Die wundersame Wiederauferstehung einer Scheintoten
"Feuer am Dach" in Frankreich: Wie EDVIGE zu neuem Leben erwacht - samt der Erfassung sensibler Daten. Die umstrittene Megadatenbank soll den Kampf gegen die Jugendkriminalität verbessern
In Frankreich hatte die Schaffung der Megadatenbank „EDVIGE“ (siehe Adieu Datenbank Edvige! Adieu?) vor ziemlich genau einem Jahr 250 000 Bürger und 1300 Organisationen auf die Palme getrieben und die Behörden dazu gezwungen, die neugierige Dame zurückzuziehen. Jetzt taucht sie wie erwartet wieder auf.
Nur diesmal trägt sie nicht mehr den niedlichen Namen EDVIGE (Exploitation documentaire et valorisation de l'information générale), sondern gar keinen. Am 16.Oktober, zynischerweise dem Tag der Sankt Edwige, hat Innenminister Brice Hortefeux, die Schaffung zwei neuer Datenbanken des Inlandsnachrichtendienstes verkündet, die natürlich rein gar nichts mehr mit der guten alten EDVIGE gemein haben sollen. Sexuelle Neigungen und Informationen über die Gesundheit würden nicht mehr erfasst. Der Staatsrat hatte das damals zu verhindern gewusst. Die drohende Erfassung dieser „sensiblen“ Daten, aber eben nicht nur die, hatten vor einem Jahr für Aufruhr bei den französischen Bürgern gesorgt.
Nunmehr soll EDVIGE, die nicht mehr EDVIGE geheißen werden soll, „bloß“ Daten, die direkt mit der öffentlichen Sicherheit zu tun haben und solche, welche für eine Anstellung in einem „sensiblen“ Berufszweig (Flughäfen, Nuklearindustrie, Polizei, Gendarmerie aber auch Staatsbürgerschaftsansuchen) von Nöten sind, erfassen.
Sieht man sich die zwei Dekrete allerdings genauer an, so muss man feststellen, dass die beiden neuen Datenbanken fast alle bürgerlichen Aufreger von vor einem Jahr nach wie vor enthalten. Nur eben verteilt auf zwei Datenbanken, wozu der Innenminister von Gesetzes wegen gezwungen war. Denn die alte EDVIGE hatte nämlich Äpfel mit Birnen vermischt, was illegal ist und auch damals schon war. Die verfemte Datenbank hätte nämlich gewerkschaftliche, politische, religiöse, sexuelle Neigungen, potentiell gefährliche Aktivitäten, und, und, und erfassen sollen. Mit einem Wort: Die allumfassende EDVIGE war kurzum gesetzeswidrig und musste nach den massiven öffentlichen Protesten am 20.November 2008 zurückgenommen werden. Die 250 000 französischen Bürger die sich in Datenschützer gewandelt hatten, hatten sich vorläufig nicht umsonst erregt.
Nun anno 2009 soll der Innenminister Beginn Oktober durch eine medial reichlich kolportierte "Gewaltexplosion" in der Provinzstadt Poitiers, zwischen „Autonomen“, die gegen die desolate Lage der französischen Gefängnisse (siehe Grippeparanoia hinter Gittern) protestiert hatten und der Polizei, auf den Plan gerufen worden sein. Denn die Sicherheitskräfte sollen von diesen zwei Tage lang währenden „Unruhen“ regelrecht überrascht worden sein, was dem Innenminister natürlich gar nicht gefällt.
Brice Hortefeux, denkt, dass solcherlei üble Überraschungen nur einer schlecht informierten Polizei passieren können. Denn von den 18 Personen die in Potiers in Polizeigewahrsam genommen wurden, waren, oh Graus, mehr als die Hälfte nicht von Sicherheitsdatenbanken erfasst. So hätte es laut dem Innenminister nichts erlaubten können, das „Ausmaß“ der Ausschreitungen (immerhin 18 zerschlagene Schaufenster, ein kaputtes Schild und ramponierte Beleuchtungen) vorauszusehen. Wenige Tage nach dieser „Gewaltexplosion“ verkündete der Innenminister die Schaffung dieser zwei fast neuen Datenbanken.
Die dazugehörigen Erlässe sollen allerdings schon seit März in der ministeriellen Schublade geruht haben. Fehlte nur noch der öffentlichkeitswirksame Anlass, der nun von den sogenannten Autonomen und bösen Jungs linksextremer Gruppierungen in Poitiers dankenswerterweise frei Haus geliefert wurde.
Wer hat Angst vor dem Parlament?
Genau so wie EDVIGE 1.O wurde für die Schaffung der neuen Sicherheitsdatenbanken das Parlament tunlichst vermieden, was sich wunderbar mit dem Einsatz von Erlässen bewerkstelligen lässt Laut Meryem Marzouki, Präsidentin des Verbandes für ein solidarisches Internet IRIS, federführend an den Protesten vom letzten Herbst beteiligt, will die Regierung vor allem die parlamentarische Debatte vermeiden, um die Dinge möglichst hurtig voranzutreiben: „Sehr demokratisch ist das alles natürlich nicht“, meint Frau Marzouki gegenüber Telepolis.
Ähnlich tönt die sozialistische Abgeordnete Delphine Batho, die meint, dass die von der aktuellen politischen Mehrheit gewählte Methode, wie üblich eben diejenige sei, jeglichen möglichen Widerstand von vornherein auszuschalten. Selbst wenn hierfür das Parlament und die eigene Mehrheit übergangen werden müssten.
Frau Batho, ist übrigens gemeinsam mit einem Abgeordneten der regierenden UMP Initiatorin eines Gesetzesprojektes zur Regulierung der Polizei- und Sicherheitsdatenbanken, das am 16.Juni von einer Kommission der Nationalversammlung angenommen wurde.
Doch die Mühlen des französischen Parlamentes mahlen langsam, und werden wohl nicht so schnell das Regieren per Dekret zu verhindern wissen. Dieses Gesetzesprojekt sieht jedenfalls vor, dass die Schaffung einer Sicherheitsdatenbank nur vom Gesetzgeber autorisiert werden kann. Die Aufbewahrungsdauer der Daten und welchen Zweck die Datenbank verfolgt, soll laut dem erwünschtem Gesetz ebenfalls Angelegenheit des Parlamentes sein.
Was die sogenannten sensiblen Daten anlangt, wie z.B. die „rassische oder ethnische Herkunft, politische, philosophische, religiöse Ausrichtungen oder Informationen über eine Gewerkschaftsangehörigkeit, den gesundheitlichen Zustand und die sexuellen Neigungen einer Person“, so soll ein eventueller Zugriff auf diese sensiblen Daten durch die Sicherheitskräfte künftig nur durch ein Gesetz genehmigt werden können. Denn zur Zeit, wie in dem Gesetzesprojekt betont wird, können Ausnahmen für den Zugriff auf diese sensiblen Daten mit einem simplen Dekret zugelassen werden.
Und siehe da: Fast alle sensiblen Daten, die in diesem Gesetzesprojekt erwähnt werden, sind in den neuen Dekreten zur Schaffung von EDVIGE 3.0, denn zwischendurch hatte es bereits einen neuerlichen Versuch gegeben, enthalten: Für die Datenbank, welche die behördlichen Ermittlungen zu einer Person betrifft, welche sich um eine Anstellung in einem kritischen Berufszweig bemüht, sollen „sensible Daten, wie öffentliche Aktivitäten und deren politische, religiöse, philosophische oder gewerkschaftliche Motivationen“ erfasst werden können, wie es im Erlass wortwörtlich heißt. Was allerdings eine Anstellung in einem Flughafen beispielsweise, mit einer eventuellen Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft zu tun haben soll, ist nicht unbedingt sofort ersichtlich.
Die „geographische Herkunft“ einer Person und verdächtige Minderjährige
Die zweite Datenbank, welche die „Prävention von Übergriffen auf die öffentliche Sicherheit“ gewährleisten soll, interessiert sich u.A. für die „geographische Herkunft“ einer Person. Ein ziemlich vager Begriff, der wahrscheinlich verdeckt die ethnische Zugehörigkeit einer Person meint. Diese gewollt unpräzise Formulierung, könnte laut SOS-Racisme, dazu führen, dass mittels der Daten die erfasst werden sollen, wie der Wohnadresse ( „sensibles Viertel“ oder nicht?), dem Geburtsort (Antillen, da könnte es sich um eine farbige Person handeln) und dem Klang eines Familienamens (Ah, ein Araber!), es im Endeffekt dem Polizisten überlassen bleibt, diese sogenannte „geographische Herkunft“ nach eigenem Ermessen zu determinieren. SOS-Racisme fordert nun vom Staatsrat diese semantisch wie geographisch nicht gerade genau verortete Formulierung zu sanktionieren.
Doch vor allem der Umstand, dass Minderjährige schon ab 13 Jahren auf bloßen Verdacht hin von der Datenbank erfasst werden sollen, was nebenbei bemerkt auch schon die alte EDVIGE versucht hatte umzusetzen, sorgt das hochaktive "Kollektiv non a Edvige" besonders.
Diese verdächtigen Minderjährigen sollen wohlgemerkt noch ehe überhaupt etwas geschehen ist, wie z.B. die Zugehörigkeit zu einer Bande, aber auch ein zufälliger Kontakt zu einem Bandenmitglied, von der Datenbank erfasst werden. Innenminister Hortefeux, versucht, wie’s scheint, eine präventive Verbrechensbekämpfung zu betreiben. Ungeachtet der Unschuldsvermutung und des besonderen Status eines Minderjährigen vor der Justiz. Vor allem Banden in den verruchten Vorstädten und Hooligans scheinen es dem Innenminister und seinen Datenbanken besonders angetan haben.
Und wo bleibt der Widerstand?
Denn bislang ist vom üblichen französischen Widerstand gegen versuchte staatliche Übergriffe noch kaum etwas zu bemerken. Die Massenmedien berichteten zwar einige Tage nach der Veröffentlichung der Dekrete über die Rückkehr von EDVIGE. Aber seitdem herrscht öffentliche Funkstille. Die „üblichen Verdächtigen“ wie die Menschenrechtsliga LDH, Mitglied des Anti-EDVIGE-Kollektives, bestehend aus über 1000 Verbänden, wetzen freilich bereits die Datenschutzmesser. Aber kein Vergleich zur allgemeinen Mobilisierung vom letzten Herbst.
„Lassen Sie uns Zeit!“, meint Frau Marzouki :
Letztes Mal hatte es auch gedauert., bis die Dinge in Bewegung kamen. Das Dekret für die erste EDVIGE war bereits im Juli 2008 erlassen worden, und die Mobilisierung der Bevölkerung hatte erst im September begonnen vehement zu werden. So vehement, dass es nicht mehr zu überhören war. Diesmal haben 12 Organisationen unseres Kollektivs bereits Einspruch gegen die neuen Datenbanken beim Staatsrat eingelegt. Welche öffentlichkeitswirksamen Aktionen wir genau unternehmen werden, um die Bevölkerung wachzurütteln, überlegen wir gerade. Denn es ist Feuer am Dach! Die Formulierungen der beiden neuen Dekrete sind derart breit gefasst, dass wirklich alle Franzosen von der Erfassung durch die neuen Datenbanken betroffen sein könnten. Wir lassen auf jeden Fall nicht locker!
Doch laut den Juristen, die vom Onlinemedium „Rue 89“ interviewt wurden, handelt es sich bei dieser ganzen Datenbankmisere, viel eher um eine bewusste Strategie.
Denn der Lärm, den die Datenschützer zu Recht veranstalten, soll dazu genutzt werden, um davon abzulenken, dass die Regierung gerade dabei ist, die Jugendschutzgesetze und da vor allem die Verordnung von 1945, welche Minderjährigen einen besonderen Rechtsstatus zuerkannt hatte, nach und nach zu umgehen. Die Regierung wünscht offenbar Minderjährige vor der Justiz wie Erwachsene behandeln zu können, sind doch die Jugendkriminalitätsraten in den letzen Jahren angeblich regelrecht explodiert. Was Experten allerdings vehement bestreiten, denn diese seien eher gerade dabei langsam aber sicher zurückzugehen. Es kommt eben drauf an, wer die Kriminalitätsstatistiken interpretiert.
Laut dem Jugendrichter und Mitglied der linksstehenden Richtergewerkschaft "Syndicat de la magistrature", Serge Portelli , würde die französische Gesellschaft gerade auf die Reform der Verordnung von 1945 vorbereitet: „Diese Reform steht kurz bevor, und daher wird jetzt die öffentliche Meinung mit der Datenerfassung von 13-jährigen und dieser ganz bestimmten Lesart der Kriminalitätsstatistiken aufgeheizt.“ Fazit: Jung sein und obendrauf mit der falschen geographischen Herkunft ausgestattet sein, macht in Sarkozien, von vornherein verdächtig. Doch dankenswerterweise wachen immer mehr Datenbanken über diese verdächtige Individuen. Über die Politiker auch?