"Andere europäische Länder sind attraktiver als Deutschland"
Mehmet Öcal, der in Deutschland aufgewachsen ist, über die Gründe, warum er nach dem Studium in die Türkei ausgewandert ist und wie er die Integrationsdebatte beurteilt
In der aktuellen Integrationsdebatte wird immer wieder von konservativer Seite betont, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist, ohne zu merken, dass mittlerweile etwa mehr Türken aus- statt einwandern. In Zeiten, in denen in Deutschland ein großer Fachkräftemangel herrscht, sehen gerade gut ausgebildete junge Türken in der Türkei bessere Zukunftsaussichten, wie etwa der promovierte Politologe Dr. Mehmet Öcal. Mit ihm unterhielt sich Eren Güvercin für Telepolis.
Herr Dr. Öcal, Sie sind in Deutschland aufgewachsen und haben auch dort studiert. Nach Ihrer Promotion sind Sie in die Türkei gegangen. Was waren die Gründe hierfür?
Mehmet Öcal: Nach der Promotion habe ich eine Zeit lang an der Universität Bonn unterrichtet. Als ich von einer Universität in der Türkei ein gutes Angebot bekam, habe ich mit meiner Frau beraten und dann haben wir beschlossen, in die Türkei auszuwandern. Denn wie die meisten muslimischen Migranten fühlten wir uns durch das entstandene Lebensklima nach dem 11. September recht unwohl. Da ich und meine Frau gesellschaftlich aktiv waren, spürten wir dieses Unwohlsein unmittelbar. Obwohl wir in Deutschland aufgewachsen waren und dieses Land liebten, haben wir uns für das Leben in der Türkei entschieden.
Seit einiger Zeit leben Sie nun in der Türkei. Verfolgen Sie die Integrationsdebatte in Deutschland? Wird die Debatte um den Islam und die Migranten in Deutschland in der Türkei von der Bevölkerung registriert?
Mehmet Öcal: Wir leben nun seit über vier Jahren in Kayseri, in Zentralanatolien. Obschon Deutschland weit von uns entfernt ist, haben wir hier Freunde aus binationalen Ehen sowie Bekannte, die in Deutschland gelebt oder sich zu Studienzwecken dort aufgehalten haben. Mit ihnen diskutieren wir über die aktuellen Ereignisse in Deutschland. Nachrichten aus den deutschen Sendern sind bei uns schon fast obligatorisch. Mit unseren Kindern reden wir fakultativ deutsch, damit sie das Erlernte nicht vergessen. Überdies informieren wir uns über das Internet und über das, was unsere Freunde in der alten Heimat uns an Infos zuschicken. Die türkische Bevölkerung verfolgt hingegen meist die Ereignisse über die sogenannten türkischen Euro-Kanäle, die schwerpunktmäßig über Europa und Deutschland berichten.
Welches Bild hat man dabei in der Türkei von Deutschland nach der Sarrazin-Debatte?
Mehmet Öcal:: Das positive Bild der Türken über Deutschland ist seit den Anschlägen von Mölln und Solingen stark beschädigt. Die so genannte deutsch-türkische Freundschaft aus dem Ersten Weltkrieg ist passé und für viele Türken ist Deutschland seit langem kein gelobtes Land mehr. Durch die außenpolitische Öffnung der Türkei sind die Türken an afrikanische, lateinamerikanische und südostasiatische Staaten interessiert. Für sie ist "Old Europe" nicht attraktiv genug.
Für die Türken in der Türkei waren türken- und islamfeindliche Tiraden von gewissen Autoren wie Udo Ulfkotte und Rolf Stolz seit geraumer Zeit schon negativ registriert worden, aber dass ein hoher Bürokrat, also ein Präsidiumsmitglied der Deutschen Bundesbank, diskriminierende und diffamierende Aussagen gegen die Muslime/Türken betätigt, dies wird das ohnehin wacklige Image der Bundesrepublik nachhaltig beschädigen.
Wie bewerten Sie persönlich die jüngste Zuspitzung der Debatte?
Mehmet Öcal: Die Integrationsdebatte in Deutschland, die ja unter Einbeziehung aller Beteiligten ernsthaft und sachlich geführt werden müsste, wird wieder einmal Opfer der Scharmützel politischer Interessen. Mit der Rede des Bundespräsidenten Wulff vom 3. Oktober hatten viele Menschen in Deutschland und in der Türkei etwas Hoffnung für die bis dahin meist undifferenziert und unsachlich geführte Islam- und Migrationsdebatte geschöpft.
Allerdings wurde sie durch den schon für viele Türken rassistischen Appell von Herrn Seehofer für einen Zuwanderungsstopp für Türken wieder zunichte gemacht. Dann kündigte die Bundeskanzlerin Merkel das Ende von "Multi-Kulti" an. Die negativen medialen Berichte gaben dann den Rest. So wird über die Köpfe von benachteiligten Gruppen in der deutschen Gesellschaft Politik gemacht. Gerade die Politiker müssten wissen, dass Integration ein Nehmen und Geben bedeutet und ein langwieriger Prozess ist. Aber ich denke, die aufgeheizte Stimmung kann durch das Ergebnis der Reise des Bundespräsidenten in der Türkei abgemildert werden. Denn trotz der wieder aufgeflammten Kopftuchdebatte in der Türkei wurde der Besuch aus der Bundesrepublik recht positiv aufgenommen. Ich wünsche mir, dass diese wichtige Debatte wieder ohne Polemik, ohne Populismus und vor allem sachlich diskutiert wird. Zum Glück haben wir in Deutschland auch besonnene Politiker.
Können Sie sich überhaupt noch einmal vorstellen nach Deutschland zurückzukehren?
Mehmet Öcal: Derzeit können wir uns das nicht vorstellen. Wir haben uns in der Türkei recht gut eingelebt. Uns geht es gut hier. Zu Forschungszwecken für meinen Beruf und zum Urlaub kommen wir schon nach Deutschland. Aber ehrlich gesagt, wir möchten uns diesem psychologischen Druck nicht noch einmal aussetzen. Wenn man wieder und wieder für die Untaten Anderer verantwortlich gemacht wird und man sein Türken- und Muslimsein immer aufs Neue rechtfertigen muss, hört irgendwo der Spaß auf. Hier in der Türkei haben wir sicherlich auch Probleme mit alltäglichen Dingen im Leben, aber keiner nervt uns mit derartigen provokanten Fragen. Wir haben hier unsere Ruhe gefunden und haben abgesehen von einigen anderen Dingen insgesamt eine bessere Lebensqualität.
In den 60er, 70er Jahren war Deutschland bei den türkischen Gastarbeitern sehr beliebt. Viele sind nach Deutschland gekommen, um dort zu arbeiten. Wie schaut es heute aus? Ist Deutschland noch ein attraktives Ziel für gut ausgebildete junge Türken?
Mehmet Öcal: Mein Vater selbst gehört zu der ersten Generation der türkischen Migranten. Wenn er sich die Nachrichten aus Deutschland anschaut, ist er über den politisch-gesellschaftlichen Wandel dort besorgt. Integration war für beide Seiten damals ein Fremdwort. Die Beherrschung der deutschen Sprache war kein Muss. Hauptsache man verrichtete die Arbeit. Psychologisch betrachtet saß die erste Generation seit Jahren schon auf gepackten Koffern, allerdings nur in Gedanken. Nur die wenigsten sind zurückgekehrt.
Heute wächst in der Türkei eine gut ausgebildete, selbstbewusste und stolze Generation heran. Sicherlich wird es den einen oder anderen nach Deutschland ziehen, weil er dort Verwandte oder Bekannte hat. Allerdings sind andere europäische Länder attraktiver. Das sehe ich aus der Wunschliste meiner Studenten für das Erasmusprogramm. Insgesamt gilt Nordamerika weiterhin für viele als ein Kontinent mit Karrieremöglichkeiten. Ich begrüße deshalb die Gründung der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul. Dadurch haben junge Menschen aus beiden Staaten die Möglichkeit das andere Land besser kennen zu lernen und die Erfahrungen in der eigenen Gesellschaft zu reflektieren. So können viele Vorurteile gegenseitig abgebaut werden. Denn davon haben wir hier in der Türkei auch reichlich.
Mehr von Eren Güvercin in seinem Blog Grenzgängerbeatz.