Antisemitismus: US-Universitäten im freien Fall
Steht an US-Hochschulen linkes Selbstverständnis noch für Aufklärung? Hamas-Taten wurden mindestens verharmlost. Das hat Folgen.
"Glauben Sie, dass Juden als Klasse unterdrückerisch sind und als Unterdrücker behandelt werden sollten, oder ist das eine falsche Ideologie?"
Rund 2.000 wahlberechtigte US-Amerikaner beantworteten Anfang Dezember unter anderem diese Frage von Harvard Harris Poll, einer Kooperation von Politikwissenschaftlern der Harvard-Universität und des Marktforschungsunternehmens Harris Poll. 67 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmten zu: Juden als Klasse (!) seien Unterdrücker und sollten als solche behandelt werden.
Diese Altersgruppe antwortete als einzige mehrheitlich positiv. Je höher das Alter, desto geringer war die Zustimmung. Die Ergebnisse relativieren sich ein wenig dadurch, dass die Befragung keine neutrale Option ("Weiß nicht") anbot. Doch eine verbreitete Einstellung "Im Zweifel gegen die Juden" ist auch dann ein Befund, wenn Zweifel tatsächlich vorhanden sind.
Auch die Frage, ob weiße Menschen Unterdrücker seien, fand in der jüngsten Kohorte - und nur dort - mehrheitliche Zustimmung: 79 Prozent bejahten.
Höhere Bildung in der Vertrauenskrise
Es ist etwas faul an den Universitäten der USA. Umfragedaten von Gallup zeigen einen rapiden Verlust öffentlichen Vertrauens in die Einrichtungen der höheren Bildung seit 2015. Am größten ist er bei Anhängern der Republikaner. Sie sprachen den Unis im Jahr 2023 nur noch zu 19 Prozent ihr Vertrauen aus - ein Einbruch um 37 Prozentpunkte seit 2015.
Anhänger der Demokraten stehen den Universitäten ideologisch näher; bei ihnen sieht es dementsprechend besser aus. Doch ein Abwärtstrend zeigt sich auch hier. Der Anteil derjenigen, die ihnen vertrauen, sank um neun Punkte von 68 auf 59 Prozent.
Diese Zahlen wurden im Sommer 2023 erhoben. Die desaströse Reaktion der Hochschulöffentlichkeit auf das Massaker der Terrorgruppe Hamas in Israel am 7. Oktober ist somit noch gar nicht eingepreist. Nicht nur zeigten sich die Universitäten zögerlich dabei, die Taten zu verurteilen - viele Einzelstimmen und Gruppen feierten sie geradezu.
Professor nach Hamas-Massakern "berauscht"
Auf einer Kundgebung in New York schwärmte etwa der Geschichtsprofessor Russell Rickford von der Cornell-Universität, er sei danach "berauscht" gewesen.
An der George Washington University projizierten Studenten offene Solidaritätsbekundungen für die Hamas an ein Gebäude, darunter "Glory to our martyrs" - "Ehre unseren Märtyrern".
Auf X, ehemals Twitter, verherrlichte eine Reihe von Professoren die terroristischen Morde und Vergewaltigungen mit der einen oder anderen sinngemäßen Variation von "Dekolonisierung ist kein Ponyhof".
30 studentische Gruppen der Harvard-Universität erklärten, das israelische "Apartheidregime" trage die alleinige Verantwortung für die Gewalt. Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. All das blieb in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht unbemerkt.
Eine Anhörung im Repräsentantenhaus und die Folgen
"Die gute Nachricht ist, dass der freie Fall der Akademie jetzt vorbei ist", schrieb der Sozialpsychologe Jonathan Haidt kurz vor Weihnachten.
Haidt gehört als Pionier der Moralpsychologie zu den heute einflussreichsten Vertretern seines Faches und hat die Organisation Heterodox Academy gegründet, in der sich einige Tausend Hochschulmitarbeiter für mehr Perspektivenvielfalt an den links dominierten US-Universitäten einsetzen.
"Die höhere Bildung Amerikas", so Haidt weiter, "ist am 5. Dezember 2023 in jenem Anhörungsraum des Kongresses auf dem Boden aufgeprallt."
Das House Committee of Education and the Workforce des Repräsentantenhauses hatte vier Hochschulpräsidentinnen eingeladen, um über Antisemitismus in ihren Einrichtungen auszusagen. Drei kamen: Liz Magill von der Universität Pennsylvania, Claudine Gay von der Harvard-Universität und Sally Kornbluth vom Massachusetts Institute of Technology.
"Globalisiert die Intifada"
Zu Beginn der Anhörung zeigten Videoaufnahmen, wie studentische Demonstranten der betreffenden Universitäten unter anderem "Lang lebe die Intifada" und "Globalisiert die Intifada" skandierten.
Der arabische Ausdruck "Intifada" bedeutet etwa "Aufstand" und steht im Nahost-Kontext zumindest auch für palästinensische Militanz. Es braucht daher nicht viel bösen Willen, um diese Parolen als Aufrufe zu Gewalt gegen Israel und Juden zu verstehen.
Von dem Mitschnitt der mehr als fünfstündigen Anhörung verbreiteten sich vor allem einige Minuten wie ein Lauffeuer, in denen die republikanische Abgeordnete Elise Stefanik versucht, den Präsidentinnen ein klares Ja auf die Frage zu entlocken, ob ein Aufruf zum Genozid an Juden gegen den Verhaltenskodex ihrer Häuser verstoße. Es gelingt ihr nicht.
Alle drei Präsidentinnen verurteilten solche Aufrufe, stuften es aber als "kontextabhängig" ein, ob sie gegen Regeln verstießen. Man pflege eine Kultur der Redefreiheit.
Zweifelhaftes Bekenntnis zur Redefreiheit
Als allgemeine Auslegung des ersten Verfassungszusatzes, der Redefreiheit, trifft das zu - auch die Befürwortung von Gewalt ist geschützt, wenn sie nicht im jeweiligen Kontext geeignet ist, tatsächlich Gewalt auszulösen.
Doch eine Pose ausgerechnet der US-Universitäten als Bastionen des Free-Speech-Absolutismus ist wenig glaubwürdig.
Dort werden etwa lange Listen "schädlicher" Wörter zusammengestellt, die "eliminiert" werden sollten, und Mitarbeiter verlieren wegen Aussagen wie "Schwarze Leben zählen, aber alle Leben zählen auch" ihren Job.
Reizthemen: Halloween-Kostüme und nur zwei Geschlechter
Andere kündigen schließlich unter fortgesetztem Druck, nachdem sie die Meinung geäußert haben, dass Studenten den Anblick unsensibler Halloween-Kostüme verkraften könnten – oder dass es nur zwei biologische Geschlechter gebe.
Anfang September stellte die Organisation Foundation for Individual Rights and Expression ihr viertes jährliches Ranking der US-Universitäten nach Redefreiheit vor. Dafür wurden gut 55.000 Studenten an 248 Einrichtungen befragt.
Faktoren der Bewertung sind etwa die Erfolgsquote von Deplatforming-Versuchen, die Befürwortung von Störaktionen zur Unterdrückung freier Rede und Parteilichkeit bei der Akzeptanz kontroverser Redner.
Zwei der Universitäten, deren Präsidentinnen vor dem House Committee die Redefreiheit für Genozidaufrufe gegen Juden in Anspruch nahmen, belegen im Ranking als absolute Schlusslichter die Plätze 247 und 248: Pennsylvania und Harvard.
Unis im Kreuzfeuer
Das Echo der Anhörung war heftig. Aus Politik, Wissenschaft und Medien hagelte es Rücktrittsforderungen an die Präsidentinnen. Reiche Spender rebellierten. Der Fondsmanager Bill Ackman, Harvard-Alumnus und -Kritiker, erklärte auf X, er wisse persönlich von mindestens einer Milliarde US-Dollar an Harvard-Spenden, die aufgrund des Antisemitismus auf dem Campus vorerst ausfielen.
Präsidentin Magill von der Uni Pennsylvania stand bereits im Oktober aufgrund ihrer laschen Reaktion auf die Hamas-Massaker und der Duldung eines in Teilen antisemitischen Literaturfestivals auf dem Campus unter Druck von vermögenden Spendern. Tage nach der Anhörung Anfang Dezember trat sie schließlich zurück.
Plagiats-Enthüllungen zur Unzeit
Claudine Gay entschuldigte sich in der Unizeitung Harvard Crimson für ihre Wortwahl während der Anhörung. Nach einer kurzfristig anberaumten Notsitzung erklärte das Führungsgremium von Harvard, dass die Universität an ihr als Präsidentin festhalte.
Wenig später allerdings wurde Gay von einem zusätzlichen Problem eingeholt: Stück für Stück wurde bekannt, dass sie in ihrer Dissertation und knapp der Hälfte ihrer veröffentlichten Fachartikel Textstellen plagiiert hat.
Wie die New York Post berichtete, waren die Plagiatsvorwürfe in Harvard bereits bekannt, bevor sie in der Presse auftauchten. Dennoch hatte die Universität der Zeitung gegenüber im Oktober heftig dementiert und mit Anwälten Druck aufgebaut, nicht zu berichten.
Eine Diversity-Präsidentin?
Kurz vor Weihnachten schloss sich dann der Linguist und vielfache Buchautor John McWhorter in der eher linken New York Times den Forderungen nach Entlassung oder Rücktritt Gays an.
Ihre Publikationsliste sei ohnehin für eine Harvard-Präsidentin ungewöhnlich kurz und unspektakulär, so McWhorter. Lasse man ihr jetzt noch Plagiate durchgehen, beschädige das die Institution – und das Anliegen des Antirassismus. Es dränge sich der Eindruck auf, dass an Gay als schwarze Frau niedrigere Ansprüche gestellt werden, als sie an einen weißen Mann gestellt würden.
Der Verdacht, dass Gay ihren Posten nicht zuletzt aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts innehat, birgt eine gewisse Ironie: Das oberste Gericht der USA hat im Sommer die Praxis für verfassungswidrig erklärt, bestimmte Studienplatz-Bewerber nach Ethnizität zu bevorzugen.
Von dieser Praxis benachteiligte Asiaten hatten Harvard wegen Diskriminierung verklagt und Recht bekommen.
Schwarz-Weiß-Denken und die Folgen
Folgt man der Analyse Haidts, fügt sich all das zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen. Verstärkt durch die sozialen Medien, habe sich seit etwa 2014 eine Denkweise an den Universitäten ausgebreitet, die der Psychologe als "Unterdrücker/Opfer-Mentalität" charakterisiert.
Die Hochschulbildung konzentriert sich demnach immer mehr darauf, sämtliches Weltgeschehen als Konflikt zwischen Unterdrückern und Opfern zu deuten. Dies war bereits die These des Bestsellers The Coddling of the American Mind, den Haidt 2018 zusammen mit dem Rechtsanwalt und Redefreiheits-Aktivisten Greg Lukianoff veröffentlicht hat, sowie eines vorangehenden gleichnamigen Artikels von 2015.
Psychologisch gesehen lernten Studenten damit eine sogenannte "kognitive Verzerrung", die man vor allem bei Depressiven prominent antreffe: Schwarzweißdenken. Unter den Folgen seien politische Radikalisierung, ein Verlust der Fähigkeit zu kritischem Denken und eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit.
Konsequent durchgeführte Unterdrücker-Opfer-Moral
So gesehen ist es keine Doppelmoral, Redefreiheit auf der einen Seite zu canceln und auf der anderen Genozidaufrufe unter ihren Schutz zu stellen. Es ist vielmehr konsequent durchgeführte Unterdrücker-und-Opfer-Moral – schließlich ist Israel in diesem Schema ein "Siedlerkolonialistisches" Projekt.
Unehrlich ist es allerdings, auf dieser Linie stehend das Publikum glauben zu lassen, man folge immer noch der liberalen Ethik, aus der sich die Redefreiheit begründet.