An den Nachdenker unter den Schnelldenkern

Bei der Abschiedsfeier in München: Verlagsgeschäftsführer Alfons Schräder (li.) und der langjährige Telepolis-Chefredakteur Florian Rötzer (re.)

Florian Rötzer geht nach 25 Jahren als Chefredakteur von Telepolis in den Ruhestand. Zeit für ein Dankeschön an einen brillanten Zeitgeist-Analytiker

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Als der studierte Philosoph Florian Rötzer 1996 gemeinsam mit ein paar weiteren klugen Köpfen eines der ersten deutschen Webjournale mit dem wunderbaren Namen Telepolis erfindet, steht das Internet noch weitestgehend in den Kinderschuhen. Der Duden-Verlag nimmt das neue Phänomen in eben diesem Jahr wahr und folgerichtig den Begriff "Internet" erstmals in sein Wörterbuch auf. Der erste grafikfähige Webbrowser namens "Mosaic" war erst drei Jahre zuvor, 1993, erschienen.

Gemeinsam mit seinem Team und einer ungezählten Heerschaar an Autoren begleitet Florian nahezu die gesamte Zeit des Webs bis heute mit allen seinen wesentlichen Trends und innovativen Blüten und beleuchtet publizistisch und kritisch die politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Facetten einer sich neuformierenden digitalen Gesellschaft.

2002 bekommen Florian und sein Team für ihre Arbeit von der Grimme-Jury den Preis für Medienjournalismus. Zitat aus der damaligen Begründung: "Unbestechlich, unabhängig von den großen Verlagshäusern und deren kommerziellen Interessen, fachmännisch und auf hohem Niveau werden hier wichtige Themen schon diskutiert, wenn sie für die meisten Webangebote noch nicht einmal in der Themenplanung sind". Der Tagesspiegel charakterisiert Florian Rötzer 2009 als den "Nachdenker unter den Schnelldenkern". Das passt!

Seine Schaffenskraft ist bis heute enorm und schier unerschöpflich! Egal ob am Tage, in der Nacht oder am Wochenende - es gibt wohl kaum Journalisten, die ihre Leser mit so vielen klugen Beiträgen neugierig gemacht haben. Ganz nebenbei hält er Vorträge, schreibt unzählige Buchbände, Bücher, eBooks und moderiert eine Vielzahl von Veranstaltungen. Dabei überrascht er immer wieder mit neuen philosophischen Blickwinkeln auf die globale und digitalisierte Welt und macht analytisch und kritisch auf neue Trends aufmerksam.

Über ein viertel Jahrhundert arbeitet Florian mittlerweile für Heise. Er und sein Team beziehen zunächst ein kleines Büro in Radfahr-Nähe zur Münchner Innenstadt und später in Haar bei München, beide jedoch werden kaum genutzt. Schon immer und lange vor Corona lebt die Telepolis-Redaktion ihrer Zeit voraus. Alle arbeiten hauptsächlich dort, wo sie sich gerade befinden: im heimischen Arbeits-, Wohn- oder Schlafzimmer, auf Dienstreisen oder im Urlaubsdomizil.

Daneben zählt die Reise nach Hannover zum Hauptsitz von Heise nicht gerade zu Florians Lieblingsbeschäftigungen - deshalb sieht man ihn hier äußerst selten. Weder zur CeBit - seinerzeit ein Muss für alle Heise-Mitarbeiter/innen -, noch zu wichtigen Chefredakteurskonferenzen reist er nach Niedersachsen. Nicht einmal die Weihnachtsfeiern können ihn locken.

Eine der wenigen Ausnahmen ergibt sich 2011. Florian will keinesfalls die Abschiedsfeier des damaligen Heise-Geschäftsführers Steven P. Steinkraus verpassen, der die Gründung von Telepolis wesentlich unterstützt hatte. Ein Unwetter macht dem Münchner damals einen Strich durch die Rechnung. Er übernachtet ungewollt in einer Göttinger Turnhalle und reist am nächsten Tag wieder unverrichteter Dinge zurück.

Nach zwei Dekaden nun geht Florians Zeit als Chefredakteur von Telepolis zu Ende. Zweimal hat er nach dem Beginn seiner regulären Rentenzeit noch verlängert - wir haben uns jedes Mal gefreut. Nun übergibt seinen Zeitgeist-Analysten-Staffelstab an Harald Neuber.

@Florian: Wir alle sind dankbar für die schier unübersehbare Anzahl an Beiträgen, die Vielfalt der dort präsentierten Blickwinkel und Meinungen und vor allem für die weit über das Themenspektrum IT und Technologie hinausreichende Strahlkraft, dessen Richtung Du über satte zwei Dekaden geprägt und gestaltet hast.

Wir sagen Danke und wünschen Dir alles Gute!

Alfons Schräder, Ansgar Heise, Steven P. Steinkraus, Beate Gerold und alle Kolleginnen und Kollegen von Heise Medien