Antwort auf IS: Das Kleinformat lernen?
Der Westen setzt, wenn es um die Eroberungsfeldzüge der IS-Dschihadisten geht, die falsche Brille auf und hat die falschen Programme aufgelegt. Die bessere Antwort wäre ein genaueres Verständnis der lokalen Verhältnisse
Die IS-Kalifatisten wollen sich groß und die Schlagzeilen sind mit dabei im Schauder-Spiel: "ISIS weitet seine Kontrolle auf den Libanon aus", meldete gestern Hot Air. Solche Anspielungen ins Großformatige ("Ist jetzt der ganze Libanon gefährdet?") sind auch außerhalb der Blog-News-Seite mit dem luftigen Namen und der konservativer Prägung zu finden. Zum Beispiel bei der arabischen Webseite al-Akhbar. Dort heißt es groß: "Der Islamische Staat expandiert in den Libanon". Aber die Ereignisse, wie sie von dem Medium mit Sitz in Beirut wiedergegeben werden, zeichnen ein etwas anderes Bild als der Thrill, der von solchen Schlagzeilen aufgebaut wird.
Der-Bericht macht das Phänomen IS für Ortsfremde nicht unbedingt verständlicher, aber er weist darauf hin, dass ein paar Grundannahmen nicht einfach überall angelegt werden dürfen. Zum Beispiel die Annahme, dass jede militärische Operation der Dschihadisten, die sich den Namen IS, islamischer Staat, gegeben haben, der Ausweitung oder Arrondierung ihres "Staatsgebiets" dient. So geschah der Einfall der IS-Dschihadisten auf ihren Pick-Ups in die libanesische Stadt Ersal/Arsal nicht im Namen des Auftakts eines Eroberungsfeldzuges in den Libanon.
Sondern, um einen Gefangenen zu befreien, wie al-Akhbar durch Befragung mehrerer ortansässiger Quellen, die mit der Sache zu tun haben, bestätigt fand. Widerlegt wird durch den Bericht auch eine weitere Grundannahme, nämlich dass die al-Nusrah-Front und die IS-Kämpfer sich an den Fronten gegenüberstehen, also unbedingte Rivalen sind. In diesem Fall zogen sie an einem Strick. Es ging dabei um die Befreiung eines Mannes namens Imad Jumaa (aka Abu Ahmed Jumaa) aus den Händen der libanesischen Armee. Jumaa, der eine eigene Miliz (Fajr al-Islam Brigade) unterhält, hat beide Gruppierungen in einen Befreiungskampf gezogen.
Das große Bild
Der wurde ganz groß aufgehängt: Als der Islamische Staat davon erfuhr, dass Jumaa von libanesischen Soldaten gefangen genommen worden war, "erklärte IS der libanesischen Armee den Krieg". Wer einmal Don Quixote gelesen hat, der kann sich auch hier nicht ganz gegen den Humor zur Wehr setzen, den Cervantes aus dem Widerspruch großer Geschichten mit der Realität zieht: Der Kampf gegen die wenigen libanesischen Soldaten in Arsal war nach Darstellung von al-Akhbar kein großer, ruhmreicher Kampf; am Anfang trafen die IS-Kämpfer nur auf wenige Soldaten und auf geringen Widerstand.
Wie sehr die Dschihadisten der großen Medienerzählung über ihre Taten verpflichtet sind, zeigte sich dann, so der Zeitungsbericht, als der Hashtag "the Islamic State expands into Lebanon" in sozialen Netzwerken auftauchte, die mit dem Islamischen Staat verbunden sind. Dort wurden dann anscheinend ganz eigene Kapitelüberschriften von Großerzählungen ins Netz gestellt, wie zum Beispiel "Die Erfolge des Islamischen Staates gegen die Häretikerarmee des Libanon". Dem Bericht zufolge spielte das schnelle propagandistische Echo im Netz auch eine Rolle bei der Dynamik der Abläufe vor Ort.
Die Bündnisse
In deren Folge fing die libanesische Armee unter anderen damit an, Artilleriefeuer in der Stadt einzusetzen. Es wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der allerdings laut IS einseitig von den Soldaten gebrochen wurde, woraufhin auch Kämpfer der al-Nusrah-Front auf der Seite der IS-Dschihadisten einschritten, obwohl der Gefangene, der befreit werden sollte, Imad Jumaa, gar nicht unbedingt zur al-Nusrah-Front gehört; jedenfalls hatte die die al-Nusrah-Front Gerüchte seiner Mitgliedschaft früher bestritten. Laut libanesaischer Armee ist er es auch gewesen. Jumaa selbst schwor dem IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi Gefolgschaft.
Wie kann es sein, dass al-Nusrah an anderen Orten gegen den IS kämpft und dort, in Arsal, auf Seiten der IS? Die Frage dürfte in den Kern eines der großen Probleme zielen, mit denen westliche Versuche, in die Situation in Syrien einzugreifen, zu kämpfen haben: das mangelnde Verständnis mit den örtlichen Gegebenheiten - und für die Dynamik von Bündnissen, ein Gespür für Situationen, die dazu führen, dass feste Verbindungen zugunsten einer gerade opportunen besseren aufgelöst werden.
"Wenig Kenntnis über die konkrete lokale Situation" - Die Hilfe aus der Türkei und Washington
Liest man den Hintergrundbericht eines Mitarbeiters einer in der Türkei, in Gaziantep, ansässigen Hilfsorganisation, die zusammen mit anderen der vom Westen unterstützten Syrian Opposition Coalition (SOC) zu arbeitet, so erfährt man von Musterbeispielen des Scheiterns, die mit Karriereplänen und Konkurrenzkämpfen der Organisationen in der Türkei mit denen in Washington zu tun haben, mit modischem Politikkategorien ("local governance support", "peace-building"), Skandalen mit veruntreuten Geldern - und vor allem von "fehlendem Gespür für lokale Gegebenheiten."
Wiederholt zeigt sich, dass die mit vielen Dollar gespickten Hilfsorganisationen das falsche Programm für hilfsbedürftige Orte auflegen, dass sie die Machtstrukturen auf für sie und oft auch den Ort unvorteilhafte Weise durcheinanderbringen, dass sie keinen Sinn für die richtigen Ansprechpartner haben, dass sie offensichtlich sehr häufig bemerkenswert wenig Kenntnis über die konkrete lokale Situation und über die Hintergründe der herrschenden Machtverhältnisse besitzen.
Leichte Übernahme für ISIL
Das, so die These des Autors des lesenswerten Berichts, habe wesentlich zur Situation im Osten Syriens im Grenzgebiet zum Irak beigetragen, die es ISIL leichtmachte, "die Orte zu übernehmen". So lange "community-based" nur ein flotter Begriff im Antrag für Projektgelder ist, sieht es so aus, dass der IS weiterhin verhältnismäßig leichtes Spiel hat und die Bevölkerung zu Zigtausenden auf der Flucht ist.
Mit 500 Millionen Dollar US-Hilfe ließe sich doch besseres anfangen, als solche Situationen herbeizuführen?