Angebot in letzter Minute
Berlin baut in kältester Woche des Jahres "24/7-Einrichtungen" für Obdachlose aus. Ob die Plätze reichen werden, ist unklar
Angesichts von Schlagzeilen wie "Sibirische Kältepeitsche" und "Der Winter wütet weiter" sowie nach bald einem Jahr "Stay at home"-Aufrufen kommt Berlin einer langjährigen Forderung der Wohnungslosenhilfe nach und bietet vermehrt Plätze in "24/7-Einrichtungen" an. Gemeint sind Unterkünfte, die auch tagsüber Schutz vor den eisigen Temperaturen bieten. "Das ist genau das, wofür wir uns immer stark gemacht haben", so Barbara Breuer von der Berliner Stadtmission am Montag im Gespräch mit Telepolis. Vor und teils auch längere Zeit während der Corona-Pandemie war es üblich, dass Obdachlose die Unterkünfte tagsüber verlassen mussten.
Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren in diesem Winter bundesweit bereits 17 Menschen erfroren - davon drei in Berlin - als die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales am Freitag ankündigte, das Angebot an an 24/7-Plätzen in der Hauptstadt auszubauen.
In einem Hostel an der Boxhagener Straße in Berlin-Friedrichshain stehen obdachlosen Menschen seit Samstagabend 100 Plätze Tag und Nacht zur Verfügung. Darüber hinaus eröffnete am Sonntag auf dem Gelände der früheren Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin-Reinickendorf eine Ganztagseinrichtung mit zunächst 100 Plätzen, am morgigen Dienstag sollen dort 100 weitere bereitgestellt werden.
Ein bereits als 24/7-Unterkunft genutztes Hostel an der Köpenicker Straße in Berlin-Kreuzberg erhöhte die bisherige Kapazität von 100 Plätzen um weitere 20, darunter auch barrierefreie Plätze für obdachlose Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind.
Nach Angaben des Ressorts von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) hatte die Berliner Kältehilfe in den bestehenden Einrichtungen zuvor 1.090 Notübernachtungsplätze zur Verfügung gestellt. Laut der Senatsverwaltung waren davon vergangene Woche 121 nicht genutzt worden - diese Statistik spiegelt aber nach Angaben der Stadtmission nicht den tatsächlichen Bedarf wieder.
Manchen Einrichtungen fehle Personal, um zu später Stunde noch Menschen aufzunehmen, die vom Kältebus-Team aufgelesen wurden, so Barbara Breuer. Zumal, wenn ein negativer Corona-Schnelltest Bedingung für die Aufnahme sei. Bisher testet nur ein Teil der Einrichtungen überhaupt, weil dafür Personal mit der vorgeschriebenen Ausbildung fehlt. Andere Einrichtungen können dies zumindest nicht in mehreren Schichten gewährleisten. Unter anderem deshalb müssten Kältebus-Mitarbeiter nachts zum Teil mehrere Einrichtungen anfahren und "betteln", sagt Breuer.
Als Berliner Obdachlose im Januar 2020 erstmals gezählt wurden, lag deren feststellbare Zahl bei 1.976. Angetroffen wurden sie in Einrichtungen der Kältehilfe, auf der Straße, in Rettungsstellen, im Öffentlichen Nahverkehr, in Polizeigewahrsam und in Wärmestuben. Schätzungen gingen zuvor von mindestens 6.000 bis 10.000 Obdachlosen in der Hauptstadt aus. Breitenbach erklärte seinerzeit, dass sich wohl einige während der Zählung versteckt hätten, aber sicherlich nicht 8.000.
Ein Teil der Obdachlosen meidet zwar zumindest bei moderaten Temperaturen die Notübernachtungsstellen aus den unterschiedlichsten Gründen - sei es Angst vor aggressiven, suchtkranken "Mitbewohnern", vor Ansteckung mit diversen Infektionskrankheiten oder vor Maßregelungen und eigenen Entzugserscheinungen, weil dort beispielsweise kein Alkohol konsumiert werden darf. Breuer geht aber davon aus, dass es sich einige anders überlegen, wenn die Temperaturen nachts im zweistelligen Minusbereich bleiben - was laut Wettervorhersage bis zum nächsten Wochenende durchgängig der Fall sein wird. Ob die Senatsverwaltung ihr Versprechen halten kann, tatsächlich allen, die es wollen, eine feste Unterkunft zu bieten, wird sich demnach in den nächsten Tagen zeigen.
Zwang und Misstrauen
In einigen Fällem scheiterte bisher die Unterbringung auch daran, dass Obdachlose ihren Hund nicht mit in die Einrichtung nehmen durften. Das zumindest soll im Hostel an der Boxhagener Straße anders sein, versprach der Vizebürgermeister des Berliner Bezirks Lichtenberg, Kevin Hönicke (SPD) nach der Räumung eines Obdachlosen-Camps an der Rummelsburger Bucht in der Nacht zum Samstag. Den Bewohnerinnen und Bewohnern waren Plätze in dem Hostel mit "Vollverpflegung" angeboten worden, aber nicht alle hatten sich dafür entscheiden können, als Polizisten mit Sozialarbeitern anrückten, um das Camp zwangsweise aufzulösen.
Laut Hönicke nahm etwa die Hälfte der Betroffenen das Angebot an - dem Tagesspiegel erklärte er, man wisse nicht, wo die anderen untergekommen seien.
Dementsprechend gab es auch Proteste gegen die Räumung, bis zu 100 Menschen demonstrierten am Samstag am Ostkreuz. "Die kälteste Woche des Jahres bei Temperaturen -12 Grad steht bevor, Corona-Inzidenzzahlen sind nach wie vor hoch, und die Berliner Polizei und Politik hat nichts Besseres zu tun, als den Ärmsten der Armen ihre Unterkunft, Feuerstellen und Besitz wegzunehmen", hieß es in einer Mitteilung der Protestierenden. Hönicke dagegen erklärte, alle Betroffenen hätten Gelegenheit bekommen, ihre Habe mitzunehmen.
In Hamburg, wo in diesem Winter bereits fünf Kältetote gezählt worden waren, blieben die Unterkünfte des Winternotprogramms zumindest am Wochenende auch tagsüber geöffnet, da auch hier zweistellige Minustemperaturen vorhergesagt waren.