Angewandte Pädagogik für eine permanente Kontrolle
In Frankreich mobilisiert eine Lobby der High-Tech-Industrie, um Zeitgenossen schon ab dem Kindesalter an die Allgegenwart der Kontrolltechnologien zu gewöhnen
Wie GIXEL (Groupement des industries electronique - Konsortium der Elektronikindustrie) zu seinem Leidwesen feststellen muss, „wird die Sicherheit in unseren demokratischen Gesellschaften zunehmend als eine Bedrohung der persönlichen Freiheiten begriffen. Man muss also die Bevölkerung dazu bringen, Technologien, wie biometrische Systeme, Videoüberwachung und elektronische Kontrollen aller Art zu akzeptieren“. Die High-Tech-Lobby, bestehend aus 70 Elektronikunternehmen (u.a. 3M, EADS Astrium, EADS Defence and Security Networks, Sagem, Sarel Groupe Schneider und Thalès) möchte, dass schon ab dem Kindergarten und später in den Schulen Sicherheitstechnologien eingesetzt werden, indem sich z.B. die Kleinen und ihre erwachsenen Begleiter elektronisch identifizieren müssen, um rein- und rauszukommen oder in die Kantine vorgelassen zu werden. Es gilt, die künftigen Erwachsenen auf elektronische Kontrollen vorzubereiten - oder besser gesagt: zu konditionieren. Die Regierung soll GIXEL bei diesem Gewöhnungsprozess an die elektronischen Sicherheitsprozeduren hilfreich unter die Arme greifen.
Ob nun reiner Zufall oder Resultat eines intensiven Lobbyings: Das französische Erziehungsministerium kommt diesem „pädagogischen“ Ansinnen des GIXEL offenbar bereits entgegen, werden doch neuerdings Schülerdatenbanken von Dreikäsehochs bereits ab 3 Jahren angelegt. Mit einer Datenaufbewahrungsdauer von bis zu 35 Jahren....
Was dem Ministerium heuer den BigBrother-Award "Orwell" eingebracht hat: „Noch nie zuvor hat eine Behörde in so kurzer Zeit so viele neue, den Namen enthaltende Datenbanken angesammelt“, wie die großen Brüder die Prämierung des Erziehungsministeriums begründen. Des weiteren heißt es da:
Dieses Jahr hat das Erziehungsministerium neuerlich seinen Willen unter Beweis gestellt, die soziale Kontrolle über die Familien zu verstärken.
Der Eintrag in diese Schülerdatenbank ist ab dem Kindergarten verpflichtend und zeitigt die Schaffung einer elektronischen Schüler-ID genannt INE (identifiant élèves), welche in einer nationalen Datenbank verwaltet wird. Diese Datenbank ist, wie gewohnt (siehe Die wundersame Wiederauferstehung einer Scheintoten), weder vom Parlament noch durch einen Erlass genehmigt worden und hat schon einige Unannehmlichkeiten für „bestimmte“ Familien verursacht.
Gegner dieser Datenbank fordern, dass namentliche Informationen keinesfalls das Schulgelände verlassen dürfen. Ein Vorfall, der kürzlich in Rennes stattgefunden hat, zeigt wie diese angeblich harmlose Datenbank missbraucht werden kann: Eine geschickte Mischung aus Informationen der Schülerdatenbank und der Schüler-ID (INE) wurde nämlich von den Sicherheitsbehörden dazu verwendet, eine ausländische Familie zu lokalisieren. Ein Vater, der keine Aufenthaltsgenehmigung hatte, ein „sans papier“ (ohne Papiere) wie man in Frankreich sagt, konnte dank dieser Schülerdatenbank identifiziert und daraufhin festgenommen werden.
Besorgter Staatsrat
Die zunehmende Informatisierung der Schulen und deren Folgen besorgt nicht nur die wachsame Jury der Big-Brother-Awards, sondern neuerdings auch den Staatsrat, der die Regierung jüngst dazu aufgefordert hat, Daten, welche die Gesundheit der Schüler betreffen, zu entfernen, und auch die überlange Aufbewahrungsdauer wurde als „irregulär“ angesehen.
Was den illegal eingewanderten Vater betrifft, hätten es das Erziehungsministerium und die Sicherheitskräfte viel einfacher haben können, indem man sich gleich direkt an GIXEL gewendet hätte. Die modernen Technologien würden es nämlich erlauben, solcherlei unerwünschte Gäste an die elektronische Leine zu legen, wie es bereits in Großbritannien erwägt wird. Diese mit einem GPS-Sender ausgestattete Fußfessel wird u.a. in den USA bereits zur lebenslangen Überwachung von Sexualstraftätern eingesetzt.
Ein elektronischer Kontrollwahn, der sich bezahlt macht
Doch zurück zu den französischen Lieferanten des benötigten elektronischen Materials für die allumfassende Kontrolle: GIXEL selbst ist natürlich längstens schon von den Big-Brother-Awards mehrmals nominiert und ausgezeichnet worden (2004 und 2006), propagiert man doch fleißigst landauf-landab die elektronisch verwaltete Sicherheit, wie es in dem sogenannten "blauen Buch" der Industriellen ausführlichst dargestellt wird.
Allerdings soll diese unangenehme Vorstellung von einer omnipräsenten elektronischen Überwachung zynischerweise nicht primär die Sicherheit zum Ziel haben, sondern vielmehr den um seine persönlichen Freiheiten bangenden Bürger nach und nach daran zu gewöhnen und dazu zu bringen, die nunmehr unumgängliche Präsenz der elektronischen Wächter ohne zu Mucken zu akzeptieren, wie die online-Zeitung „Rue 89“ die Aktivitäten von GIXEL analysiert.
Selbstverständlich geht es aber wohl auch darum, die eigenen Produkte dauerhaft abzusetzen. Laut Eigenwerbung repräsentiert GIXEL 100 Prozent der französischen Chipkartenerzeugung und stellt 60 Prozent der elektronischen Komponenten (z.B. RFID) der Sicherheitssysteme der Grande Nation her. Diese elektronischen Sicherheitssysteme sollen 2009 weltweit einen Markt von mehreren Hundert Milliarden Euro dargestellt haben. Dieses saftige Geschäft soll 21 Milliarden in Europa und 2,6 Milliarden in Frankreich eingebracht haben. Das Geschäft mit der Sicherheit, besser gesagt mit der Angst, macht sich offensichtlich reichlich bezahlt.
Ein neuer kalter Krieg?
In dem oben zitierten „Blauen Buch“, einer Art Strategiepapier der Elektroniklobby, erklärt GIXEL, wie die Welt sich aus der Sicht dieser „Sicherheitsexperten“ darstellt und welche Aufgaben sich daraus ergeben:
Die Sicherheit der Bürger in ihrem Heim und an ihrem Arbeitsplatz, im öffentlichen Bereich - und da vor allem in den öffentlichen Verkehrsmitteln - zu gewährleisten, gehört zu den wesentlichen Aufgaben des Staates und ist die Voraussetzung für die Stabilität der Demokratien. Der 11.September 2001 und der 11. März 2004 waren der Auslöser für die Erkenntnis, dass nunmehr die Sicherheit eine nationale Herausforderung geworden ist - mit der Verpflichtung, Resultate zu liefern. Die Mittel, die dafür mobilisiert werden, sollten denen, die während des „Kalten Krieges“ aufgebracht wurden, um nichts nachstehen.
Für diese angebliche moderne Version des „Kalten Krieges“ werden der Name Al Qaida und Terrorismus im Allgemeinen allzu gerne herbeizitiert. Praktischerweise liefern diese Bösewichte des neuen „Kalten Krieges“ genügend Gründe, Angst zu haben und terrorisiert zu sein und rühren solchermaßen fleißigst die Werbetrommel für die Produkte der Sicherheitsindustrie.
GIXEL versucht derweilen seine Mission in Sachen Sicherheit bei den öffentlichen Institutionen an den Mann und die Frau zu bringen: So gilt es z.B., das Industrieministerium von den Sicherheitsvorstellungen der Elektroniklobby zu überzeugen. Aber auch das Forschungsministerium, die Generaldirektion für die Wehrtechnik, DGA (Direction générale de l’armement) und das bereits länger bestehende, größere Netzwerk der Elektronik- und elektrischen Industrie FIEEC (Fédération des Industries Electriques, Electroniques et de Communication) für die Interessen des GIXEL einzuspannen.
Die Ansinnen der High-Tech-Lobby sind wie es scheint zur Zeit voll im Aufwind: So hat der Staatspräsident persönlich mit dem üblichen Pomp eine „große nationale Anleihe“ (grand emprunt) in Höhe von 35 Milliarden Euro für die Industrie angekündigt. Im Juni hat Sarkozy die technologische Industrie zu einer „strategischen Priorität“ erklärt, um eine „große Industrienation zu bleiben“. 2,5 Milliarden Euro aus diesem „grand emprunt“ sollen in die Entwicklung von Anwendungen der elektronischen Dienstleistungen investiert werden.
Die Unsicherheit, größte aller Ungerechtigkeiten
Der Staatspräsident, früher Innenminister, wie an dieser Stelle nochmals vermerkt sei, also oberster Polizist der Nation, hat gar eigenartige Vorstellungen von der nationalen, noch von der französischen Revolution stammenden Devise, die da bekanntlich lautet „Liberté, Egalité, Fraternité“ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit):
Die Unsicherheit (insecurité) ist die größte herrschende Ungleichheit, die größte Ungerechtigkeit, denn sie betrifft vor allem die Schwächsten, die Unterprivilegierten, welche nicht die Mittel haben, in den bevorzugten Vierteln zu leben.
Die Lösung? Laut Sarkozy, soll von „einer Religion des Geständnisses zu einer der Beweise“ übergegangen werden. So soll die Videoüberwachung, die nunmehr euphemistisch Videoschutz geheißen wird, noch mehr ausgebaut werden. Wie auch die Datenbanken zur Gewalt und da vor allem solche, die genetische Informationen (FNAEG)z.B. zu sexuellen Straftäter enthalten.
Die medial proaktiv propagierte „herrschende Unsicherheit“ sorgt offenbar für einen trauten Einklang zwischen der Geschäftswelt und der Politik, deren Vertreter oftmals miteinander bekannt (siehe "Die Oberschicht ist die einzige Klasse, die noch wirklich kollektiv und solidarisch funktioniert") oder befreundet sind. All diese Leute machen verdammt gute Geschäfte mit der heraufbeschworenen Angst. So wie z.B. Arnaud Lagardère, Besitzer mehrerer Verlagshäuser und Geschäftsführer von EADS - und persönlicher Freund des Präsidenten. Der eine macht mit der Sicherheit Geschäfte, der andere macht damit seine Politik. Bei den derzeit in Frankreich herrschenden Nahverhältnissen zwischen der Politik, den Medien und dem Geld wird das alles zunehmend schwer auseinander zu halten.