchungsausschuss. Mit diesem Gerät sei er auch mit dem IS in Kontakt gewesen. Er habe dafür immer wieder offene Internet-Netze genutzt. Kommunikationen über WLAN würden sich der Live-Telefonüberwachung entziehen.
Das HTC-Handy hatte ein Schweizer Tourist in Berlin Ende September 2016 als gestohlen gemeldet. Drei Tage zuvor war die Telefonüberwachung Amris durch das LKA Berlin ausgelaufen. Seltsam ist, dass der Bestohlene eine Adresse angab, wo er gar nicht wohnt. Anfang Oktober 2016 soll Amri das HTC-Handy dann von einem Bekannten erworben haben.
Über das HTC-Handy und seinen Google-Account sollen nach dem Anschlag rückwirkend Amris Bewegungsdaten sowie seine Kommunikation mit jenem IS-Mentor kurz vor der Tat sichergestellt worden sein.
Die Version der Staatsanwaltschaft führt zu vielen Fragen
Aus dem Mund des stellvertretenden Generalbundesanwalts Thomas Beck hörte sich das im Juli 2017 vor dem Innenausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin so an, nachzulesen im Wortprotokoll der Sitzung:
Von dort ging er weiter zur Fussilet-Moschee in der Perleberger Straße. (...) Er hielt sich eine knappe halbe Stunde, bis 19.06 Uhr, dort auf. 19.06 bis 19.24 Uhr: Er geht wieder zur Putlitzbrücke und dann erneut am Friedrich-Krause-Ufer entlang bis zum Lkw. (...) Von 19.24 bis 19.32 Uhr: Bemächtigung des Lkw und Tötung des Fahrers mit der Schusswaffe. (...) Von 19.16 bis 20.00 Uhr haben wir folgende Telegram-Kommunikation mit dem IS-Mentor: 19.16 Uhr - also auf dem Weg von der Fussilet-Moschee zum Ufer - schreibt Amri: "Bleib in Kontakt mit mir!" 19.17 Uhr die Antwort: "So Gott will." - 19.33 Uhr schreibt Amri: "Bruder, alles hat Erfolg!" - und versendet ein Bild aus der Fahrerkabine. - 19.40 Uhr sendet Amri die Sprachnachricht: "Allah ist groß, Bruder, Allah ist groß." - 19.41 Uhr teilt er mit: "Bruder, alles ist in Ordnung, gepriesen sei Gott. Ich bin jetzt in der Karre, verstehst du? Bete für mich, Bruder!" - 19.59 Uhr die Antwort: "Gott sei Dank." - 20.00 Uhr, also unmittelbar vor dem Anschlag, versendet Amri die Sprachnachricht: "Mach für mich Bittgebete! Bitte, mein Lieber, bete für mich!" (...) Von 19.32 bis 20.00 Uhr dauerte die Fahrt. 20.00 Uhr: Anschlag.
An das Dokument knüpft sich eine Vielzahl von Fragen. Die erste: Etwa um 19:15 Uhr soll die gesamte vorherige Kommunikation auf dem HTC-Handy gelöscht worden sein, wie man inzwischen weiß. Eine Art Spurenverwischung vor dem Anschlag? Amri hätte sie vorgenommen, mindestens zehn Minuten bevor er sich des LKW bemächtigt hätte. Wie konnte er sicher sein, dass er es schafft, den Fahrer zu überwältigen und das Fahrzeug in seine Gewalt zu bringen? War der Fahrer vielleicht bereits tot? Oder war er in der Gewalt mehrerer anderer Personen?
Dann: Wie konnten die Sprachnachrichten ohne SIM-Karte übermittelt werden? In Frage käme nur das Internet, doch dazu bräuchte man WLAN. Ist das technisch machbar bei einer Fahrt durch die Stadt? Wie soll es Amri überhaupt fertig gebracht haben, während der sicher nicht entspannten Anfahrt zum Breitscheidplatz noch nebenher mit jemandem zu telefonieren, sogar bis kurz vor dem Anschlag?
Die Spracheinstellung auf dem Gerät soll Italienisch gewesen sein, weshalb die Kriminalisten zunächst davon ausgingen, es handle sich um das Handy eines Anschlagsopfers, als es in dem Karosserieloch des LKW geborgen wurde. Warum Italienisch, wenn Amri doch mit einem arabisch sprechenden Partner telefoniert haben soll?
Die Sprachnachrichten wurden über Telegram-Messenger ausgetauscht. Doch ob die dazugehörige Audiodatei auf dem HTC-Endgerät gefunden wurde, konnte der BKA-Vertreter A. Sch. nicht sagen. Bliebe die Cloud. Dann hätten die Daten auch von anderen Geräten verwendet werden können. Für die Abgeordnete Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) Grund für die Überlegung, ob die Sprachkommunikation möglicherweise als Audiodatei früher aufgenommen wurde und später im fraglichen Zeitraum verschickt worden sein könnte. Technisch sei das möglich, räumte der BKA-Mann ein. Überprüft worden sei es aber nicht.
Warum war in Amris rotem Klapphandy, mit dem er auch mit seiner Familie in Tunesien telefonierte, keine SIM-Karte? Das Telefon war damit praktisch unbrauchbar. Auch BKA-Mann A. Sch. findet das "merkwürdig", hat aber keine Erklärung dafür. "Hat er nach dem Anschlag etwa erst noch die SIM-Karte aus dem Gerät gepobelt?", fragte Ausschussmitglied Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) eher rhetorisch, denn das wäre nur schwer vorstellbar.
Amri hätte also, wenn er der Fahrer des LKW war, ein totes Handy mitgenommen, mit dem er gar nichts anfangen konnte.
Hatte Amri noch ein drittes Handy?
Etwa dreieinhalb Minuten nach dem Anschlag wurde Anis Amri von einer Videokamera der Berliner Verkehrsbetriebe in einer U-Bahn-Unterführung am Hardenbergplatz, etwa 500 Meter vom Breitscheidplatz entfernt, gefilmt. Die 30 Sekunden lange Aufnahme, wie er durch den Gang läuft, hat der Rundfunk Berlin-Brandenburg vor einem Jahr veröffentlicht
Unmittelbar bevor die Sequenz endet, sieht man, dass er einen Gegenstand aus der Anoraktasche zieht. Es könnte sich um ein Handy gehandelt haben. Auch auf seiner Flucht gibt es mehrere Hinweise auf ein Mobiltelefon. So von einem als glaubwürdig eingestuften Zeugen, der Amri am 21. Dezember 2016 morgens um 7 Uhr im Bus von Emmerich nach Kleve traf, sich zu ihm setzte und mit ihm sprach. Er ist sicher: Amri hatte ein Telefon bei sich.
Auch auf Überwachungsbildern in den Bahnhöfen Nimwegen, Amsterdam und Brüssel ist Amri vermeintlich mit einem Handy zu entdecken.
Als er am 23. Dezember 2016, nachts um 3 Uhr, in einem Vorort von Mailand zu Tode kam, soll allerdings kein Handy bei ihm gefunden worden sein. So zumindest die aktuelle offizielle Darstellung.
Möglich, dass er das Gerät kurz vorher weggeworfen hat. Allerdings: Warum? War er etwa am Ziel seiner Flucht? Möglich aber auch, dass das Beweisstück unterschlagen wurde. Denn in italienischen Akten ist unter dem Datum vom 19. Januar 2017, also vier Wochen nach dem Anschlag, noch eine andere Wahrheit zu lesen. Dort ist vom "aufgefundenen Telefon" die Rede, das Anis Amri "bei sich trug", als er auf der Flucht infolge eines Schusswechsels mit Beamten der Polizei am 23. Dezember in Sesto San Giovanni starb (Hatte Amrik bei seiner Flucht doch ein Handy dabei?).
Die italienischen Ermittler müssen das Gerät sogar in der Hand gehabt und ausgewertet haben. Denn in dem Vermerk heißt es unter anderem, im Telefonbuch des aufgefundenen Telefons sei die Rufnummer von Emrah C. festgestellt worden. Emrah C. war ein Aktivist der Fussilet-Moschee in Berlin, zugleich mutmaßlich auch V-Person der Polizei.
Die Ermittlungsbehörden BKA und Bundesanwaltschaft (BAW) erklären das Ganze für ein Missverständnis. Die italienischen Kollegen hätten das Handy vom Breitscheidplatz gemeint.
Die Ungereimtheiten um Amris Handys, so monströs sie sind, sind nur ein Beispiel.
Wo man fragt und sucht, stößt man auf ungeklärte Befunde
Tatpistole der Marke Erma: Woher sie stammt, können BKA und BAW nicht sagen. Ein Informant des BND soll einen Hinweis gehabt haben, dass Amri die Waffe in der Schweiz von einem Dschihadisten gekauft haben soll. Der BND übermittelte die Information an das BKA. Doch dort entschied ein hochrangiger Vertreter im Januar 2017, dem Hinweis nicht nachzugehen.
Der ermordete polnische Speditionsfahrer und die Blutspuren im LKW: Die Ermittler sagen, Lukasz Urban sei auf seiner Liege hinter den Fahrersitzen erschossen worden, als Amri den LKW kaperte. Der vielleicht erste Zeuge, der etwa eine Minute nach dem Anschlag in das Fahrzeug schaute, berichtete, der Fahrer habe tot rechts im Cockpit gekauert. Dort habe sich auch viel Blut befunden. Ein Spurenbild, das eher mit Wahrnehmungen von Zeugen zusammenpasst, nach denen Urban noch gelebt hat und erst auf dem Breitscheidplatz erschossen wurde.
Mögliche Mitwisser, Helfer oder gar Mittäter: Neben Bilel Ben Ammar unter anderem Amris Mitbewohner Kamel A. Seine DNA wurde an der Tatpistole gesichert. Er ist Lastwagenfahrer. Er kannte Ben Ammar mindestens seit November 2015. Wahrscheinlich auch Amri, der im Juli 2015 zusammen mit Ben Ammar nach Deutschland kam.
Bei seinen Vernehmungen machte Kamel A. mehrfach unwahre Angaben. Er gab drei verschiedene Versionen an, wann Amri am Tattag seine Sachen aus der gemeinsamen Wohnung geholt haben soll: Gegen 21 Uhr, dann zwischen 18 und 19 Uhr, schließlich gegen 16 Uhr. Zwei passen nicht zur offiziellen Täterversion. Das Bundesamt für Verfassungsschutz führte bereits vor dem Anschlag eine Akte über Kamel A.
Der zweite Mitbewohner Khaled A.: Mit ihm teilte sich Amri sogar ein Zimmer in der Wohnung von Kamel A. Am Tattag wurde Khaled A. gegen 20:30 Uhr in der U-Bahnstation der Linie 2 nahe des Breitscheidplatzes festgestellt. Am 20. Dezember 2016, zu einem Zeitpunkt, als Amri für die Ermittler noch nicht als Täter galt, schrieb ihm Khaled A. die Nachricht: "Friede sei mit dir!"
Wusste er also davon? - wollte Ausschussmitglied Fritz Felgentreu (SPD) vom BKA-Zeugen A. Sch. wissen. Dessen Antwort: "Wir haben nichts, was Khaled A. an die Tat herangebracht hätte." Wie Ben Ammar war auch Khaled A. nach dem Anschlag viele Tage untergetaucht. Und ebenfalls wie Ben Ammar wurde er im Februar 2017 nach Tunesien abgeschoben.
Vieles unklar, vieles nicht einmal gefragt - und trotzdem werden diese Personen als mögliche Komplizen ausgeschlossen. Ein Ausschussmitglied kommentierte es so: "Alles nicht ansatzweise ausermittelt. Wie kann man dann schreiben, Amri habe alles alleine getan?"
Adressat der Kritik war Bundesanwalt Thomas Beck. Der gab sich ungerührt und wiederholte die komplett konträre Position der Bundesanwaltschaft: Er habe keine Zweifel, dass Amri den LKW gefahren und den Fahrer erschossen habe. Und BKA-Mann A. Sch. ergänzte: Er habe keine Zweifel, dass Amri bei der Tat und der Vorbereitung keine Unterstützung hatte.
Doch wenn dazu ein anderer Abgeordneter erklärt, die Einzeltätertheorie könne man so nicht stehen lassen, der Ausschuss sei "einhellig" der Auffassung, es habe "mindestens eine Vernetzung" gegeben, dann dokumentiert sich darin die Spaltung zwischen Exekutive und Legislative in dem Anschlagskomplex.
Wieder einmal. Denn vor nicht allzu langer Zeit hat ein anderer Untersuchungsausschuss des Bundestags ebenfalls das Narrativ der Sicherheitsbehörden angegriffen: im NSU-Skandal. Die Maßgabe, der NSU habe nur aus drei Leuten bestanden und die Taten seien ausschließlich von den zwei Männern begangen worden, sei nicht haltbar, so damals die Position der Parlamentarier. Im Amri-Untersuchungsausschuss gibt es eine ähnliche Entwicklung.
Die Bezüge zur Organisierten Kriminalität (OK) werden seitens der Ermittler bisher wie ein Tabu behandelt. Woher haben gewaltbereite Dschihadisten ihr Geld, woher kommen die Drogen, mit denen manche dealen, woher die Waffen? Die Fragen liegen zwar auf dem Tisch, die Antworten werden aber nicht außerhalb des islamistischen Kontextes gesucht.
Der dealende Islamist Amri verkehrte zusammen mit dealenden Islamisten-Brüdern in einer Drogenbar, die einem Mitglied des A.-Ch.-Clans in Berlin gehörte. "Wurde der vernommen?" - fragte Ausschussmitglied Benjamin Strasser (FDP). Antwort BKA-Mann A. Sch.: "Nein." - "Warum nicht?" - "Weil er keine Rolle beim Anschlag spielte." - "Das wissen Sie ja nicht, wenn Sie ihn nicht vernehmen. Amris Vorleben im Drogenmilieu bestand ja. Hat das BKA jemals diese Verbindung untersucht?" - "A.-Ch.: Sowohl Bar als auch Rufnummern wurden nicht untersucht."
Dennoch erklärt der BKA-Ermittler: "Bezüge zu OK sehe ich noch nicht so richtig." Allerdings ist auch er in die sogenannten "Opalgrün"-Ermittlungen involviert, bei denen es um Verbindungen von Islamismus mit OK gehen soll, die bislang aber als strenge Verschlusssache behandelt werden.
Und noch ein vorläufig letztes Rätsel, das im Untersuchungsausschuss zur Sprache kam: In einem Personagramm des LKA Nordrhein-Westfalen zu Anis Amri finden sich unter dem Datum vom 14. Dezember 2016, fünf Tage vor dem Anschlag, folgende Eintragungen: "PB 07/Nachrichtendienstliche Beobachtung durch BfV". In der Spalte daneben heißt es: "Wenn ja, seit wann". Und als Angabe: "Seit 13. Oktober 2016".
"PB 07" stehe für "polizeiliche Beobachtung", erläuterte Bundesanwalt Beck danach gefragt, und: "Parallel" gebe es eine "nachrichtendienstliche Beobachtung". Vor einiger Zeit wurde im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin eine Frage aufgeworfen, die dazu passt: Ein Abgeordneter will Informationen besessen haben, nach denen am 14. Dezember 2016 der polizeiliche Staatsschutz in Krefeld sich an den Staatsschutz in Berlin gewandt und dringend gebeten habe, Amri aufzuspüren und festzunehmen. Auch diese Frage blieb unbeantwortet.