Analysen im Tropfstein gegen Berechnungen aus dem Eiskern
Klimaprofil von vor 50 000 Jahren ermittelt - Die Ergebnisse bieten einen Strauß neuer Einsichten
Neue Messdaten aus der Region des Indischen Ozeans im Vergleich mit früheren Ergebnissen aus Grönland überraschen die Klimaforscher: an beiden Stellen dieselben Auswirkungen, indes unterscheiden sich die absoluten Zeitberechnungen.
Stephen J.Burns von der University of Massachusetts berichtet in Science über neue Ergebnisse seiner internationalen Arbeitsgruppe, die sich dem früheren Klima unserer Erde widmet. Auf der vor Somalia gelegenen Insel Socotra ermitteln sie aus stehendem Tropfstein mittels Sauerstoffisotopenuntersuchungen das Klimaprofil bis 50000 Jahre vor unserer Zeit. Die Ergebnisse bieten einen Strauß neuer Einsichten.
Zunächst zeigen sie, dass sich frühere Untersuchungen aus dem grönländischen Eis (Greenland Ice-Core Project, GRIP und United States Greenland Ice-Sheet Project, GISP2) mit der im Indischen Ozean gelegenen Insel spiegeln. Und zwar in doppelter Hinsicht. Übereinstimmung besteht in der Art der Zeitreihenanalyse, der Kurvenverlauf selbst ist allerdings spiegelbildlich. Danach weisen hohe Anteile am Sauerstoffisotop O-18 im Stalagmiten auf kaltes Klima hin. Dasselbe gilt für Messwerte aus den Bohrkernen von Tiefseesedimenten. In den Eiskernen hingegen ist es umgekehrt: mit zunehmender Lufttemperatur verdunstet vermehrt Wasser, das hernach als Schnee niederfällt.
Ein zweiter Aspekt der neuen Untersuchungsergebnisse ist die beachtliche Zeitverschiebung. Im Vergleich des Kurvenverlaufs wie er jetzt in Socotra gefunden wird und den früheren Untersuchungen aus Grönland beträgt der Unterschied nahezu 3000 Jahre. Ein ähnlich asynchrones Verhalten, nämlich zwischen Arktis und Antarktis, wurde 1998 von T.Blunier und Kollegen in Nature beschrieben und auf Winde und Änderungen in der Meeresströmung zurückgeführt. Stephen J.Burns vermutet für Socotra, dass die Monsune die entscheidende Rolle spielen. Deren Kraft entsteht typischerweise durch den Temperaturgradienten zwischen dem Indischen Ozean und der asiatischen Landmasse.
Für seine Argumentation verweist Stephen J.Burns auf die Beobachtungen aus unserer Zeit. Danach sind viele warme eurasische Winter von ungewöhnlich geringem Schneefall begleitet, während es im darauf folgenden Sommer zu ungewöhnlich heftigen Regenfällen kommt. Mit den milden Wintern dringt die Wärme nach Osten vor und erwärmt Zentralasien, was wiederum den Temperaturgradienten zum Ozean erhöht. Wenn bereits geringe Temperaturveränderungen, so Stephen J.Burns, diesen beachtlichen Effekt erzeugen, dürften die Auswirkungen bei weitaus größeren Temperaturschwankungen noch mächtiger sein.
Dennoch ist diese hypothetische Annahme nach Ansicht der Forscher keine ausreichende Erklärung für den beobachteten zeitlichen Unterschied. Sie glauben vielmehr, dass ihre Analysen im Tropfstein den wahren Zeitraum wiedergeben, und statt dessen die Berechnungen aus dem Eiskern korrigiert werden müssen - zumindest für die Periode zwischen 42-50 Tausend Jahren.
Unter dem Eindruck der modernen Klimaforschung, die sich auf unzählige Messorte auf der Erde und zusätzlich auf mächtige Informationen durch Satelliten stützt, überrascht die Übereinstimmung der irdischen Temperatur zwischen wenigen Messpunkten: in Grönland, der Antarktis, Zentralchina und jetzt auf der jemenitischen Insel Socotra. Der von Stephen J.Burns angestoßene Disput über die zeitliche Datierung berührt damit zugleich das Problem der Hilfsmittel, an denen die Wissenschaftler das frühere Klimaverhalten festmachen. Der Gebrauch der Sauerstoffisotope O-18 und O-16 ist nicht unkritisch, weil die untersuchten Sedimente oder Eisschichten frei von Sekundäreinflüssen sein sollten und deshalb sorgfältig ausgewählt werden müssen. Weitere Marker für die frühzeitliche Klimaforschung sind andere Isotope, Spurengase, Staub, Pollen und schließlich die Jahresringe von Bäumen.
Die Aufzählung macht deutlich, dass mit diesen Methoden vornehmlich Luftfeuchte und Temperatur betrachtet werden. Ausgespart bleiben Ereignisse, die in der gegenwärtigen Klimaforschung zunehmend an Bedeutung gewinnen, nämlich Bewegungen und Verschiebungen von Wassermassen sowie der Umschlag des tiefen Wassers. Beide Vorgänge laufen in verschiedenen Regionen der Ozeane ab und stehen wiederum in Wechselwirkung zum Meereis, weil große Eisflächen durch die Abstrahlung der Sonne als Isolatoren wirken. Ferner entsteht das tiefe Wasser durch die für Eis geringere Salzbindungsfähigkeit.
Dadurch sinkt das salzhaltige schwere Wasser in die Tiefe. Auch wenn daraus ein gewisses Beharrungsvermögen resultiert (die Zeit für den vollständigen Austausch wird gegenwärtig auf 1000 Jahre geschätzt), können die Auswirkungen im Verlauf der letzten 50 Tausend Jahre schwerlich abgeschätzt werden. Jede Zu- oder Abnahme der eisbedeckten Erdoberfläche verändert das Austauschverhalten, was sich wiederum auf die verdunstungsfähige Wasseroberfläche auswirkt. Solange solche Vorgänge nicht erfasst werden, so die Kritik anderer Wissenschaftler, ist es schwierig, Zeitdatierungen eindeutig vorzunehmen.
Trotz des wissenschaftlichen Disputes bringen die neuen Ergebnisse eine vergessene Erkenntnis ans Licht, nämlich dass Klimaveränderungen auch ohne menschliches Zutun einem wechselvollen Auf und Ab unterliegen. Verschiedentlich wird versucht, die Kurven zu glätten. Danach könnte man ein zyklisches und ausschwingendes Verhalten annehmen und argumentieren, dass wir aus einer Zeit der relativen Stabilität wieder dem Auf entgegen gehen. Wie wenig sich der Verlauf, wenn er vor uns liegt, voraussagen lässt, macht die drastische Klimaänderung vor dem nach Dansgaard/Oeschger benannten Ereignis 12 um 49500 v.Chr. deutlich: ganze 25 Jahre dauerte die Periode.
Übertragen auf die Neuzeit ist nicht ausgeschlossen, dass wenige Jahrzehnte schon einmal ausreichten, um Schnee und Gletscher ebenso abzutauen wie in diesem hitzegeschwängerten Jahr, damals nämlich als Hannibal mit den Elefanten die Alpen überquerte.