Anerkennung für Amokläufer?
Prinzipien zur verantwortungsvollen Berichterstattung bei schweren Gewalttaten
Sonnenbrille, schwarze Kleidung, die Pistole mit ausgetrecktem Arm in die Kamera haltend: Wie ein Held aus dem Film "Matrix", so wurde der 18-jährige Sebastian in der Presse unzählige Male abgebildet. Am 20. November 2006 hatte er in seiner ehemaligen Schule in Emsdetten um sich geschossen und Rauchbomben gezündet. Fünf Menschen wurden dabei durch Schüsse verletzt, 32 weitere erlitten Schockzustände oder Rauchvergiftungen. Dann tötete der Junge sich selbst.
Abgesehen von den direkten Konsequenzen dieser Tat für Schulgemeinschaft, Angehörige und Täter, kommt es seither in ganz Deutschland zu zahlreichen Nachahmungstaten und Trittbrettfahrern. Phänomene, die seit Jahren national und international nach schweren Gewalttaten an Schulen bekannt sind.
Gerade in den letzten Tagen überfluten Meldungen über Trittbrettfahrer die Medien und sorgen bei Polizei, Politik und Bevölkerung für einigen Wirbel. Einige glaubten sich nur einen schlechten Scherz erlaubt zu haben, wie ein Junge, der seiner Freundin imponieren und ihr durch seine Drohung einen freien Schultag verschaffen wollte. Ein 16-Jähriger wurde festgenommen, da er in einem Chatroom davon gesprochen hatte, dass er sich manchmal vor Hass dazu fähig fühle, einen Amoklauf durchführen zu können.
Die Mehrzahl solcher Trittbrettfahrer sind Menschen, die sich in ihrem Leben ohnmächtig und frustriert fühlen. Vor dem Hintergrund spektakulärer Straftaten versuchen sie, sich wenigstens für kurze Zeit in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen. Zudem können sie aus dem Schutz der (scheinbaren) Anonymität heraus Macht ausüben: Eine Drohung, sei es über das Internet oder per Telefon, genügt zur Schließung einer Schule und Mobilisierung von Polizeikräften. Werden Trittbrettfahrer allerdings gefasst, so können sie wegen Störung des öffentlichen Friedens unter Androhung von Straftaten eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahre erhalten.
Das große Vorbild
Im Gegensatz zu Trittbrettfahrern sind Nachahmungstäter deutlich ernster einzuschätzen. Sie haben sich schon im Vorfeld in ihrer Phantasie mit der Begehung ähnlich gravierender Taten beschäftigt. Das Auftauchen von Amokwarnungen kann für sie wie ein Auslöser wirken, ihren Hass und ihre Frustration gegen andere zu richten und dabei den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Sie verfügen über sehr viel intensivere und destruktrivere Phantasien als Trittbrettfahrer. Gelingt es solchen Jugendlichen, ihre Tötungshemmung zu überwinden und ihre Tat vor sich selbst als gerechtfertigt darzustellen, kann es zur nachahmenden Umsetzung der zuvor berichteten Gewalttat kommen.
Dabei finden sich zumeist in der nachahmenden Vorgehensweise von solchen School Shootings, also Amokläufen durch Jugendliche an Schulen, auch Anleihen an die vorangegangene Tat. Sebastian etwa nannte in seinem Tagebuch die Namen von früheren School Shootern und zitierte in vielen Schriftstücken und Videos die Tat dieser Art, die weltweit am meisten weltweit Aufsehen erregt hatte: An der Columbine High School in Littleton hatten Eric Harris und Dylan Klebold 13 Menschen und sich selbst getötet. Eine solche Verehrung vorangegangener School Shooter findet sich bei fast allen jugendlichen Tätern der letzten Jahre.
So, wie Sebastian B. die Täter von Columbine verehrte, wurde auch seine Tat zum Vorbild für andere: Nur wenige Tage nach dem School Shooting wurden erste Meldungen über geplante Nachahmungstaten bekannt. Darunter war ein 15-jähriger Junge in Weinheim, der einen Mitschüler gefragt hatte, ob er bei einem Amoklauf mitmachen wolle, oder ein 17-jähriger Schüler in Berlin, der Mitschülern gegenüber einen Amoklauf angekündigt hatte. Wie ernst diese Meldungen zu nehmen sind und ob sie wirklich umsetzungsorientiert waren, ist nur im Einzelfall zu entscheiden. Jedoch steigt mit jedem neuen School Shooting die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Jugendliche Teil dieser "großen Geschichte" werden wollen.
Wunsch nach medialer Unsterblichkeit
Die betreffenden Jugendlichen glauben in der Regel an einen Mythos, der vor allem in der Nachfolge von Littleton verbreitet worden ist. Eric Harris und Dylan Klebold schrieben damals in ihre Tagebücher, sie wollten sich an Mitschülern rächen, die sie gehänselt hätten. Das Verbreiten dieser Aussage führte weltweit zu Mitgefühl und Identifikation bei Jugendlichen, die sich ebenso ausgegrenzt fühlten. Harris und Klebold wurden zu subkulturellen Helden. Dabei war es ihnen gleichgültig, wie die vor wenigen Monaten freigegebenen Unterlagen noch einmal untermauern, ob es sich um "Unterdrücker" oder "Unterdrückte" handelte. Was für sie zählte, war die Vorwegnahme ihrer medialen Unsterblichkeit.
Dieser Wunsch nach medialer Unsterblichkeit spielt auch bei anderen School Shootings eine nicht zu unterschätzende Rolle. Daher liegt ein Gegenmittel für Nachahmungstaten unter anderem in einer bewussteren Berichterstattung. Heute ist aus der Medienwirkungs- und Selbstmordforschung bekannt, dass es vor allem die Art der Berichte ist, die Nachahmungstaten begünstigen können.
Dass Videos oder Tagebücher von den Tätern neuerdings direkt ins Internet gestellt werden, mag wie ein Argument gegen eine sensible Berichterstattung erscheinen. Dennoch bleibt ein Großteil der Verantwortung bei den Medien: Es gilt, die Berichterstattung über begangene Taten weniger emotional und weniger konkret durchzuführen, damit keine Anregung und Ausdifferenzierung gewalttätiger Phantasien bei gefährdeten Jugendlichen erfolgt. Wenn der schussbereite Sebastian B. in Zeitungen und Online-Magazinen abgebildet wird, schafft dies einen starken Anreiz für ihre negativen Phantasien.
Doch nicht nur solche potentiell idealisierenden Abbildungen sind kritisch zu sehen. Auch vereinfachende Erklärungen, wie etwa "Er tat es aus Liebeskummer" oder "Er tat es, um sich zu rächen" erscheinen problematisch. Einerseits sind sie inhaltlich falsch, da die Entstehung von Gewalt stets durch vielfache zusammenwirkende Ursachen bestimmt wird. Andererseits können sie zu dem Glauben verführen: "Wenn der Täter aus Rache getötet hat und damit auch noch berühmt wurde, dann kann ich das auch tun." Werden aber die vielfältigen Zusammenhänge einer Tatentstehung aufgezeigt, nehmen Jugendliche wahr: "Der Täter und ich befinden uns in unterschiedlichen Situationen. Es ergibt nicht unbedingt Sinn, so zu handeln, wie er es getan hat."
Negativ auswirken kann sich auch die genaue Darstellung der Phantasie der Täter durch Zitate aus dem Tagebuch, Zeichnungen und dergleichen. Abstrahierungen und, falls möglich, zumindest sprachliche Mittel statt emotionaler Bilder können die notwendige Distanz zum Täter schaffen. Genauso begünstigt der Fokus auf den Täter Nachahmer. Denn das Erzählen emotionaler Geschichten und das Erschaffen von Heldenfiguren bewirken eine Verstärkung der Mythenbildung und Anschlussmöglichkeit an begangene Taten. Dazu gehört auch der Verzicht auf eine exakte Beschreibung der Vorgehensweise, Bewaffnung und Kleidung. Geeigneter wäre es, wenn möglichst verallgemeinert über die Ausstattung gesprochen wird, indem etwa lediglich "dunkle Kleidung" und "Schusswaffen" erwähnt werden.
Die Einhaltung dieser Regeln ist sicherlich nicht immer einfach, da sie mit wichtigen Grundregeln des Journalismus zu kollidieren scheinen. Zudem steht man stets vor dem Problem, dass die Konkurrenz möglicherweise weniger verantwortungsbewusst handelt und mit der Publikation der Informationen dann Leser gewinnt. Dennoch sollte gut abgewogen werden, ob beispielsweise die eingangs erwähnte massenhafte und unverfremdete Abbildung des Täters in Heldenpose der journalistischen Verantwortung gerecht wird - und ob das Verhindern neuen Leides durch den Verzicht die Nachteile nicht wert sein sollte.
Frank J. Robertz und Ruben Wickenhäuser sind beim Institut für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie (IGaK) tätig. Das freie Institut führt unter anderem Lehrer- und Polizeifortbildungen zum Thema Jugendgewalt durch.